Sonntag, 14. Mai 2017

Es fehlt an Taten, nicht an Daten (Christoph Butterwegge)


Zehn Thesen zum Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung:
Erstens: Obwohl jede Bundesregierung zur Mitte einer Legislaturperiode einen Armuts- und Reichtumsbericht (ARB) vorlegen soll, haben CDU, CSU und SPD dies aufgrund ihrer Meinungsverschiedenheiten aktuell erst mit anderthalb Jahren Verspätung getan. Man kann von einer Missachtung des Parlaments und der Öffentlichkeit sprechen. Nun wird der Regierungsbericht – dies ist das Gute daran – zu einem Thema im beginnenden Bundestagswahlkampf.

Zweitens: Am ursprünglichen Berichtsentwurf von Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) beanstandeten das Kanzleramt und das Finanzministerium, beide von Unionspolitikern geführt, mehrere Passagen, in denen es um die Negativeffekte der sozialen Ungleichheit, die Notwendigkeit einer Behebung der Verteilungsschieflage, die Möglichkeit der Einflussnahme wohlhabender Bevölkerungsgruppen auf politische beziehungsweise Regierungsentscheidungen und die Beeinträchtigung der politischen Repräsentation durch eine sinkende Wahlbeteiligung armer Bevölkerungsschichten ging. Daraufhin entfielen die theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Armut, Reichtum und (repräsentativer) Demokratie. Gestrichen wurde das Unterkapitel »Einfluss von Interessensvertretungen und Lobbyarbeit« und zusammengestrichen das Ergebnis einer Untersuchung, wonach die Wahrscheinlichkeit für eine Politikänderung wesentlich höher ist, wenn diese von vielen Befragten mit höherem Einkommen unterstützt wird.

Drittens: Weder würdigt der Fünfte ARB das Argument, wonach es sich bei Einkommen unterhalb der Armuts(risiko)grenze von 942 Euro netto im Monat für Alleinstehende nicht bloß um »Armutsgefährdung«, sondern um Einkommensarmut handelt, noch berücksichtigt er die verdeckte, versteckte beziehungsweise verschämte Armut sowie die Energiearmut (über 330.000 Haushalten wurde 2015 der Strom, mehr als 43.000 das Gas abgestellt) als wichtige Armutsformen. Gleichwohl ist der Fünfte ARB weniger blauäugig und einseitig ausgefallen als seine Vorgänger. An zahlreichen Stellen des Regierungsberichts, die fragwürdige Erscheinungen wie den wachsenden Niedriglohnsektor, die Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverteilung sowie den Trend zur Erosion der Mittelschicht behandeln, wird jedoch behauptet, die beschriebene Negativentwicklung habe sich zuletzt verlangsamt oder sei in jüngster Zeit sogar zum Stillstand gekommen. Als einzige Gründe dafür werden der robuste Arbeitsmarkt und die Abnahme der Arbeitslosigkeit seit 2005/06 genannt, obwohl just zu jener Zeit mit Kernstücken der Agenda 2010, »Hartz IV« und mehreren Steuerreformen zugunsten von Spitzenverdienern und Begüterten jene Maßnahmen zu greifen begannen, die entscheidend zur Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich beigetragen haben.

Viertens: Dem Fünften ARB liegt ein Lebensphasenmodell zugrunde, das die biografischen Übergänge zwischen Kindheit, Jugend sowie frühem, mittlerem und hohem Erwachsenenalter in den Mittelpunkt der Berichterstattung rückt. Der zentrale Begriff dieses Ansatzes heißt »soziale Mobilität«, der missbraucht werden kann, um das Problem der Armut zu individualisieren, ein schichtunabhängiges Gleichgewicht zwischen Aufstiegschancen und Abstiegsrisiken zumindest als Möglichkeit zu unterstellen sowie Exklusionsprozesse – soziale Ausgrenzungsmechanismen und Diskriminierungserfahrungen einzelner Bevölkerungsgruppen – zu relativieren. Zwar werden an bestimmten Stationen im Lebensverlauf vieler Menschen entscheidende Weichen für ihre künftige Einkommens- und Vermögenssituation sowie ihren späteren Bildungsstand gestellt, die biografische Entwicklung gibt aber höchstens Aufschluss über einen Teil der Armutsrisiken. Dass die Armut – ebenso wie der Reichtum – strukturell bedingt und ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, entgeht der Analyse, wenn sich diese stark auf einzelne Lebensphasen konzentriert.

Fünftens: Der Fünfte ARB ist dicker als seine Vorgänger ausgefallen. Ausgesprochen dünn ist die Datenlage jedoch weiterhin im Kernbereich der absoluten, extremen beziehungsweise existentiellen Armut, also dort, wo es um Wohnungs- oder Obdachlosigkeit geht. Wenn offizielle Statistiken zum Problem der Wohnungslosigkeit existieren würden, könnte man die zuständigen Behörden und die politisch Verantwortlichen leichter bewegen, es mit der erforderlichen Konsequenz anzugehen. Bis dahin stützt sich die Bundesregierung auf Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, wonach es 2014 in Deutschland wieder mehr als 335.000 Wohnungslose gab. Darunter befanden sich circa 29.000 Kinder und minderjährige Jugendliche. 39.000 Menschen lebten dem Dachverband der Wohnungslosenhilfe zufolge auf der Straße. Dass seit der Vereinigung von BRD und DDR mindestens 290 Obdachlose der Kälte zum Opfer gefallen, »aggressive« Bettler in vielen Städten aus dem öffentlichen Raum verdrängt und auf der Straße lebende Menschen einem rigiden und repressiven Armutsregime ausgesetzt worden sind, für das Polizeirazzien, Platzverweise, Aufenthaltsverbote und Schikanen privater Sicherheitsdienste stehen, verschweigt der Regierungsbericht. Auch die Tatsache, dass der Staat selbst Wohnungslosigkeit produziert, indem er Unter-25-Jährige im »Hartz IV«-Bezug nach der zweiten Pflichtverletzung so hart sanktioniert, dass ihnen nicht bloß die Geldleistung gestrichen, sondern auch die Miet- und Heizkosten nicht mehr übernommen werden, bleibt unerwähnt.

Sechstens: Noch dürftiger sind der Erkenntnisstand und die Datenlage zur (Ungleich-)Verteilung des privaten Reichtums in Deutschland. An der Tatsache, dass der Reichtum in den Regierungsberichten ein Nischendasein fristet, hat sich wenig geändert. Entgegen den Absichtsbekundungen von Ministerin Andrea Nahles ist er letztlich ein Stiefkind der statistischen Datenerfassung und -analyse geblieben. Man hat zwar ein Forschungsprojekt zum Reichtum in Auftrag gegeben, ihn allerdings so diffus definiert, dass die soziale Ungleichheit während des Berichtszeitraums kaum gestiegen ist. »Einkommensreich« ist nach der zugrunde gelegten Definition, wer über mehr als das Doppelte beziehungsweise Dreifache des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens der Gesamtbevölkerung verfügt – das sind 3452 bzw. 5178 Euro pro Monat. Aussagekräftige Zahlenangaben wie diese kommen im Regierungsbericht hingegen nicht vor: Die reichsten Geschwister unseres Landes, Stefan Quandt und Susanne Klatten, haben im Mai 2016 für das Vorjahr allein 994,7 Millionen Euro an Dividenden aus ihren BMW-Aktien bezogen; im laufenden Jahr dürfen sie sich auf 1,074 Milliarden Euro an Dividenden freuen. Vermutlich würden sich die beiden Konzernerben totlachen, wenn sie wüssten, dass jemand einen alleinstehenden Studienrat nur aufgrund seines Gehalts für reich hält. Während die Meinung der Armen sowie ihr subjektives Empfinden (Schmach, Demütigung, Erniedrigung und Ausgrenzung) nur in einem Workshop mit 30 Teilnehmern zur Debatte standen, ansonsten jedoch unberücksichtigt blieben, wurden für den Regierungsbericht 130 »Hochvermögende«, deren jeweiliges Gesamtvermögen sich im Schnitt auf 5,3 Millionen Euro belief, interviewt. Alle zusammen besaßen also weniger, als das jährliche Dividendeneinkommen zweier Großaktionäre eines Automobilkonzerns beträgt. Bei einem individuellen Nettovermögen von über 500.000 Euro, das heißt schon dann, wenn jemand in einer begehrten Groß- oder Universitätsstadt der Bundesrepublik eine selbstgenutzte Neubau-Eigentumswohnung mittlerer Größe besitzt, gilt er als vermögensreich. Werden »normale« Mittelschichtangehörige, die im Wohlstand leben, wie selbstverständlich zu den Reichen gezählt, lässt sich die Tatsache, dass sich der wirkliche Reichtum in wenigen Händen konzentriert, leichter verschleiern.

Siebtens: Mehrfach weist der Fünfte ARB darauf hin, dass Spitzenverdiener wegen des progressiven Einkommensteuertarifs »einen besonders hohen Anteil zum Steueraufkommen« beitrügen. Es wird so getan, als wären Reiche durch ihre Steuerzahlungen stark belastet und als würden sie von den Finanzämtern über Gebühr zur Kasse gebeten. Empirische Untersuchungen kritischer Fachleute belegen indes das Gegenteil: Niemand ist durch die Steuergesetzgebung der vergangenen Jahrzehnte stärker entlastet und dreister begünstigt worden als Hyperreiche, die sehr viel mehr zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen könnten.

Achtens: Über weite Strecken bleibt der Fünfte ARB rein deskriptiv und lässt größere analytische Tiefenschärfe vermissen. Nach den gesellschaftlichen, sozioökonomischen und politischen Ursachen der Einkommens- und Vermögensspreizung wird nicht gefragt. Höchstens die Auslöser persönlicher Notlagen wie Erwerbslosigkeit, Trennung beziehungsweise Scheidung vom (Ehe-)Partner oder (Früh-)Invalidität sind Gegenstand der Betrachtung. Die strukturellen Determinanten sozialer Auf- und Abstiege bleiben weitgehend im Dunkeln. Sobald man – wie bei den Aussagen des Ursprungsentwurfs über den Zusammenhang von Reichtum und politischen Entscheidungen – in die Nähe der realen Wirkungszusammenhänge kommt, stoppt das Kanzleramt den Erkenntnisprozess.

Neuntens: »Nur wenige Kinder in Deutschland leiden unter erheblichen materiellen Entbehrungen«, heißt es auf das EU-Konzept der materiellen Deprivation gestützt im Fünften ARB – im Ursprungsentwurf fehlte das Wort »erheblichen« sogar. Ende 2016 bezogen 2,03 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren Sozialgeld/Arbeitslosengeld II, im Volksmund »Hartz IV« genannt. Lebensmitteltafeln versorgen nach eigenen Angaben regelmäßig eine halbe Million Kinder mit Essen. Leiden diese Minderjährigen etwa nicht unter erheblichen materiellen Entbehrungen, oder sind 500.000 tatsächlich »wenige«, wie der Regierungsbericht suggeriert? Darin wird der Eindruck erweckt, man habe die Kinderarmut seit Einführung des »Bildungs- und Teilhabepaketes« zum 1. Januar 2011 im Griff. Obwohl seine Leistungen in einem komplizierten Verfahren beantragt werden müssen (was viele Anspruchsberechtigte erst gar nicht tun), höchstens den Wert von 250 Euro pro Jahr erreichen und seit sechs Jahren nicht angehoben worden sind, will die Bundesregierung nur die Bekanntheit des Bildungs- und Teilhabepaketes erhöhen und »prüfen, ob bürokratische Hürden bestehen und abgebaut werden können«. CDU, CSU und SPD haben zwar den Regelbedarf von Arbeitslosengeld-II-Beziehern sowie Schulkindern und Jugendlichen im »Hartz IV«-Bezug ab 1. Januar 2017 leicht erhöht, die Kinder unter sechs Jahren jedoch leer ausgehen lassen. Ab 1. Juli 2017 entfristet die Große Koalition den staatlichen Unterhaltsvorschuss hinsichtlich seiner Höchstleistungsdauer und setzt die Altersbegrenzung von 12 auf 18 Jahre herauf. Vielen alleinerziehenden Müttern im Arbeitslosengeld-II-Bezug nützen diese Verbesserungen aber nichts, weil die ihnen länger gezahlten Leistungen auf »Hartz IV« angerechnet werden.

Zehntens: Vergleichbares gilt für die Altersarmut. Da »nur« 536.121 Personen über 64 Jahren am Ende des Jahres 2015 Grundsicherung im Alter bezogen, liegt die Mindestsicherungsquote der Seniorinnen und Senioren zwar unter der jüngerer Altersgruppen. Dafür ist die Dunkelziffer, also der Anteil jener Menschen, die ihnen zustehende Grundsicherungsleistungen nicht beantragen, weil sie keine Informationen darüber haben, weil sie zu stolz sind, weil sie sich schämen, weil sie den bürokratischen Aufwand scheuen oder weil sie den Unterhaltsrückgriff der Ämter auf Kinder und/oder Enkel fürchten, unter Seniorinnen und Senioren bekanntermaßen extrem hoch. Dass die Armuts(risiko)quote und der Transferleistungsbezug seit Jahren in keiner Altersgruppe so stark wachsen wie unter den Seniorinnen und Senioren, erfährt der Leser des Regierungsberichts ebenfalls nicht. Überzeugende sozialpolitische Konzepte und wirksame Maßnahmen gegen Armut im Alter sind ein Kriterium, nach dem viele Bürger ihre Wahlentscheidung bei der kommenden Bundestagswahl treffen. CDU, CSU und SPD haben sowohl im Hinblick auf die Armuts- und Reichtumsberichterstattung wie auch im Hinblick auf die Armutsbekämpfung versagt.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt sind seine Bücher »Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition« (Springer VS) und »Armut« (PapyRossa) erschienen.

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