Montag, 7. August 2017

Der Weltuntergang beginnt in diesem Dorf, glaubt der IS

Ein mutmaßlicher Propheten-Ausspruch aus dem 7. Jahrhundert ist Grundlage für die Endzeit-Vision des IS. Sie kreist um ein kleines Dorf in Syrien. 
Kurz vor dem Ende der Welt steigt Jesus Christus im Norden Syriens zur Erde herab. Während Satan zum letzten Mal die Muslime heimsucht, betet "der Sohn der Maria" mit ihnen um Festigkeit und Stärke. Auch er ist Moslem.
Unter seinem Anblick löst sich der Teufel auf, "wie Salz im Wasser". Es ist der Anfang vom Ende der Welt, wie es sich die Kämpfer des Islamischen Staates (IS) vorstellen.
Bevor Jesus, im Islam einer der wichtigsten Propheten, auf der Erde erscheint, müssen die Gläubigen noch eine letzte große Schlacht schlagen. Schauplatz dieses Endkampfes ist Dabiq - eine Kleinstadt in den endlosen, steinigen Ebenen Nordsyriens.
Den Ort gibt es wirklich - ähnlich dem Hügel von Armageddon in Israel, wo nach der Offenbarung des Johannes die finale Schlacht zwischen Gut und Böse ausgetragen wird. Dabiq ist eine uralte, wirtschaftlich und strategisch unbedeutende syrische Kleinstadt unweit der türkischen Grenze.

Ewiger Lohn - ewige Verdammnis

Rund 3000 Menschen leben hier. Im 15. Jahrhundert war sie Schauplatz einer großen Schlacht zwischen Türken und Ägyptern. Ansonsten hat sie nie eine Rolle gespielt. Gehalten wird der Ort heute vom IS.
Strategisch unbedeutend, doch für den IS extrem wichtig - das Dorf Dabiq in einem Tweet:
Hier, in Dabiq, so lautet die Vorhersage, sind kurz vor der Wiederkehr Jesu die Heere der Ungläubigen aufmarschiert - 80 Nationen, mit je 12.000 Mann. Also fast eine Million Kämpfer.
Die Ankündigung soll vom Propheten selbst stammen: "Die letzte Stunde wird nicht kommen, bevor die Römer in al-A'muq oder in Dabiq landen. Eine Armee aus den besten Menschen der Erde wird ihnen aus Medina entgegen ziehen" - das soll Religionsgründer Mohamed seinen Anhängern im frühen siebten Jahrhundert angekündigt haben. Überliefert ist es durch einen Hadith.
Hadithe sind Überlieferungen des Propheten, die seit 1400 Jahren mit mehr oder weniger belegbarer Quellenangabe von Generation zu Generation weitergegeben werden. Mit "Römern" waren seinerzeit die ost-römischen Byzantiner gemeint. Heute steht das Wort bei Dschihadisten für den Westen im Allgemeinen.
Die Ankündigung wird noch genauer: Ein Drittel der Muslime werde vor den Ungläubigen fliehen - und für immer verdammt sein. Ein weiteres Drittel werde getötet und als Märtyrer für immer belohnt werden. Der Rest werde siegen und Konstantinopel (die Hauptstadt der "Römer", das heutige Istanbul) erobern, heißt es in dem Hadith. Ihnen bleibe zur Belohnung das Jüngste Gericht erspart.

"Seit 1400 Jahren warten wir auf Euch"

In dieser Auslegung der Endzeitlehre ist die Schlacht von Dabiq der letzte Kampf vor dem Weltuntergang. Ist sie geschlagen, so die Überlieferung, steigt Jesus vom Himmel herab und besiegt den Teufel. Dann kommt kurz der wahre Islam zu seinem Recht.
Bald danach steigt schon der Gerichtstag herauf, an dem die Toten auferstehen und ihre Sünden abgewogen werden. Der IS hat diese Erzählung zur großen Endzeit-Saga aufgeblasen. Sogar sein monatlich erscheinendes Propaganda-Magazin heißt "Dabiq".
Im vergangenen November köpften IS-Henker den 26-Jährigen amerikanischen Katastrophenhelfer Peter Kassig gemeinsam mit 18 syrischen Kampfpiloten - in Dabiq. "Hier begraben wir den ersten der Kreuzfahrer in Dabiq", lautete die Botschaft des Gräuel-Videos.
"Kommt", brüstet sich auch der deutsche IS-Kämpfer Abu Dawud al-Almani in einem anderen Video, das in Dabiq aufgenommen ist. "Wir warten auf Euch. Seit über 1400 Jahren warten wir auf Euch."

"Lockmittel für wahnsinnige Europäer"

"Ich bin mir gar nicht sicher, ob sie das selbst glauben", sagt der Politikwissenschaftler Asiem el-Difraoui im Gespräch mit t-online.de. El-Difraoui ist Experte für dschihadistische Propaganda und Co-Autor des Buches „Arabische Medien“. "Möglicherweise ist das auch nur ein Lockmittel für wahnsinnige Europäer", so der Deutsch-Ägypter.
Die Anführer des IS - viele von ihnen sind ehemalige Militärs und Geheimdienstler aus den Reihen der Baath-Partei von Saddam Hussein - seien durchtrieben und pragmatisch. Womöglich nähmen sie das, was sie verkündeten, selbst gar nicht für bare Münze. Ihre Anhänger - vor allem die aus dem Westen - dagegen schon.
Fakt ist aber: Die Apokalypse spielt in gewissen Islam-Auslegungen, ähnlich wie im Christentum, eine große Rolle - nicht nur bei dschihadistischen Sunniten wie dem IS. Auch die Schiiten warten auf einen Erlöser, den "Mahdi", am Ende aller Tage.

Das Reich des "Kalifen" bröckelt bereits

Sicher ist: Der IS sehnt sich nach dieser Apokalypse. Erstens will er den Westen in einen Abnutzungskrieg am Boden hineinziehen. Zweitens: Für seine Anhänger bedeutet sie die Abkürzung ins Paradies. Zumindest die Gefolgsleute sollen glauben, dass IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi - "Kalif Ibrahim" - der Mann ist, der sie herbeiführt.
Der 44-Jährige, den das "Time"-Magazin gerade zur zweitwichtigsten "Person des Jahres" ernannt hat - gleich nach Bundeskanzlerin Angela Merkel - braucht die Vision. Für sich genauso wie für andere. Denn sein Reich bröckelt: Rund 20 Prozent seines Territoriums hat der IS 2015 eingebüßt.
Unterstützt von westlichen und arabischen Kampfjets, rücken Kurden und ihre arabischen Verbündeten in Syrien und im Irak immer weiter vor. Die Anschläge von Paris seien eine Reaktion darauf, glauben Analysten: Bedrängt uns nicht noch weiter oder Ihr zahlt den Preis dafür, wollten sie dem Westen klarmachen.

Und wenn alles ganz banal endet?

Doch Dabiq birgt auch Gefahren für die Glaubwürdigkeit des IS: Die Stadt liegt nur 40 Kilometer von Aleppo entfernt und 80 Kilometer von der Kurdenstadt Kobane. In allen Richtungen lauern Feinde.
Was, wenn Dabiq ganz einfach von Kurden oder Arabern erobert wird? Ohne große Endschlacht? Ohne die Wiederkehr von Jesus? Dann wäre wieder einmal eine Vision der Apokalypse geplatzt - wie schon so viele vor ihr. Oder: Die Zeit war einfach noch nicht reif. Wer daran glauben möchte, wird dann schon eine Erklärung finden.

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