Infosperber
04. Mai 2018
Keine friedliche Lösung nach fast 50
Jahren Landbesetzung
Seit den Siebzigerjahren besetzen
Aktivisten in der Nähe von Nantes ein Areal. Nun geht die
Regierung dagegen vor - mit Gewalt
Tobias Tscherrig
Die Gemeinde Notre-Dame-des-Landes liegt
25 Kilometer nordwestlich von Nantes. Hier gibt es vor allem
Landwirtschaft und Viehzucht, ansonsten ist die Gegend eher
unbedeutend. Trotzdem beschäftigt sie die französische Politik
seit bald fünfzig Jahren. Damals fiel der Entscheid, auf einem
1600 Hektar grossen Areal einen neuen Flughafen zu
bauen, der denjenigen von Nantes ablösen sollte.
Also erklärten die Behörden das
betroffene Gebiet zu einem «Förderungsgebiet
(ZAD)». Mit diesem Entscheid entzogen sie den seit
Generationen ansässigen Bauern ihren Boden.
Politik scheitert am Widerstand
Aber die Bauern leisteten Widerstand.
Sie erhielten Unterstützung von Umweltschützern, die das Areal
beschützen wollten, weil es sich um ein Feuchtgebiet handelt
und damit als ökologisch wertvoll gilt.
Jahrelang rückten weder die Befürworter
noch die Gegner des Projekts von ihren Forderungen ab. In
einem endlosen Schlagabtausch reichten beide Lager Initiativen
und Gegeninitiativen ein. Es gab viele Demonstrationen und
Solidaritätsaktionen, die Politik antwortete mit dem Erlass
von Verordnungen.
Als der geplante Flughafen im Jahr 2009
in einem Dekret als «Beitrag zum öffentlichen Wohl» bezeichnet
wurde, verschärften sich die Proteste. Militante Aktivisten
gesellten sich dazu. Sie besetzten das Land, starteten
gemeinschaftliche landwirtschaftliche Projekte und lebten
fortan in selbstverwalteten Kommunen.
Im Jahr 2012 wollte die Regierung mit
dem Bau des Flughafens beginnen, dazu hätte sie aber erst das
Gelände räumen müssen. Also demonstrierte sie Stärke und bot
fast 1000 Bereitschaftspolizisten auf, um die mehrere hundert
anwesenden Flughafen-Gegner zu vertreiben. Die Räumung lief
aus dem Ruder, es gab Verletzte. In der Folge kam es immer
wieder zu Zusammenstössen. Das änderte nichts. Im Gegenteil -
die Aktivisten bauten über die Jahre ihre Infrastruktur sogar
noch aus.
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Einige Bilder der Auschreitungen aus dem
Jahr 2012.
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Regierung gibt auf - und stellt
Ultimatum
Weil der Widerstand gegen den geplanten
Flughafen nie abflaute und die Aktivisten auf dem Areal immer
zahlreicher wurden, gab Frankreichs Regierung im Januar 2018
schliesslich nach und kippte das Projekt des neuen Flughafens:
Ein Sieg für
Frankreichs Umweltbewegung.
Anstelle des neuen Flughafens will
Frankreichs Premier Edouard Philippe nun die Verbindungen für
Schnellzüge verbessern. Auch der Flughafen in Nantes soll
modernisiert werden. Gleichzeitig kündigte er an, die
Regierung wolle die «rechtswidrige Zone» in
Notre-Dame-des-Landes bis im kommenden Frühjahr auflösen und
den Bauern ihren Boden wieder zurückgeben. Deshalb sollen die
Aktivisten bis spätestens am 14. Mai gehen. Bei Bedarf werde
ihnen die Regierung auch eine Unterkunft stellen, hiess es.
Im Kriegszustand verhandeln
Trotz ihrem Sieg gegen den geplanten
Flughafenbau wollen die Aktivisten bleiben. Sie kritisierten
das Ultimatum der Regierung und bezeichneten unter anderem die
Zerstörung ihrer funktionierenden Landwirtschaftsprojekte als
Erpressung. Die Aktivisten wollen, dass der französische Staat
ihre während Jahren aufgebauten Projekte anerkennt. Die
Behörden haben den Aktivisten die Möglichkeit dazu gegeben:
Mit einem Formular können sie ihre Projekte zur Prüfung
anmelden, dazu müssen der Name des Projektverantwortlichen
sowie die betroffenen Parzellen angegeben werden.
Insgesamt machten die Verantwortlichen
von 28 rein landwirtschaftlichen Projekten von diesem
Vorschlag Gebrauch. Allerdings haben die Behörden die Sitzung
des Expertengremiums, das die eingereichten Projekte prüfen
soll, um drei Wochen nach vorne verschoben. Daraufhin hagelte
es Kritik. Die Aktivisten hätten kaum Zeit, ihre Projekte so
zu gestalten, dass sie bei der Prüfung Erfolg hätten, hiess es
in einer Medienkonferenz der Aktivisten.
Drei Monate nach der Ankündigung, nun
doch keinen Flughafen bauen zu wollen, starteten die Behörden
die Räumung des Areals. 2500 Mitglieder der militärisch
organisierten französischen Gendarmerie marschierten gegen
rund 250 Besetzer. Erneut kam es zu Kämpfen, viele Bauten der
Aktivisten wurden zerstört.
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Einige Bilder der Zusammenstösse bei der
Räumung von April 2018.
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Mit hartem Durchgreifen machte die
Regierung den Aktivisten klar, dass sie nach all den Jahren
nicht mehr gewillt ist, weitere Zugeständnisse einzugehen: Es
gibt zwar den Weg der Projektbewilligung, allerdings „nur“ zu
den staatlichen Konditionen. Der einzig andere Weg ist die
gewaltsame Räumung. Das sich diese mit den Verhandlungen
überschneidet, stösst vielen Aktivisten sauer auf.
Gendarmerie provozierte Chaos
Vor einigen Tagen äusserte sich auch
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Im Rahmen eines langen
Gesprächs mit BFM TV und dem Online-Magazin mediapart, stellten die
Journalisten einige Fragen zu den Ausschreitungen und der
angespannten Situation in Notre-Dame-des-Landes.
Nach dem Gespräch mit dem Präsidenten
blieben die Journalisten verwirrt zurück. Später schrieben sie,
Macrons Worte seien weit davon entfernt, zur Beruhigung der
Lage beizutragen. Im Gegenteil: Macron lasse gar die
Bereitschaft erkennen, mit noch mehr Härte zuzuschlagen.
«Dabei sind die Argumente von Herr Macron sehr schlecht
begründet – um nicht zu sagen erlogen.»
Die Journalisten analysierten Macrons
Antworten in einem Artikel und
konnten die präsidialen Aussagen in über zehn Punkten
widerlegen. So sagte Macron etwa, die Leute hätten auch nach
der Sistierung des Flughafen-Projekts weiter protestiert. Eine
Aussage, die falsch ist. Nach der Bekanntgabe der Regierung
kümmerten sich die Aktivisten friedlich um ihre
landwirtschaftlichen Projekte. Es war die massive militärische
Intervention, die auf dem Areal für Unruhe sorgte.
Falsche Informationen und Provokation
Weiter erklärte Macron, man habe in
Notre-Dame-des-Landes über ein lokales Referendum abgestimmt.
«Es gab kein Referendum», schreibt mediapart. «Der Präsident
der Republik, der Hüter der Institutionen, sollte das wissen.»
Stattdessen habe es nur eine unverbindliche Umfrage bei der
Bevölkerung gegeben. Selbst dabei seien aber nicht alle
betroffenen Einwohner angehört worden - aus Angst vor einem
negativen Resultat.
Der französische Präsident versuchte im
Gespräch zu provozieren. So sagte er etwa: «Ich werde nun
selber ein alternatives Projekt organisieren - in ihrem
Wohnzimmer.» Der Schuss ging nach hinten los. Die Journalisten
erklärten ihm, dass sich die Bewohner des Areals auf
öffentlichem Boden befinden, der seit mehreren Monaten keine
Bestimmung hat. Es existiert kein Zusammenhang zu
Privatbesitz.
Steuern als Totschlagargument
Macron versuchte im Interview, die
brutale teilweise Räumung des Areals mit den Steuern zu
legitimieren. Er müsse sich vor den Steuerzahlenden
rechtfertigen und könne dem Gebaren der Aktivisten nicht
länger tatenlos zusehen. Die Journalisten halten dagegen und
weisen in ihren Artikeln darauf hin, dass die Aktivisten in
der Regel von sehr kleinen Einkommen leben. Einkommen, die
nicht der Steuer unterliegen.
Dann werfen sie Fragen auf: Warum werden
gegen die finanzschwachen Aktivisten 2500 Gendarmen zu Felde
geschickt? Weshalb nicht auch gegen Konzerne wie zum Beispiel
Amazon, die «jahrelang eine wahnsinnige Steuerflucht»
betrieben haben? Gegen Konzerne, die gemäss Experten 60
Milliarden Euro pro Jahr am Fiskus vorbeischleusen?
Unbekannte Waffen im Einsatz
Bei der Räumung des Geländes seien rund
60 Gendarmen verletzt worden, sagt Macron weiter. Die
Journalisten von mediapart und BFM TV kennen aber die Ursache
für die meisten dieser Verletzungen: Die schlimmsten davon
seien am 9. April entstanden, als in Folge von falscher
Handhabe eine Granate vor den Füssen der Gendarmen explodiert
sei. Ein selbstverschuldeter Unfall, kein Angriff. Und eine
Information, die die Behörden gemäss mediapart geheim halten
wollten.
Es seien die Behörden gewesen, die den
Einsatz der Granaten zugelassen hätten, so mediapart.
Überhaupt sei über die Zusammensetzung dieser Waffe nichts
bekannt. Zahlreiche Zeichen liessen aber darauf schliessen,
dass die verwendeten Granaten sehr gefährlich seien. «Für die
Sicherheit der Zivilisten und der Militärs ist es
unerlässlich, dass Transparenz über diese Waffe hergestellt
wird», schreibt mediapart.
Die «Tyrannei der Minderheiten»
Macrons Vorgehen bei den Aktivisten von
Notre-Dames-des-Landes ist von Härte geprägt. Das erinnert an
seine frühere Aussage: «Man vereinigt das Land nicht durch
Untätigkeit gegenüber der Tyrannei von einigen Minderheiten,
die gewöhnt daran sind, dass man ihnen nachgibt».
Die meisten Beobachter gehen davon aus,
dass die Behörden ihre Drohung umsetzen und das Areal bis zum
14. Mai komplett räumen werden. Vielleicht erhalten einzelne
Aktivisten die Bewilligung, ihre Projekte fortzuführen.
Vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall wird die sogenannte
«Zone A Défendre» verschwinden - und damit ein rund
50-jähriges Protestlager, das in Frankreichs Umweltszene als
Vorzeigeprojekt gilt.
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