Die neokolonialen Kriege des Westens hinterließen
seit 1990 Millionen Tote und machten
Dutzende Millionen Menschen zu Flüchtlingen.
Die Migranten aber kommen in Gesellschaften,
in denen verschärfte Konkurrenz
unter Lohnabhängigen und Entsolidarisierung
zu den wichtigsten Waffen im Klassenkampf
von oben geworden sind. Der Aufstieg
rassistischer und neofaschistischer Organisationen,
die demagogisch die wachsende
Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufgreifen,
begleitet diese Entwicklung wie schon in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Auf der anderen Seite wird innerhalb der Linken
um internationalistische und solidarische
Positionen gerungen. Die längst wieder akute
soziale Frage steht dabei oft nicht im Mittelpunkt
von Debatten. Rückt der Kampf gegen
die westlichen Kriege, die eine Hauptursache
der Fluchtbewegungen sind, in den Hintergrund?
Über diese und andere Fragen wurde
beim Podiumsgespräch auf der 23. Internationalen
Rosa-Luxemburg-Konferenz der „jungen
Welt“ im Januar diskutiert. Wir dokumentieren
hier (leicht gekürzt) die Position Canan
Bayrams.
Beobachtet man die Debatten der jüngsten
Vergangenheit, so kommt das Gefühl auf,
daß wir uns mehr und mehr von einem hilfsbereiten,
empathischen und solidarischen
Miteinander verabschieden. In der Bundesrepublik
hat sich der mediale und politische
Sprachgebrauch in den letzten Jahren verschärft.
Man spricht von „Flüchtlingswelle“
und „Flüchtlingskrise“, wodurch den Menschen
die Individualität abgesprochen und
damit auch ihr Leid relativiert werden soll.
Es soll der Eindruck erweckt werden, daß
von den Gef lüchteten, das heißt von den
sogenannten Fremden, eine Gefahr ausgehen
würde, die gesetzlich abgewehrt werden
müßte. Dieses Muster ist nicht neu.
Schon im Ausländergesetz wurde als „Sonderpolizeirecht“
das Recht von Menschen
auf Bewegungsfreiheit und Familiennachzug
eingeschränkt. Solche Gesetze und
Debatten erzeugen eine Kategorie von Menschen
zweiter Klasse, deren Rechte mißachtet
werden und für die die grundgesetzlich
verbriefte Unantastbarkeit der Menschenwürde
nicht gelten soll.
Nationalistische und rechtsextreme Parteien
erhalten in ganz Europa Zulauf. Ressentiments
gegenüber Minderheiten nehmen
zu. Auch auf europäischer Ebene reagiert
man auf Geflüchtete immer häufiger abwehrend.
Während manche EU-Mitglieder beispielsweise
keine muslimischen Flüchtlinge
aufnehmen wollen, verschärft die EU ihre
Grenzkontrollen und geht mit der Türkei
und anderen Ländern unmoralische und
europarechtswidrige Flüchtlingsabkommen
ein.
Zunehmend werden die Themen Terror
und Kriminalität mit Geflüchteten in Verbindung
gesetzt. Der Staat reagiert darauf
mit einer fortgesetzten Einschränkung der
Bürgerrechte. Der Ausbau der Vorratsdatenspeicherung
und der Videoüberwachung
treffen uns alle. Jeder muß sich und sein
Gegenüber als potentielle Gefahr wahrnehmen,
die der Staat kontrollieren können
muß. Das führt zur Verletzung unserer
Freiheitsrechte und zu Argwohn untereinander.
Sobald man aber seinen Mitmenschen
mißtraut, befördert das eine Entsolidarisierung
und Spaltung in „wir“ und „die anderen“.
Hier setzen dann auch schnell die
Neiddebatten ein. Neid kommt meist dann
auf, wenn es Menschen gibt, die sich abgehängt
oder zumindest benachteiligt fühlen
– weil sie zum Beispiel aus ihrer Wohnung
ausziehen müssen, da sie sich die Miete
nicht mehr leisten können. Ebenso können
sie oftmals gar nicht oder nur eingeschränkt
am sozialen und kulturellen Leben teilnehmen.
Die Betroffenen befinden sich in einer
Lage, aus der sie nur schwer wieder herauskommen
– wenn überhaupt. Die Menschen
erleben täglich, daß die soziale Gerechtigkeit
abnimmt. Dieser Umstand darf jedoch
nicht mißbraucht werden, um Geflüchtete
gegen sozial benachteiligte Menschen auszuspielen.
Beide Gruppen benötigen Unterstützung,
und es muß auch alles dafür getan
werden, daß den Betroffenen von der Politik
geholfen wird.
Es bleibt Fakt, daß die Debatten und Maß-
nahmen vielfach einseitig sind und lediglich
auf Abschottung und Verhinderung von
Migration abzielen. Dabei wird der Lösungsansatz
„Bekämpfung von Fluchtursachen“
meist nur als Floskel benutzt oder dient
dazu, die Verantwortung von sich zu weisen.
So richtig es ist, Fluchtursachen zu bekämpfen,
so fragwürdig sind die angewandten
Mittel. Deutschland und Europa dürfen
nicht versuchen, unabhängig von der Situation
der Geflüchteten nur auf die Abschottung
durch Abkommen mit Staaten wie der
Türkei und Libyen zu setzen. Die finanzielle
Unterstützung von Ländern beispielsweise
in Afrika und die Verbesserung von Lebensbedingungen
vor Ort können nur gelingen,
wenn das nicht ausschließlich gewinnorientiert
und aus egoistischen Motiven heraus
geschieht, sondern vielmehr solidarisch
umgesetzt wird. Denn die Abkommen mit
den einzelnen Ländern und die Gelder werden
nichts Gutes bewirken, solange Europa
gleichzeitig die Lebensgrundlage für viele
Menschen in den betroffenen Regionen
zerstört. Durch Waffenlieferungen schafft
Deutschland selbst Fluchtursachen. Auch
die unfairen Handelsbeziehungen zwischen
der EU und afrikanischen Ländern fördern
die Armut und entziehen vielen Menschen
die Lebensgrundlage. Dabei muß berücksichtigt
werden, daß zum Beispiel in Afrika
Länder existieren, in denen es reiche Eliten
gibt und der überwiegende Teil der Bevölkerung
in Armut leben muß. Weltweit führen
die Auswirkungen des Klimawandels dazu,
daß Menschen in ihrer Heimat die Lebensgrundlagen
verlieren. Auch die Einhaltung
der Klimaziele ist ein wichtiger Beitrag, um
Fluchtursachen zu bekämpfen.
Ehrlich gemeinte Lösungsansätze müssen
unter anderem eine faire Handelspolitik und
den sofortigen Stopp von Waffenexporten
beinhalten. Europa muß gemeinsam agieren
und der zunehmenden Konzentration auf
nationalstaatliche Perspektiven und Interessen
entgegenwirken. Viele Menschen in
Deutschland handeln aber auch solidarisch,
das konnte man in den letzten Jahren beobachten.
Die nach wie vor große Bereitschaft
der freiwilligen und unbezahlten Helferinnen
und Helfer ist beeindruckend. Sie sind
es, die den Geflüchteten tatkräftig zur Seite
stehen – von ehrenamtlichen Sprachkursen
und der Hilfe bei Amtsgängen bis hin
zur Unterbringung in privaten Wohngemeinschaften
und Wohnungen. Sie unterstützen
die betroffenen Personen und leben
somit tagtäglich ein solidarisches Miteinander.
Sie sind die andere Seite der Medaille
– auch wenn Rassismus und Populismus allgegenwärtig
erscheinen. Die Solidarität der
Menschen ist nicht verschwunden. In Zeiten
von sozialen Herausforderungen muß
sie aber besser sichtbar gemacht werden,
sonst droht eine Fokussierung auf die vermeintlichen
„Probleme“.
Die Themensetzung und die Deutungshoheit
dürfen dabei nicht den rechten Parteien
überlassen werden. Linke Positionen
müssen als Gegengewicht zu Rechtspopulismus
und Rechtsruck wieder lauter und
deutlicher werden. Solidarität und Internationalismus
müssen stärker als Korrektiv
innerhalb der derzeitigen Debatten fungieren.
Denn die universellen Menschenrechte
gelten für jede und jeden. Migration gab und
gibt es so lange, wie es Menschen gibt. Wir
müssen einen gerechten Umgang damit finden.
Ziel muß es sein, allen ein gutes Leben
zu ermöglichen.
Die Kritik an der Globalisierung der Märkte
hat den Kampf für die internationale Solidarität
in den Hintergrund gerückt. Immer
häufiger werden die Fragen der internationalen
Gerechtigkeit verkürzt diskutiert.
Aber gerade das Thema Flucht führt uns vor
Augen, daß es vom Zufall abhängt, ob man
in einem sicheren oder unsicheren Gebiet
geboren wird und lebt. Diese Ungleichheit
kann nur durch internationale Solidarität
und weltweit gerechtere Verteilung der Ressourcen
überwunden werden.
Canan Bayram,
Berlin
(Bündnis 90/Die
Grünen)
Als Direktkandidatin des Wahlbezirks BerlinKreuzberg/Friedrichshain
wurde sie im
vergangenen September in den Bundestag
gewählt.
RotFuchs / April 2018, Seite 8
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