Montag, 12. März 2018

Schaden für die Demokratie (Rainer Butenschön)


Ihr Fazit bestätigt die Kritiker: Den »größtmöglichen Schaden für die Demokratie« habe die Umsetzung des sogenannten Radikalenerlasses von 1972 bewirkt, »nämlich das Entstehen eines grundsätzlichen Misstrauens gerade [...] der jüngeren, vor allem auch akademisch gebildeten Generation in die Verlässlichkeit der vom Grundgesetz geschützten Garantien des Rechtsstaates«.

So urteilt Jutta Rübke, die die vergangenen zwölf Monate ehrenamtlich als »Niedersächsische Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der Schicksale im Zusammenhang mit dem sogenannten Radikalenerlass« gearbeitet hat (s. Ossietzky 4/2017). Mit dem Erlass aller Ministerpräsidenten und des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt hatte die Bonner Republik am 28. Januar 1972 die Jagd auf vermeintliche »Verfassungsfeinde« im öffentlichen Dienst und eine gigantische Gesinnungsschnüffelei eröffnet. Als erstes und bisher einziges Bundesland hatte Niedersachsen per Landtagsbeschluss im Dezember 2016 entschieden, die landesweiten Auswirkungen des Erlasses systematisch aufarbeiten zu lassen. Daraufhin hatte die Landesregierung die Hildesheimer Gewerkschafterin und frühere SPD-Landtagsabgeordnete Rübke als »Landesbeauftragte eingesetzt. Ende Januar hat sie nun eine 215 Seiten starke Dokumentation mit dem Titel »Berufsverbote in Niedersachsen 1972 bis 1990« vorgelegt: In mehr als 172.000 Fällen forschten demnach der Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz und die Staatsschutzabteilungen der Polizei nach etwaigen Verfassungsfeinden in Niedersachsen. 200 neue Mitarbeiter stellte der Landesverfassungsschutz hierfür ein. Zuvor hatte die Landesregierung 1973 nach Beschluss der Innenministerkonferenz verfügt, dass bei allen Bewerbern für den öffentlichen Dienst eine Anfrage an den Verfassungsschutz zu richten sei, ob »gerichtsverwertbare Erkenntnisse« über diese Person vorliegen. Eine solche »Regelanfrage« hatte es bis dato nur für sicherheitsrelevante Bereiche gegeben, etwa für Personen, die mit Geheimakten zu tun hatten.

Dieses Vorgehen offenbarte, so Rübke, »ein grundsätzliches Misstrauen in die demokratische Zuverlässigkeit der Bürgerinnen und Bürger, das es vor dem Radikalenerlass nicht gab«, obwohl – darauf macht sie aufmerksam – Ende der 1960er Jahre 1200 Mitglieder der faschistischen NPD im öffentlichen Dienst gezählt wurden. Mit dem Instrument der Regelanfrage hätten sich Verfassungs- und Staatsschutz ermächtigt gesehen, in eigener Deutungs- und Interpretationshoheit, Personen und Organisationen vor allem des linken politischen Spektrums als eventuell oder tatsächlich »verfassungsfeindlich« zu beobachten. Vor allem der Verfassungsschutz habe seine Aktivitäten im Bereich von Beobachten, Ausforschen und Aushorchen sowie Dokumentieren und Verfolgen »erheblich über die Grenzen des verfassungsmäßig Zulässige[n] ausgedehnt«, heißt es in der Dokumentation.

»Jede Form der öffentlichen Aktivität wurde erfasst«, erläutert der an der Aufarbeitung beteiligte Historiker Wilfried Knauer. Die staatliche Schnüffelei habe sich auch auf politische Sticker, Aufkleber oder vermeintlich verfängliche Leserbriefe in Zeitungen erstreckt. Sogar Familienanzeigen seien durchforstet worden. Der betriebene Aufwand war riesig, er erzeugte »ein gesellschaftliches Klima der Angst« (Rübke) und schüchterte Menschen weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus ein: 141 Bewerberinnen und Bewerber für eine Stelle im öffentlichen Dienst wurden als angebliche Verfassungsfeinde abgelehnt, gegen 271 Bedienstete wurden Überprüfungsverfahren mit Beteiligung des Verfassungsschutzes eingeleitet, 62 erhielten Berufsverbot und wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen, 35 davon waren Beamte, 27 Angestellte.

Der Niedersächsische Landtag hat sich im Dezember 2016 mit rot-grüner Mehrheit bei diesen Berufsverbote-Opfern für das erlittene Unrecht entschuldigt. Er hat die Zeit des Radikalenerlasses – der in Niedersachsen erst 1990 von der damaligen Landesregierung Schröder/Trittin aufgehoben worden war – elf Jahre später als der Bund als »unrühmliches Kapitel« verurteilt. Die Parlamentarier haben »das Geschehene« »ausdrücklich bedauert«, und sie haben den Betroffenen, die durch »Gesinnungsanhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren oder auch Arbeitslosigkeit vielfältiges Leid« erleben mussten, »Respekt und Anerkennung« ausgesprochen. Gleichzeitig haben sich die Abgeordneten bei all jenen Bürgerinnen und Bürgern bedankt, die sich gegen die Berufsverbote-Politik »mit großem Engagement für demokratische Rechte eingesetzt hatten«.

Rübke sieht in dieser Entschließung des Landtages »ein erstes Zeichen der Anerkennung und Wertschätzung« der Betroffenen. Neun von ihnen werden in der Dokumentation exemplarisch mit ihrem Schicksal vorgestellt. Mit zum Teil aufrüttelnden Texten antworten sie dort auch auf die Frage: »Was hat das Berufsverbot mit mir gemacht?«

So berichtet die promovierte Lehrerin und bekennende Antifaschistin Thea Holleck über ihren »Schock«, ihre »Empörung« und ihren »entschiedenen Willen zum Widerstand gegen die Gesinnungsprüfung und die Stigmatisierung als Verfassungsfeind«, als ihr im August 1982 mitgeteilt wird, dass sie ihren Dienst am Grotefend-Gymnasium in Hann. Münden aufgrund von »Erkenntnissen« des Verfassungsschutzes überraschend nicht antreten darf. Just zu der Zeit hatte dieses Gymnasium Schlagzeilen gemacht. Der damalige Leiter Karl-Heinz Kausch war gerade wieder in sein Amt als Schuldirektor eingesetzt worden. »Obwohl er Hitler und die Waffen-SS verharmloste und die Nazi-Aktivitäten der Lehrer Luthardt und Krah an dem Gymnasium unterstützte und deckte, hatte ihn das Verwaltungsgericht Braunschweig nur zu einer Gehaltskürzung von zehn Prozent für ein Jahr verurteilt«, erinnert sich Holleck und schildert ihre »unermüdlichen Aktivitäten« gegen das ihr drohende Berufsverbot genauso wie ihre massiven psychischen Probleme: »Für mich war es nicht nur eine kämpferische Zeit. Je länger die Ungewissheit dauerte, desto schlimmer wurden Schlaflosigkeit und nächtliche Alpträume. Ich erinnere mich heute noch an einen Traum, in dem mir die Füße amputiert und durch eiserne Haken als Prothesen ersetzt wurden, so dass ich nur mit Mühe laufen konnte. In einem anderen Traum saß ich in einem tiefen Erdloch, man warf permanent Erde auf mich, die ich mit größter Anstrengung wieder hinauswarf. Aus solchen Träumen wachte ich erschöpft und kraftlos auf und musste mich tagelang gegen diese massiven Existenzängste zur Wehr setzen.«

Hollecks energische und öffentliche Gegenwehr, die von Gewerkschaften und Anti-Berufsverbote-Initiativen unterstützt wird, hat Erfolg. Nach einem nervenaufreibenden und unwürdigen Hin und Her wird sie schließlich in Hessen als Angestellte in den Schuldienst übernommen. »Am Ende standen mein ungebrochener Wille zum Widerstand, meine ungeschmälerte politische Überzeugung und die Dankbarkeit gegenüber allen, die mir solidarisch zur Seite gestanden hatten«, resümiert Holleck heute: »Ich war auch stolz darauf, dass ich durch meinen öffentlichen Kampf dazu beigetragen hatte, dass Kausch und Luthardt später nicht mehr unterrichten durften. Die Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen der BRD im Verlauf dieses Kampfes hatte mich klüger gemacht und charakterlich gefestigt. Es blieben aber lange Zeit die Erschöpfung und der enorme Druck, im Schuldienst alles richtig zu machen. Am Lehrerstreik der GEW nahm ich später als Beamtin auf Lebenszeit trotzdem teil, doch dazu musste ich mich durchringen. Irgendwie war mir auch das befreite Lachen abhandengekommen. Es dauerte lange, bis ich das wieder konnte, so richtig von Herzen befreit lachen.«

Rübke versteht ihre Dokumentation ausdrücklich »nicht als Abschluss, sondern erst als Anfang« der notwendigen Aufarbeitung der 18 Berufsverbote-Jahre in Niedersachsen. So müssten die Ergebnisse noch für die politische Bildung im Land nutzbar gemacht werden, was auch Geld koste. Auch will sie dem Landtag empfehlen, über eine finanzielle Entschädigung der Betroffenen zu entscheiden. Viele von ihnen hätten materielle Nachteile erlitten. Und so Rübke weiter: »Bei vielen von denjenigen, die direkt und unmittelbar betroffen sind, gibt es bis heute psychische Einschränkungen bis hin zu Depressionen.«

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