Mittwoch, 14. März 2018

80 JAHRE ZWANGSANNEXION ÖSTERREICHS AN NAZIDEUTSCHLAND



hintergrund80jahreWährend von der Sozialdemokratie der Anschluss begrüßt wurde und sie dazu aufriefen bei der „Abstimmung“ mit „Ja“ zu wählen, untersuchte der Kommunist Alfred Klahr die Frage der österreichischen Nation. In acht Artikeln zeigte er, dass Österreich sich zu einer eigenständigen Nation entwickelt hat und kein Teil der deutschen Nation ist. Das war die Grundlage für die nationale antifaschistische Einheitsfront, die große Teile der Bevölkerung im antifaschistischen Kampf gegen Nazideutschland und für die Befreiung Österreichs vereinte.
Zu diesem Anlass veröffentlichen wir hier den ersten Teil des ersten Artikels der Analyse von Alfred Klahr. Er soll allen kämpferischen AntifaschistInnen heute ein gutes Beispiel dafür sein, dass der antifaschistische Kampf nicht „spontan“ entwickelt werden kann, sondern jede Situation konkret analysiert werden muss!
Dr. Alfred Klahr
Zur nationalen Frage in Österreich
1.Teil
Die Redaktion von “ Weg und Ziel“ eröffnet mit diesem bedeutungsvollen Artikel, dem weitere Artikel des Verfassers folgen werden, eine Diskussion über die Nationale Frage in Österreich.Gerade angesichts der letzten Entwicklung in Österreich, angesichts der vom Ständesystem erfolgten Proklamierung Österreichs zu einem „zweiten deutschen Staat“ wird eine marxistische Überprüfung des Verhältnisses der deutschen Österreicher zur deutschen Nation zur dringenden Notwendigkeit.
Seit fast vier Jahren, seit dem Machtantritt Hitlers im Deutschen Reich, steht im Brennpunkt des politischen Kampfes in Österreich die staatliche Unabhängigkeit des Landes. Diese Frage bildete die Scheidelinie nicht nur im blutigen Machtkampf zwischen dem herrschenden reaktionären Block und dem Nationalsozialismus, sondern auch zwischen den Massen des Volkes und dem Nationalsozialismus. Nicht bloß irgendwelche kleine politische Konventikel beschäftigten sich mit dieser Frage, die Massen des Volkes selbst wurden aufgewühlt von der Alternative: Erhaltung der Unabhängigkeit Österreichs oder Anschluss an Deutschland.
Die Kommunistische Partei, die ganze revolutionäre Arbeiterbewegung hat eindeutig für die staatliche Unabhängigkeit Österreichs Stellung genommen. Aber noch haben wir das Problem der nationalen Orientierung des österreichischen Volkes, das dem an der Oberfläche tobenden politischen Kampf zu Grunde liegt, ungeklärt gelassen, noch keine prinzipielle Antwort auf die nationale Frage in Österreich gegeben.
Worin besteht überhaupt die nationale Frage in Österreich? Die Erfahrungen der Revolutionsjahre 1918-1919, das Verbot der Geltendmachung des Selbstbestimmungsrech
tes in der Richtung des Zusammenschlusses mit Deutschland, das im Friedensvertrag von St. Germain enthalten ist und später bekräftigt wurde, die Nachkriegshaltung der Sozialdemokratie in dieser Frage, der berechtigte Hass der Massen gegen das Joch der Dollfuß und Schuschnigg Diktatur haben dazu geführt, dass unter der nationalen Frage in Österreich die Anschlussfrage, dass unter der nationalen Bewegung die deutsch-nationale (inbegriffen die nationalsozialistische) Bewegung verstanden wurde. Das nationale Problem in Österreich wird dabei als ein Teilproblem der allgemeinen in verschiedenen an Deutschland grenzenden Gebieten Europas eine Rolle spielenden deutschen nationalen Frage überhaupt aufgefasst. Und manglaubt, den Erfordernissen marxistischer Analyse Genüge getan zu haben, wenn man noch überlegt: 1848 war der großdeutsche Gedanke fortschrittlich, revolutionär; daher ist Marx für die Bildung einer großdeutschen Republik eingetreten, während er die nationale Bewegung der Tschechen, die damals einen Vorposten des Zarismus in Mitteleuropa bildete und historisch-reaktionär wirkte, bekämpfte. Heute ist der großdeutsche Gedanke reaktionär, heute sind
die deutschnationalen Bewegungen nur Vorposten des Hitlerfaschismus, des Hauptfeindes des internationalen Proletariats, der internationalen Demokratie überhaupt. Daher müssen sie bekämpft, der Anschluss an Deutschland überall abgelehnt werden.
Dies ist heute im allgemeinen für jede deutschnationale Bewegung und daher auch für die deutsch-nationalen Bestrebungen in Österreich richtig. Aber diese Feststellung ist gleichzeitig ganz ungenügend und ungeeignet, um die konkrete Eigenart des nationalen Problems in Österreich zu erfassen. In Österreich gibt es nicht eine nationale Unterdrückung im üblichen Sinne, d.h. durch eine andere im Staate herrschende Nation. Österreich war auch nicht, wie Danzig oder das Saargebiet, ein Teil des Deutschen Reiches (nach dessen nationaler Einigung im Jahre 1871), der durch die Gewalt der Friedensverträge von diesem losgerissen wurde. Die nationale Frage in Österreich ist eben nicht ein Teil der allgemeinen deutschen nationalen Frage in den verschiedenen Gegenden Europas. Gerade um die konkrete Eigenart der nationalen Frage in Österreich geht es aber, wenn die Kommunistische Partei Österreichs ihr nationales Programm gegenüber allen verschiedenen faschistischen Gruppen in Österreich herausarbeiten
will. Betrachten wir die nationale Frage in Österreich zuerst allgemein-theoretisch, dann in ihrer historischen Entwicklung, um schließlich daraus einige prinzipielle und taktische Schlussfolgerungen zu ziehen.
Wenn man die Frage nach der nationalen Zugehörigkeit des österreichischen Volkes stellt, so bekommt man im allgemeinen die Antwort: das österreichische Volk sei „selbstverständlich“ ein Teil der deutschen Nation. Das ist theoretisch die wichtigste Frage, über die wir Klarheit schaffen müssen. Die „Selbstverständlichkeit“, mit der diese Antwort im allgemeinen gegeben wird, kommt daher, dass die Nation als Sprach- und Kulturgemeinschaft aufgefasst wird. Man meint gerade die gemeinsamen sprachlichen und bestimmte gemeinsame kulturelle Bande, wenn man die Deutschen Österreichs und die Deutschen im Reich als eine Nation, als national „selbstverständlich“ zusammengehörig erklärt.
Auch in den Kreisen der revolutionären Arbeiterbewegung wurde dieser Gedanke, das österreichische Volk sei ein Teil der deutschen Nation, vielfach ebenso „selbstverständlich“, einem Dogma gleich, als Ausgangspunkt für jede Erörterung des nationalen Programms hingenommen. Diese Tatsache, die eher einem übernommenen Vorurteil, denn einem kritischen Urteil entsprang, ist u.a. auf zwei Umstände zurückzuführen. Erstens haben Marx und Engels im Jahre 1848 und später die Zertrümmerung der Habsburger-Monarchie und die Vereinigung der deutschen Österreicher mit den übrigen deutschen Stämmen zu einer einheitlichen deutschen Nation als demokratisch-revolutionäre Aufgabe und Perspektive betrachtet. Andererseits hängt diese vorgefasste Meinung der Zugehörigkeit zur
deutschen Nation damit zusammen, dass in der österreichischen Arbeiterbewegung bisher der falsche Begriff der Nation, wie ihn Otto Bauer 1907 geprägt, vorgeherrscht hat, während die marxistisch-leninistische Theorie der Nation, wie sie Genosse Stalin 1912-1913 ausgearbeitet hat, bis in die letzte Zeit leider ziemlich unbekannt blieb. Daher wollen wir einige der Grundgedanken der Stalinschen Theorie hier anführen und daraus Schlüsse für unser Problem ziehen.
Zunächst zeigt Stalin, dass man streng unterscheiden muss zwischen dem Begriff Volksstamm und dem Begriff Nation. Der Volksstamm – das ist ein ethnographischer Begriff, ein Begriff der Völkerkunde, ein unhistorscher Begriff. Von deutschen Volksstämmen z.B. kann man ebenso in der Zeit des Sippenkommunismus als im Zeitalter des Feudalismus, als im Zeitalter des Kapitalismus sprechen. Die Nation jedoch ist ein historischer Begriff. Die Bildung der
Nationen war erst in einer bestimmten historischen Epoche, war nicht vor der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus und des Kampfes gegen den Feudalismus möglich.
Zwei Völker, die ethnographisch dasselbe sind und auch dieselbe Sprache sprechen, können sehr wohl sich zu verschiedenen Nationen entwickelt haben (z.B. Engländer und Amerikaner, Kroaten und Serben), während umgekehrt in der Regel verschiedene Volksstämme zu einer Nation verschmolzen sind (z.B. bildete sich die heutige italienische Nation aus Römern, Germanen, Etruskern, Griechen usw.).
Stalin gibt folgende Definition für die Nation: „Die Nation ist eine historisch entstandene, stabile Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der in der Kulturgemeinschaft zum Ausdruck kommen den Geistesart.“ Stalin gibt also vier Merkmale an: Gemeinschaft der Sprache, Gemeinschaft des Territoriums, Gemeinschaft des Wirtschaftslebens und Gemeinschaft der Geistesart oder, wie sie auch anders genannt wird, des „nationalen Charakters“, der sich in den Besonderheiten der nationalen Kultur bzw. in der Kulturgemeinschaft des betreffenden Volkes ausdrückt. Wodurch unterscheidet sich diese Definition Stalins von anderen Definitionen, darunter auch von der Definition Otto Bauers? Die Definition von Stalin ist die einzig marxistische, ist eine historisch-materialistische, sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung, die das gemeinsame Wirtschaftsleben und das gemeinsame Territorium für die Entstehung einer Nation haben! Dem stehen die bürgerlichen und auch die sozialdemokratischen (Otto Bauers) Auffassungen der Nation gegenüber, die in idealistischer Art die Besonderheit des „nationalen Charakters“ oder der Kultur- und Sprachgemeinschaft als das allein ausschlaggebende Merkmal der Nation hervorheben. Diese Auffassungen können die vielfältige Wirklichkeit der Entstehung und des Lebens der Nationen nicht erklären, sie sind unmarxistisch, sind falsch und daher zu bekämpfen.
Genosse Stalin fährt fort: „Es muss hervorgehoben werden, dass keines der angeführten Merkmale, einzeln genommen, zur Definition des Begriffes Nation ausreicht. Mehr noch: es genügt, dass auch nur eines dieser Merkmale fehlt, damit die Nation aufhört, Nation zu sein.“ Denn wenn z.B. die Gemeinschaft des Wirtschaftslebens oder des Territoriums wegfällt, so kann es nicht mehr jenes enge, gemeinsame Leben und gemeinsame Erleben der Menschen von Generation zu Generation geben, ohne das eine Nation weder entstehen noch bestehen kann. Das ist für das nationale Problem in Österreich sehr wichtig, weil gerade diese Gemeinsamkeit zwischen den deutschen Österreichern und den Deutschen im Reich fehlt. Und andererseits gibt es zahlreiche Beispiele, dass nicht alle, die ein und dieselbe Sprache sprechen, unbedingt eine Nation bilden: so z.B. sprechen Engländer und Amerikaner, Dänen und Norweger, Serben und Kroaten die gleiche Sprache, bilden aber verschiedene Nationen. In diesen Fällen hat eben das Fehlen anderer wesentlicher Merkmale (Gemeinschaft des Wirtschaftslebens, des Territoriums), hat die konkrete geschichtliche Wirklichkeit zur Herausbildung verschiedener Nationen geführt.
Stalin zeigt an einem sehr interessanten und klaren Beispiel auf, wie die Georgier zu einer Nation wurden: „Die Georgier der Zeit vor der Reform lebten auf einem gemeinsamen Territorium und sprachen eine und dieselbe Sprache, und dennoch bildeten sie, strenggenommen, keine einheitliche Nation, da sie in eine ganze Reihe voneinander getrennter Fürstentümer zersplittert, kein gemeinsames Wirtschaftsleben führen konnten, sich unter einander jahrhundertlang befehdeten, sich gegenseitig ruinierten. Georgien als Nation trat erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung, als der Fall der Leibeigenschaft und das Wachstum des wirtschaftlichen Lebens des Landes, die Entwicklung der Verkehrswege und die Entstehung des Kapitalismus eine Arbeitsteilung unter den einzelnen Gebieten Georgiens herbeiführten, die wirtschaftliche Abgeschlossenheit der Fürstentümer endgültig untergruben und sie zu einem Ganzen zusammenfügten“ (Hervorhebungen von mir. R.). So hängt die Entstehung der georgischen Nation mit der Entwicklung des Kapitalismus zusammen.
Der Vergleich mit den deutschen Verhältnissen drängt sich geradezu zwangsläufig auf. Die Deutschen lebten auf einem gemeinsamen Territorium und sprachen dieselbe Sprache, aber wirtschaftlich rückständig und politisch zersplittert, wie sie waren, bildeten sie bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts „streng genommen keine einheitliche Nation“. Noch am Vorabend der großen bürgerlichen Revolution in Frankreich (1789) gab es auf dem gemeinsamen Territorium der Deutschen über 300 kleinere und größere wirtschaftlich abgeschlossene, politisch voneinander unabhängige, deutsche Fürstentümer, die sich oft einzeln oder in größeren Koalitionen gegenseitig bekriegten. Das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“, das unter Habsburg bis 1806 bestand, bezog sich bestenfalls auf einige wenige repräsentative Akte, änderte aber nichts an dieser wirtschaftlichen und politischen Zersplitterung, an der schrecklichen „deutschen Misere“. Erst die Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus drängte dazu, Deutschland „zu einem Ganzen zusammenzufügen“, drängte zur Herstellung der „Einheit der Nation“. Der Kampf um die Einheit der Nation steht im Mittelpunkt der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts bis 1871. Eine einheitliche deutsche Nation, die auch den deutschen Stamm in Österreich mit eingeschlossen hat, hat es aber – „streng genommen“ – bisher in der Geschichte nie gegeben. Als sich die deutschen Stämme nach 1866 zur einheitlichen deutschen Nation zusammengeschlossen haben, oder richtiger gesagt, als 1871 durch Bildung des Deutschen Reiches endlich die Voraussetzungen für das Aufgehen der verschiedenen deutschen Stämme in einer einheitlichen Nation geschaffen wurden, da blieb der deutsche Stamm in Österreich, kraft der historischen Verhältnisse, außerhalb dieser Gemeinschaft, beziehungsweise wurde er aus dieser Gemeinschaft endgültig hinausgedrängt. Das ist die erste Feststellung, die wir bei der Lösung der nationalen Frage in Österreich festhalten müssen.
Stalin polemisiert im weiteren gegen Otto Bauers Theorie der Nation. Otto Bauer definiert die Nation als „die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen“. Dadurch, dass die Menschen unter gemeinsamen Bedingungen ihren Lebensunterhalt produzieren und so ein gemeinsames Schicksal erleben, bildet sich bei ihnen ein bestimmter gemeinsamer Charakter heraus und eben diese Charaktergemeinschaft sei das Merkmal einer Nation, sei das, was von anderen Nationen unterscheidet.
Otto Bauers Begriff der Nation ist idealistisch und unhistorisch. Aber diese völlig unmarxistische Theorie der Nation hat in der österreichischen Arbeiterbewegung vorgeherrscht und mit dazu geführt, dass das österreichische Volk „selbstverständlich“ als Teil der deutschen Nation aufgefasst wurde. Otto Bauers Begriff ist idealistisch , denn er erklärt das ideologische Merkmal der nationalen Charaktergemeinschaft als das ausschlaggebende Merkmal der Nation, ohne es in den notwendigen Zusammenhang mit den anderen Merkmalen, mit der Gemeinschaft des Territoriums und des Wirtschaftslebens zu bringen, aus denen es erwächst. Zur Widerlegung dieser idealistischen Theorie Otto Bauers verweist Genosse Stalin auf das interessante Beispiel der amerikanischen Nation, die durch Auswanderung eines Teiles der Engländer entstanden ist. Im Prozess der Entstehung der amerikanischen Nation hat übrigens der Kampf um die staatliche Unabhängigkeit, den die Nordamerikaner gegen das Mutterland geführt haben und
der im Unabhängigkeitskrieg 1783 gegipfelt hat, eine ganz bedeutende Rolle gespielt. Stalin fragt: „Wodurch soll sich eigentlich die englische Nation von der nordamerikanischen am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterschieden haben, als Nordamerika noch ,Neu-England‘ hieß? Natürlich nicht durch den ,Nationalcharakter‘, denn die Nordamerikaner brachten aus der alten Heimat neben der englischen Sprache auch den englischen Nationalcharakter mit, den sie natürlich nicht so rasch verlieren konnten, obwohl sich unter dem Einfluss der neuen Bedingungen bei ihnen ein besonderer Charakter ausbilden musste. Und dennoch bildeten sie damals schon, trotz ihrer größeren oder geringeren Charaktergemeinschaft, eine von England gesonderte Nation. Offenbar unterschied sich damals ,Neu-England‘ als Nation von England nicht durch einen besonderen Nationalcharakter oder nicht so sehr durch den Nationalcharakter als durch die von England verschiedene Umgebung, verschiedenen Lebensbedingungen“ (hervorgehoben von mir, R.). Dies ist ein wichtiger Fingerzeig für uns, wie wir an die Untersuchung des Unterschiedes zwischen deutschen Österreichern und Deutschen im Reich herangehen müssen. Damit ist nicht nur Otto Bauers Begriff der Nation widerlegt; Stalin zieht daraus noch eine Schlussfolgerung, die bei der Lösung der nationalen Frage in Österreich wichtig ist: „Somit steht fest, dass in Wirklichkeit kein Merkmal besteht, das allein an sich die Nation charakterisiert. Es besteht nur eine Summe von Merkmalen, aus denen bei der Gegenüberstellung der Nationen bald ein Merkmal (Nationalcharakter), bald ein zweites (Sprache), bald ein drittes (Territorium, wirtschaftliche Verbindung) hervorspringt. Die Nation ist eine Kombination aller Merkmale zusammengenommen.“ Welches Merkmal bei der Gegenüberstellung von zwei Nationen besonders „hervorspringt“, welches Merkmal den Unterschied begründet, das kann man nur aus einer konkreten historischen Untersuchung der Entwicklung der betreffenden Völker erkennen. In unserem Fall sind es das besondere Wirtschaftsleben, die „verschiedenen Lebensbedingungen“ der Österreicher seit vielen Jahrzehnten.
Otto Bauers Begriff der Nation ist auch völlig unhistorisch. Bei ihm ist die Nation auch eine „Naturgemeinschaft“, d.h. Bluts- und Abstammungsgemeinschaft. Bei ihm ergibt sich daraus die kuriose, moderne Nazitheorien vorwegnehmende Idee, dass die Germanen schon im Zeitalter des Sippschaftskommunismus und in der feudalen Gesellschaft des Mittelalters eine Nation bildeten! „Bauer verwechselt offenbar die Nation als historische Kategorie mit dem Volksstamm, der eine ethnographische Kategorie darstellt.“ (Stalin).
Für Otto Bauer ist die Nation in Wirklichkeit ein geschichtsloser, ein ewiger Begriff ohne Anfang und ohne Ende, sie war immer und wird immer sein, nur dass der Kreis der Menschen, die in die nationale Kulturgemeinschaft einbezogen sind, ständig wächst. Auch die deutsche Nation war nach Bauer immer vorhanden und ist nicht erst ein Produkt der historischen Entwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts, ein Produkt der Entwicklung des Kapitalismus und der Überwindung des Feudalismus in Deutschland. Wenn man die Begriffe so durcheinanderwirft, wenn man so unmarxistisch, so unhistorisch an die Frage herangeht, wie es Bauer macht, dann kann man „natürlich“ leicht darlegen, dass das österreichische Volk (als ein deutscher Volksstamm) ein „Teil der deutschen Nation“ immer gewesen ist und „selbstverständlich“ auch heute ist, wobei die staatliche Trennung, die seit langem verschiedene wirtschaftliche und politische Lebensverhältnisse begründete, keine Rolle spielt.
In dieser Beziehung steht Otto Bauer auf einer Linie mit verschiedenen bürgerlichen Auffassungen der Nation, z.B. auch mit der eines Seipel oder Schuschnigg. Für sieist die Nation Sprach- und Kulturgemeinschaft oder auch Bluts und Abstammungsgemeinschaft. Wenn Seipel die Nationals „eine in der Gleichheit der Sprache und Kultur zum Ausdruck kommende Bluts- und Schicksalsgemeinschaft“ (Vortrag in der Pariser Sorbonne vom 3. Juni 1926) definiert, wenn Seipel einmal (Stuttgart, 25. VIII. 1925,Generalversammlung der Katholiken Deutschlands) meinte, dass „die Deutschen als Kultureinheit eine Nation“ sind,so kann man nur sagen: mag ein Seipel den historischen Begriff der Nation und den ethnographischen des Volksstammes (Stammesgemeinschaft) auseinanderhalten oder durcheinanderwerfen, mag er die Nation als Kultureinheit auffassen und vom Territorium und dem Wirtschaftsleben absehen, das ist seine Sache als bürgerlicher Ideologe, der ja – zum Unterschied von Otto Bauer – keinen Anspruch darauf erhebt, Marxist zu sein. Aber es ist Zeit, dass dieses bürgerlich-idealistische Durcheinander, das durch Otto Bauer in die österreichische Arbeiterklasse in dieser Frage hineingetragen wurde, von den österreichischen Kommunisten aus den Reihen der Arbeiterschaft hinausgeworfen wird. Das ist umso notwendiger, weil ohne das ein klares politisches Programm in der nationalen Frage unmöglich wird.
Betrachten wir unsere theoretische Hauptfrage noch von einer anderen Seite. Man sagt oft: Wir Österreicher sind Deutsche. Schuschnigg sagt auch: Wir sind der zweite deutsche Staat. Stimmt dies? Natürlich sind wir auch Deutsche, aber man muss fragen, in welchem Sinne. Z.B. nennen sich sowohl die Tataren der Krim und auch die der Tatarischen Autonomen Republik Tataren. Und doch stellen beide zwei verschiedene Nationen dar. Allerdings ist die historische Auseinanderentwicklung dieser beiden tatarischen Stämme bereits soweit gediehen, haben sie sich unter so verschiedenen Kultureinflüssen entwickelt, dass beide schon eine verschiedene Sprache sprechen. Nehmen wir z.B. die Wolgadeutschen. Sind sie Deutsche? Natürlich. Das Wort „deutsch“ sagt hier nur, dass sie nicht Russen und nicht Ukrainer sind, sondern ein deutschsprechendesVolk. Das Wort „deutsch“ bezeichnet hier die Sprache, die Abstammung, die Herkunft, aber sagt nichts über den nationalen Charakter, gibt keine Antwort auf die Frage, ob die Wolgadeutschen ein Teil der deutschen Nation sind. Nichts anderes bedeutet es, wenn wir sagen, dass wir Österreicher Deutsche sind. Damit hebt man bloß hervor, dass wir eben keine Engländer oder Franzosen, keine Italiener oder Tschechen sind, ebenso wie man damit den Unterschied der Deutschschweizer gegenüber dem Italienisch- oder
Französischschweizer hervorhebt. Wir meinen damit, dass die Österreicher die deutsche Sprache sprechen, am deutschen Kulturerbe teilhaben, dass sie (ethnographisch) ein deutscher Stamm sind. Aber daraus folgt keinesfalls – ebenso wenig wie beim Deutschschweizer -, dass das österreichische Volk zur deutschen Nation gehört, einen Teil der deutschen Nation bildet.
So ist das Ergebnis dieser kurzen Untersuchung dies: Die Auffassung, dass das österreichische Volk einTeil der deutschen Nation ist, ist theoretisch unbegründet. Eine Einheit der deutschen Nation, in der auch die Österreicher miteinbezogen sind, hat es bisher nie gegeben und gibt es auch heute nicht. Das Österreichische Volk hat unter anderen wirtschaftlichen und Politischen Lebensbedingungen gelebt als die übrigen Deutschen im Reich und daher eine andere nationale Entwicklung genommen. Wie weit bei ihnen der Prozess der Herausbildung zu einer besonderen Nation fortgeschritten ist bzw. wie eng noch die nationalen Bindungen aus der gemeinsamen Abstammung und gemeinsamen Sprache sind – kann nur eine konkrete Untersuchung seiner Geschichte ergeben.
Wir können darauf und auf die prinzipiellen und taktischen Schlussfolgerungen im Rahmen dieses Artikels nicht näher eingehen und werden dies gesondert behandeln. Doch sei hier vorweggenommen: Die bürgerliche Revolution von 1848 stellte sich zur Aufgabe, die staatliche Einheit der deutschen Nation unter Einbeziehung der Deutschen in Österreich zu verwirklichen, was nur gegen die beiden Dynastien Habsburg und Hohenzollern möglich war. Das war auch das Ziel der revolutionären Vorhut der Arbeiterklasse und des demokratischen Kleinbürgertums in Österreich. Die Revolution wurde geschlagen. Die österreichische Bourgeoisie verband sich in ihren entscheidenden Schichten gegen diese Lösung der deutschen Frage mit den feuddalen Klassen, mit der Habsburg-Dynastie. Sie war ökonomisch an der Beherrschung des Donauraums interessiert und daher nur bedingt deutsch, aber vor allem österreichisch orientiert. Der Ausgang des Krieges 1866 zog den Schlussstrich unter eine Entwicklung, die schon Jahrzehnte vorher begonnen hatte und die deutschen Österreicher ökonomisch und politisch vom Übrigen Deutschland trennte. Auf dieser Grundlage der Trennung vom Übrigen Deutschland, des Lebens unter anderen Bedingungen entwickelte sich in den Massen des österreichischen Volkes eine besondere nationale Eigenart, eine österreichische Orientierung, die die Trennung von Deutschland nicht bloß als vorübergehend empfand und die auf die Erhaltung der Selbständigkeit gegenüber dem Übrigen Deutschland gerichtet war. Diese Orientierung hatten nicht nur die entscheidenden Schichten der österreichischen Bourgeoisie (wir sprechen von jenem Gebiet, das das heutige Österreich bildet) und die Massen des Bauerntums und Kleinbürgertums, die unter dem Einfluss der katholischen Kirche und der christlichsozialen Partei standen. Diese Einstellung bildete sich auch in der österreichischen Arbeiterklasse vor der Jahrhundertwende zum Unterschied von ihrer Haltung 1848 heraus.
Das Eigenartige der nationalen Entwicklung in Österreich liegt aber darin, dass dieser Orientierung eine andere, eine deutsch-nationale Orientierung entgegenstand, die vorwiegend kleinbürgerliche und bürgerliche Schichten, insbesondere große Teile der Intelligenz erfasste. Diese blieb unter den besonderen Verhältnissen der Monarchie sozial unbefriedigt und orientierte sich daher national auf Deutschland. Sie empfand die Trennung von Deutschland als vorübergehend und betrachtete als ihr nationales Ziel den Zusammenschluss mit dem Übrigen Deutschland. Der Kampf dieser beiden nationalen Tendenzen, die mitten durch das österreichische Volk gehen, erfüllt die österreichische Geschichte. Deshalb ist die nationale Entwicklung der deutschen Österreicher zu einer besonderen österreichischen Nation nicht abgeschlossen.
Die Revolution von 1918/19 und die Zerschlagung derHabsburg-Monarchie brachten noch einmal – nach 1848 – eine historische Chance der Lösung der nationalen Frage der deutschen Österreicher im Sinne der deutschen Einheit. Der Fortschritt der Reaktion im Deutschland der Weimarer Verfassung, der Abschluss der Revolution in Österreich (Frieden von St. Germain) haben die Massen dem Anschlussgedanken entfremdet, der später in den großen Kämpfen der Arbeiterschaft in der Nachkriegszeit politisch nicht in Erscheinung trat, entgegen den programmatischen Erklärungen der SP. Die beiden entgegengesetzten nationalen Tendenzen wirkten auf der Grundlage der neuen Nachkriegsverhältnisse weiter, die österreichische trotz, die deutsche infolge der nunmehrigen Kleinheit des Landes. Die Machtergreifung Hitlers in Deutschland hat wie in ganz Europa die nationale Frage, so auch besonders in Österreich den Kampf der beiden nationalen Richtungen verschärft. In der Abwehr der Annexionsbestrebungen des deutschen Faschismus, der sich dabei auf die deutsch-nationalen (nationalsozialistischen) Kreise im österreichischen Volke stützte, im Kampf um die Erhaltung der Unabhängigkeit des Landes stärkte sich in den breiten Massen das nationale österreichische Bewusstsein, das Bewusstsein ihrer nationalen Besonderheit gegenüber Deutschland. Die reaktionärsten Kreise des österreichischen Finanzkapitals, das verflochten ist mit dem Großgrundbesitz und verbündet mit den Spitzen der Kirche, haben diese nationalen Gefühle der Massen ausgenützt, um im Konkurrenzkampf gegen den deutschen Faschismus (1933/34/35), nach Niederschlagung der Arbeiterklasse ihre Diktatur unter Dollfuß und Schuschnigg aufzurichten. Diese Diktatur gibt sich dabei als Beschützer der Selbständigkeit Österreichs, während sie in der Tat ihr Totengräber ist, indem sie alle revolutionären und demokratischen Kräfte im österreichischen Volke, die entschiedensten Kämpfer gegen den Nationalsozialismus, brutal niederhält.
Die Arbeiterklasse hat durch ihren bisherigen Kampf faktisch in der Richtung der Entwicklung dieser österreichischen nationalen Eigenart, der österreichischen Nation gewirkt. Die bewusste Erkenntnis dieser Zusammenhänge wird ihr eine Waffe geben, die sich gegen die Faschisten und Reaktionäre aller Farben richtet. Im Kampfe um die Unabhängigkeit Österreichs gegen Hitler betonen wirdie besonders enge Solidarität des österreichischen unterdrückten Volkes mit dem unterdrückten deutschen Volke, besonders eng infolge der nationalen Verwandtschaft
(Gemeinschaft der Abstammung), infolge der Gemeinsamkeit der Sprache und eines großen Teiles des Kulturerbes. Wir enthüllen die Demagogie des herrschenden Regimes, Verteidiger der Unabhängigkeit Österreichs zu sein, und machen jene nationalen Gefühle im österreichischen Volke, auf die es sich stützte, zu einer Waffe gegen dieses Regime selbst. Wir treten damit auch der Habsburg-Propaganda entgegen, die den Begriff „Österreich“ im Sinne ihrer imperialistischen Bestrebungen nicht als nationalen, sondern nur als „übernationalen“ Begriff anerkennt, und zeigen auf, dass Habsburg wirklich „über“ allen Nationen der ehemaligen Monarchie stand, weil es eine alle Nationen unterdrückende, allen Nationen, inbegriffen die deutschen Österreicher, fremde Macht war und ist. Die Arbeiterklasse stellt sich damit an die Spitze des österreichischen Volkes im Kampfe um seine nationale Freiheit und Selbstbestimmung, d.h. heute um die Erhaltung seiner nationalen Unabhängigkeit. Dieser Kampf ist unlösbar verbunden mit der Erringung der demokratischen Freiheiten in Österreich selbst, mit dem Kampf um die demokratische Republik in Österreich.
Die nationale Frage in Österreich hängt eng zusammen mit den zahlreichen ungelösten nationalen Problemen in Mitteleuropa. Vielleicht schon die kommende demokratische Umwälzung in Österreich und in Deutschland, sicherlich aber ein sozialistisches Mitteleuropa wird zu ihrerendgültigen Lösung imstande sein. In welcher konkreten Form dies geschehen wird, kann heute nicht vorausgesagt werden. Die politischen Tatsachen, die die weitere Entwicklung schaffen wird, werden auch die konkrete Form der Lösung der nationalen Frage in ganz Mitteleuropa und das Verhältnis Österreichs zu Deutschland und den anderen Staaten Mitteleuropas bestimmen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen