Samstag, 19. August 2017

Die Brücke: Moskau – Warschau – Tel Aviv (Gerd Kaiser)


Alija ist ein nicht ganz einfach in die deutsche Sprache zu übersetzendes Wort. Im weitesten Sinn bedeutet Alija die Überwindung eines tatsächlichen wie eines geistigen Weges nach Erez Israel, wie ihn beispielsweise in jahrzehntelangen Wanderungen die Juden aus ägyptischer Verbannung heim nach Israel gingen …

Mitte des 19. Jahrhunderts lebten lediglich 17 000 Kinder Abrahams in Palästina, 1914 waren mehr als 100 000 Zuwanderer dazu gekommen, überwiegend aus dem Zarenreich und aus Galizien, seinerzeit Österreich-Ungarn zugehörig. In den nachfolgenden Jahrzehnten fanden aus unterschiedlichen Gründen vor allem Juden aus Polen und Nazideutschland Zuflucht. Überlebende kamen in den ersten Jahren nach dem Völkermord, verübt von Deutschen, und vor allem nach der 1948 erfolgten Gründung des Staates Israel. Schließlich sicherte die Alija, vier Jahrzehnte später, den bis dato stärksten Zustrom von Juden. Derzeit leben in Israel annähernd sieben Millionen Juden, weitere acht Millionen verbleiben nach wie vor in der Diaspora.

Edmund Hammer, er gehörte zu einer Gruppe jüdischer Unternehmer aus den USA die Mitte April 1988 in der UdSSR Gespräche führte, sagte dem Journalisten der israelischen Zeitung Jedi’ot Acharonot, er habe während eines Abendessens Michail Gorbatschow gefragt, warum man Juden nicht erlaube die UdSSR zu verlassen und nach Israel zu reisen. »Gorbatschow antwortete: Sie haben Recht, Herr Hammer. Ich verspreche Ihnen, dass wir in Kürze die Bedingungen dafür schaffen werden, so dass jeder Jude, der sich dies wünscht, die Sowjetunion verlassen und nach Israel reisen kann.« (Übers. aus dem Poln. G. K.)

Zwei Jahre später landete am 14. Juni eine israelische Maschine der El Al auf dem Warschauer Flugplatz Okecie und kehrte eine Stunde später mit 350 Juden aus Russland nach Tel Aviv zurück. Die Operation »Most« (das Wort bedeutet in Russisch wie in Polnisch »Brücke«) nahm damit ihren Anfang.

Bis Mitte 1992 kamen über die Luftbrücke Moskau -Warschau – Tel Aviv annähernd 100 000 Juden nach Israel, davor und danach auch auf anderen Wegen, unter anderem über Wien und Bukarest per Flug oder auf dem Seeweg, von Odessa aus. »Most« brachte jedoch in kürzester Zeit, in zwei Jahren, die meisten Juden nach Israel.

Das Buch des polnischen Autors Dariusz Wilczak handelt von der diplomatischen und geheimdienstlichen Vorbereitung und dem Verlauf des Unternehmens Most, einer internationalen politischen Operation. Der Autor stützt sich dabei auf die Aussagen in Geheimgesprächen und Darstellungen in Geheimdokumenten, auch auf Buchmanuskripte, die nie veröffentlicht wurden, vorwiegend in Polen und in Israel. In Most einbezogen waren vor allem Israel und Polen, letzteres das Land, aus dem bereits 1946/48, 1951/52 und 1968 drei große Auswanderungswellen nach Israel geflutet waren. Zu den internen Most-Teilnehmern gehörte die UdSSR, informiert waren die USA. Minutiös berichtet D. W. über den Hauptträger des Unternehmens Most von polnischer Seite, über GROM, die Finanzierungsraffinessen unter anderem mit Hilfe des Unternehmens Art-B sowie über den Versuch, durch ein Attentat (am 30. März 1990 in Beirut) auf den polnischen Diplomaten Bogdan Serkis und dessen Ehefrau, »Most« zu verhindern. Die polnische Einheit GROM, die im Projekt der drei hauptbeteiligten Staaten integriert war, spielte anfangs der 1990er Jahre eine besondere Rolle. Sie erhielt und behielt die Bezeichnung GROM (poln: »Blitz« nach ihrer Aufgabe: Grupa Realizacyjna Operacji Most). Beteiligte Entscheidungsträger waren unter anderem die polnischen Generale Henryk Jasikowski, Gromoslaw Czempinski und der (damalige) Oberst Jerzy Dziewulski, seinerzeit Abgeordneter der polnischen Linken (SLD), der die GROM führte. Von israelischer Seite beteiligt waren die Geheimdienste Mossad, Shin Beth und Sayeret Matkal (eine 1957 im Generalstab für antiterroristische Geheimoperationen formierte Sondereinheit der israelischen Streitkräfte), hochrangige israelische Politiker, Außen- und Verteidigungsminister sowie Di-plomaten wie Moshe Arens, Reuven Sharon (er war in der israelischen Botschaft in Warschau Handelsattache) und Ami Mehl.

Eingebunden waren von polnischer und russischer, ukrainischer und anderer Seite zahlreiche weitere geheimdienstliche, politische, militärische und soziale Kräfte, Organisationen und Personen, einschließlich Politikern wie Tadeusz Mazowiecki (polnischer Ministerpräsident) oder Edward Schewardnadse (sowjetischer Außenminister bis 1990).

2012, ein Jahrzehnt nach formellem Abschluss von »Most«, zeigten die Zahlen der Zuwanderer aus den vormaligen Sowjetstaaten in Israel, dass die Operation Most der Auftakt einer anfangs strikt geheim gehaltenen hundertausendfachen Emigrationsbewegung gewesen war. Ursprünglich brachte täglich eine Boing 747 der El Al, deren Kennzeichen getilgt waren, die jeweils am Vortag per Bahn in Warschau eingetroffenen sowjetischen Juden nach Tel Aviv. Später wurde die Luftbrücke an manchen Tagen auf drei Flüge ausgeweitet.

Von 1989 bis 2001 kamen nach diesem Auftakt aus der Ukraine 300 000, aus Russland 291 000, aus den asiatischen vormaligen Sowjetrepubliken 115 000, aus Belorussland 70 000 und aus den Kaukasusrepubliken sowie Moldawien jeweils 57 000 beziehungsweise 48 000 Zuwanderer nach Israel. Dieser Zustrom machte die russischsprachigen Zuwanderer zur größten ethnischen Gruppe Israels mit eigenen Parteien, sozialen und kulturellen Einrichtungen, einer vielfältigen russischsprachigen Presse und vielem anderen mehr. Inzwischen leben anderthalb Millionen Juden aus der vormaligen UdSSR in Israel. Über deren Integration und Eigenständigkeit in Israel enthält die Studie wesentliche detaillierte und zusammenfassende Informationen. Die abschließende Chronik (S. 201-220) ermöglicht einen verlässlichen knappen Überblick über Verlauf und Folgen des Unternehmens Most.


Gerd Kaiser ist Historiker und Publizist. Literaturangabe: Dariusz Wilczak: »Most. Tajna Operacja Przerzutu Zydow Moskwa – Warszawa – Izrael. Warszawa. (Die Brücke. Die Geheimoperation zum Transport von Juden aus Moskau via Warschau nach Israel)«, Wydawnictwo Fronda, 221 Seiten, ISBN 978-83-64095-49-8, 34,90 Zloty

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