Montag, 16. April 2018

Unrecht damals wie heute! (Gisela Notz)


Durch das Urteil gegen die Frauenärztin Kristina Hänel ist die Debatte um die Abtreibungsparagrafen wieder aufgenommen worden, nachdem sie nach dem Kompromiss von 1995 beinahe verstummt war. Viele junge Frauen hatten inzwischen gedacht, nun sei der freie Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch erreicht.

Zur Entstehungsgeschichte: Die Wurzeln der heutigen §§ 218 ff. und 219 ff. Strafgesetzbuch (StGB) reichen weit zurück bis ins Zeitalter der Antike, wo der Schwangerschaftsabbruch bereits die Menschheit bewegte. Im römischen Recht und im kanonischen Recht des Mittelalters wurden Abtreibungen mit Strafe geahndet. Sie waren später ein der Hauptgrund für die Hexenverbrennungen. So weit will ich nicht zurückgehen. Die Paragrafen 218 und 219 standen erstmals im Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871.

Darin hieß es: § 218: »Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnißstrafe nicht unter sechs Monaten ein. Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welcher mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung oder Tödtung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat.«

Und in § 219 stand: »Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer einer Schwangeren, welche ihre Frucht abgetrieben oder getödtet hat, gegen Entgelt die Mittel hierzu verschafft, bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat.«

Eine dem heutigen § 219a StGB vergleichbare Vorschrift, also ein Werbe- beziehungsweise Informationsverbot, das zu Frau Hänels Strafverfahren führte, existierte damals nicht.

Den meisten Frauen der ersten sozialistischen Frauenbewegung war die himmelschreiende Ungerechtigkeit des § 218 ebenso klar, wie einigen Frauen aus bürgerlichen Frauenorganisationen. Mit dem Slogan »Dein Bauch gehört dir« stritten Frauen um die Jahrhundertwende für die Freigabe des Abbruchs oder zumindest für die Fristenlösung. Sie wussten schon lange, dass restriktive Gesetze nicht dazu führen, dass weniger Schwangerschaften abgebrochen werden, sondern dass der Schwangerschaftsabbruch zum Risiko wird, vor allem für arme Frauen. Sie wussten über das Elend der illegalen Abtreibung in Küchen und Hinterzimmern. Vermögende Schwangere haben sich schon immer medizinisch einwandfreie Abtreibungen leisten können. Frauen wandten sich auch dagegen, dass das Strafrecht Frauen als Verantwortliche schwer bestraft, während die Ehegesetze sie zu rechtlosen Objekten machen, denn »Verweigerung« der »ehelichen Pflichten«, dazu gehörte der Geschlechtsverkehr, konnte bis 1953 als Scheidungsgrund angeführt werden, und Ehemänner durften in der Bundesrepublik ihre Frauen bis 1997 straflos vergewaltigen.

Der Bund für Mutterschutz und Sexualreform, den Helene Stöcker, eine »Bürgerliche«, 1905 gründete, verlangte schon damals den freien Zugang zu Verhütungsmitteln, frühzeitige sexuelle Aufklärung und die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch, damit die Frau selbst entscheiden kann, ob und wann sie ein Kind haben will. Der Bund Deutscher Frauenvereine brachte 1909 eine Petition zur Reform des § 218 des Strafgesetzbuches in den Reichstag ein. Er schlug Straffreiheit im Zusammenhang mit einer Fristenlösung vor, hatte aber keinen Erfolg bei den im Reichstag vertretenen Herren.

Obwohl es in der Weimarer Republik eine Massenbewegung gegen die Kriminalisierung von Frauen in Not gab, gelang es nicht, den Paragraphen, der als Klassenparagraf angeprangert war, zu beseitigen. SPD, USPD und KPD brachten verschiedene Anträge auf Straffreiheit oder Fristenlösungen ein. 1920 brachte Justizminister Gustav Radbruch, SPD, gemeinsam mit der Genossin Clara Bohm-Schuch und 33 weiteren SPD-Fraktionsmitgliedern einen Antrag ein, nach dem Abtreibungen innerhalb der ersten drei Monate straffrei sein sollten, »wenn sie von der Schwangeren oder einem staatlich anerkannten Arzt vorgenommen worden sind«.

1925 wurde allerdings auch ein »Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches« vorgelegt, der in § 229 »Ankündigung von Abtreibungsmitteln« anspricht: »Wer öffentlich zu Zwecken der Abtreibung (§ 228) dazu bestimmte Mittel, Werkzeuge und Verfahren ankündigt oder anpreist, oder solche Mittel oder Werkzeuge an einem allgemein zugänglichen Orte ausstellt, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Ebenso wird bestraft, wer in gleicher Weise seine eigenen oder fremde Dienste zur Vornahme oder Erleichterung von Abtreibungen anbietet.« Auf dem 44. Deutschen Ärztetag in Leipzig im September 1925 wurde unter dem Titel »Bekämpfung der Abtreibungsseuche« dieser Entwurf mit »Verweis auf Verfall der Deutschen Volkskraft durch bewusste Geburtenregelung« unterstützt. Es wurde darauf verwiesen, dass die »Verleitung der Abtreibung durch Ankündigung« stärker bestraft werden müsste. Darauf berufen sich diejenigen, die damit argumentieren, der § 219a sei nicht durch die Nazis entstanden.

Die wiederholten Vorstöße linker Parlamentarier führten während der Weimarer Republik dazu, dass auf Antrag der SPD 1926 die Abtreibung vom Verbrechen in ein Vergehen umgewandelt wurde. Das bedeutete nicht mehr Zuchthaus, sondern »nur« noch Gefängnisstrafen. 1927 erkannte das Reichsgericht die medizinische Indikation an, wenn das Leben der Mutter in Gefahr war. Die §§ 219 und 220 wurden in den § 218 integriert.

Nach der Machtübernahme der Nazis wurden die erreichten kleinen Verbesserungen wieder zurückgenommen: Im Mai 1933 wurden die Paragrafen in ihrer Form von 1871 wieder eingeführt. Außerdem konnte nach § 220 auch die Werbung für Abtreibungsmittel und für die Hilfe beim Abbruch bestraft werden: »Wer öffentlich seine eigenen oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung von Abtreibungen anbietet, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« Durch die himmlersche Polizeiverordnung wurde 1934 sogar die Werbung für Verhütungsmittel, speziell für Kondome, gesetzlich verboten. Die Nazis verboten und erzwangen die Abtreibung. 1943 stand für den Fall, dass »die Lebenskraft des deutschen Volkes« beeinträchtigt wird, die Abtreibung unter Todesstrafe. Am 14. Juli 1933 war das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses verabschiedet worden, in dem die »rassenhygienische« Sterilisation geregelt wurde, die 1935 zu Zwangssterilisation wurde. Abtreibung, die die Fortpflanzung »minderwertiger Volksgruppen« (zum Beispiel jüdischer Frauen und Zwangsarbeiterinnen aus dem Osten) verhinderte, blieb straflos beziehungsweise wurde erzwungen. Es ging nicht mehr um Schwangerschaftsabbruch, sondern um Selektion des Nachwuchses.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die NS-Strafrechtsnovelle durch Gesetze der Besatzungsmächte aufgehoben. Die Abtreibung blieb aber strafbar. Sogar Verhütungsmittel blieben bis 1969 in einigen Bundesländern verboten. In der BRD wurde mit Wirkung vom 4. August 1953 die Todesstrafe für Fremdabtreibung aufgehoben, nachdem mit Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 faktisch bereits jegliche Todesstrafe abgeschafft worden war.

In Westdeutschland war es der Neuen Frauenbewegung zu verdanken, die den Protest gegen das geltende Strafrecht auf die Straße trug und die ersatzlose Streichung des § 218, umfassende sexuelle Aufklärung für alle, selbstbestimmte Sexualität und freien Zugang zu Verhütungsmitteln forderte, dass sich in den 1970er Jahren etwas bewegte.

Auch SPD-Politikerinnen, wie Elfriede Eilers, um nur eine zu nennen, kämpften wie die Löwinnen, und Anfang der siebziger Jahre warb Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) leidenschaftlich für die Reform, indem er sagte: »Der Paragraph 218 ist ein schwer erträglicher Restbestand sozialer Ungerechtigkeit aus dem vorigen Jahrhundert.« Der § 219a rettete sich über alle kleinen Reförmchen der 1970er Jahre.

Ich komme zum Kompromiss, der 1995 schließlich geschlossen wurde und uns nach der Wiedervereinigung wiederum den § 219a bescherte, obwohl seit 1972 in der DDR die Fristenlösung bestanden hatte. Die Hoffnung von profamilia, Gewerkschaftsfrauen und vielen Feministinnen, dass die weitergehende Fristenregelung in ganz Deutschland gelten müsse und die Pflichtberatung zu streichen sei, wurde nicht erfüllt. Sie scheiterte an heftigen Aktivitäten der konservativen Parteien und der AbtreibungsgegnerInnen einschließlich der selbsternannten »LebensschützerInnen«.

Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland gemäß § 218 Strafgesetzbuch (StGB) grundsätzlich für alle Beteiligten verboten und strafbar und kann mit Haftstrafen geahndet werden. Es gelten aber Ausnahmen, die durch die Paragrafen 218a, 218b, 218c und 219 geregelt sind. Liegen diese Voraussetzungen vor, darf keiner der am Schwangerschaftsabbruch Beteiligten bestraft werden. Also kann ein Arzt oder eine Ärztin, wenn das Gesetz (die bestimmten Bedingungen) eingehalten wird, Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Wieso darf sie/er dann nicht darauf hinweisen oder darüber informieren, dass sie/er diese Dienstleistung anbietet?

Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden kann nach § 219a StGB (1) »Wer öffentlich in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften, Ton- oder Bildträgern, Abbildungen oder Darstellungen seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise 1. eigene oder fremde öffentlich Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs oder 2. Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, unter Hinweis auf diese Eignung anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekannt gibt.«

Diesen Straftatbestand erfüllen im Prinzip alle Ärzte, die in irgendeiner Form bekanntgeben, dass sie Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch beabsichtigen, unterstützen.

Ob von den Nazis erfunden oder schon vorher durch konservative Ärzte eingebracht, spielt eigentlich keine Rolle. Vermutet wird, dass das Gesetz den Nazis dazu diente, sozialistische oder liberale Ärzte und Ärztinnen, die sich für sexuelle Aufklärung und Selbstbestimmung einsetzten, zu verfolgen und mit Berufsverbot zu belegen. Dieses Interesse kann den Gerichten hierzulande nicht unterstellt werden. Und aus dem Wort »Schwangerschaftsabbruch« auf einer Internetseite (mit weiterführenden Informationen per E-Mail) kann wohl kaum geschlossen werden, es werde wegen des Vermögensvorteils oder in grob anstößiger Weise für einen Schwangerschaftsabbruch geworben.

Den anzeigenden Abtreibungsgegnern geht es vermutlich darum, Schwangerschaftsabbrüche zu stigmatisieren, weil sie nach dem StGB grundsätzlich strafbare Handlungen sind. Damit wird die Abtreibung zum moralischen und rechtlichem Problem. Das gilt es zu ändern, denn es ist – um mit dem nicht angreifbaren Willy Brand zu sprechen, »ein schwer erträglicher Restbestand sozialer Ungerechtigkeit aus dem [vor]vorigen Jahrhundert.« Das hieße, die §§ 218 ff. und 219 ff. sind ersatzlos zu streichen. Linke, Grüne und SPD arbeiteten an einem Gesetzentwurf, damit zunächst zumindest § 219a StGB ersatzlos gestrichen wird. Die SPD zog ihren Gesetzentwurf noch vor Beginn der Großen Koalition aus Rücksicht auf CDU/CSU zurück. Zum Zeitpunkt der Drucklegung gibt es massive Kritik von außerparlamentarischen Initiativen wie dem Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung. Das Recht auf Information ist gerade wegen der komplizierten Konstruktion »rechtswidrig, aber straffrei« notwendig. Frauen müssen Unterstützung zur Wahrnehmung ihrer Rechte erfahren. Dazu gehört qualifizierte Beratung durch unabhängige, freiwillig aufgesuchte Beratungsstellen, und die Frauen müssen Ärztinnen finden, möglichst wohnortnah; und zwar alle betroffenen Frauen, unabhängig von ihrer Herkunft, sozialen und ökonomischen Situation.


Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin, Historikerin und Autorin, bis 2010 Bundesvorsitzende von profamilia. Soeben erschien von ihr das Buch: »50 Jahre 1968: Warum flog die Tomate? Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre«, AG SPAK, aktualisierte und erweiterte Neuauflage, 10 €.

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