Donnerstag, 2. März 2017

Umstrittenes Gelände (Erhard Weinholz)


»Ick könnt mich errjan, ick könnt mich den janzen Tach errjan«, so schimpfte, als wir in der Schwedter Straße noch die Mauer vor der Nase hatten, mit gerolltem R meine alte Nachbarin am Küchenfenster vor sich hin. Auch ich könnte mich ärgern, täglich mehrmals sogar, wenn ich heute ins Bötzowviertel komme und dieses Volk sehe, das bei teurem Frühstück vor einem der Cafés in der Hufelandstraße sitzt, dem »tous les jours«, dem »Spreegold« oder dem veganen »Satt und glücklich«. Dieses Volk, das hier Eigentumswohnungen geschenkt bekommen hat von Eltern, die den Preis aus der Portokasse gezahlt haben. So las ich es jedenfalls einmal bei einer Autorin, die schon lange ansässig ist in diesem Prenzlauer-Berg-Viertel. Einem Viertel, wo man die Zuzügler aus dem Westen angefeindet hat wie sonst kaum in Berlin. Obendrein, so las ich bei ihr weiter, klumpe sich Gebärwahnsinn – was immer das sein mag – zusammen und versperre die Gehwege mit teuersten Kinderwagen, und Eltern um die Vierzig höre man mit Babystimmen sprechen. Na, das passt ja wieder mal!

Doch ich, ich freue mich, wenn ich in diese Straße komme mit ihren großen Bäumen, alten Häusern, vielerlei Läden, den Tischen vor den Cafés. Denn ich bin einer jener Glücklichen, die zu Hause sind in diesem Viertel, das, ich zitiere jetzt mal Wikipedia, wegen seiner »ruhigen, doch zentralen Lage« und der »Nähe zum Volkspark Friedrichshain zu den bevorzugten Wohnlagen Berlins gehört«. Das wirkliche oder wahre Bötzowviertel ist aber um einiges kleiner, als man bei Wikipedia meint; es hat mit seinen zwei Längs- und vier Querstraßen etwas Inselhaftes an sich, in einer guten Viertelstunde hat man es durchstreift. Vielleicht deshalb ist ihm das Schicksal der Gegend am Kollwitzplatz erspart geblieben, die Flut von Touristen, für die sich in den Erdgeschossen Restaurant an Restaurant reiht.

Auch bei uns im Dreh sind inzwischen die letzten Verkaufsstellen aus DDR-Zeiten verschwunden: Schramm in der Hufelandstraße, wo sich der Handel mit Obst und Gemüse zu etwas ganz Persönlichem und fast schon Intellektuellem veredelt hatte, und Linde, Schreib- und Spielwaren, nahebei in der Greifswalder. Das war nun ein Geschäft, wie es sich in Berlin wohl kein zweites Mal fand, ein Wunderland des Nützlichen wie des Skurrilen, vollgestopft bis zum letzten Winkel. Anderes gibt es schon seit langem nicht mehr: den Fischverkauf und die Drogerie, das Esmarch-Eck und den Saalbau Friedrichshain – die Zeit der Eckkneipen scheint ebenso vorbei zu sein wie die der Großgaststätten. Das Postamt hat man trotz etlicher Anwohnerproteste geschlossen und die Buslinie eingestellt, die durch das Viertel und dann noch einmal rechtsherum, einmal linksherum zum Alex führte. Aber eines Tages fuhren ja auch die Straßenbahnen wieder dorthin. Und statt der verschwundenen alten Läden gibt es allerlei neue, mal diese und mal jene.

Beide, Zugewinne wie Verluste, waren auch mit der baulichen Erneuerung des Viertels verbunden. Hier und da findet man hinter prächtiger Vorderhausfassade noch Höfe im Altzustand: kahl, undichte Fenster, bröckelnder Putz. An einem der Quergebäude weist eine schwarze Hand mit gestrecktem Finger hin zu einer Tür: zur Wäschemangel. An die hundert Jahre alt waren die Bauten in den frühen 1990ern. Seitdem hat das Viertel enorm an Qualität gewonnen, auch dank der Betroffenenvertretung, die das Kino am Friedrichshain gerettet und sich für Turnhallenbau, Erhalt der Grünflächen, Ausbau der Spielplätze und überhaupt für eine familienfreundliche Infrastruktur eingesetzt hat. Und es gewinnt weiterhin dazu, denn rekonstruiert und gebaut wird nach wie vor. Seit einiger Zeit stehen nahe der Hufelandstraße wieder einmal Schuttcontainer. Neulich habe ich hineingeschaut: Da liegen die alten hölzernen Fensterrahmen mit den Hohlkehlungen und dem Kapitell an der Mittelstrebe, alle noch wohlerhalten. Nur die Griffe fehlen, werden wahrscheinlich, weil aus Messing, von den Handwerkern verscherbelt.

Sanierungen greifen heutzutage fast immer in die Bevölkerungsstruktur ein. Dass solche Strukturen sich mit der Zeit wandeln, ist sicherlich normal. In den 1970ern und 1980ern zum Beispiel siedelte so mancher aus dem Viertel in die Neubauten draußen im Osten Berlins um, im Gegenzug sickerte Intelligenz ein. Der Wandel nach 1990 war stürmischer, und das nicht nur, weil viele, die seit langem schon an Umzug gedacht hatten, nun endlich umziehen konnten. Vor allem Ältere zogen auch aus Angst vor den mit dem Umbau verbundenen Mieterhöhungen fort. Gut fünfzehn Jahre, bis 2011, galt die Gegend an der Bötzowstraße als Sanierungsgebiet; die Schlussbilanz lautete: Das Viertel hat seine soziale Vielfalt bewahrt, sich jedoch, nicht zuletzt durch Zuzüge aus dem Westen, bei steigendem Qualifikations- und Einkommensniveau erheblich verjüngt – daher die erwähnten Kinderwagen. Das Mädchen, das neulich mit dem Ruf »Bahne frei Kartoffelbrei, Bahne frei Kartoffelbrei« unter meinem Fenster entlangstürmte, stammt aber sicherlich nicht aus dem fernen Schwabenland, ebenso wie der Mittfünfziger bei mir gleich um die Ecke, der gelegentlich durchs offene Fenster die halbe Straße mit Musik beschallt: Trotz Gentrifizierung gehört ein Drittel der Bewohner zu den Alteingesessenen – das ist viel in heutigen Zeiten, es ist mehr, als ich erwartet hatte. Und zugezogen ist keine egomanische Schickeria, sondern ein eher bodenständiger Typus mit einiger Bereitschaft zum Engagement.

Als die Bezirksverwaltung die seit mehr als hundert Jahren bestehende Bücherei in der Esmarchstraße schließen wollte, blieb es nicht bei Protesten. Stammbewohner und Zuzügler, Westler und Ostler besetzten die Bibliotheksräume, gründeten den Verein Pro Kiez als Träger und betreiben seit dem Sommer 2008 die Bibliothek ehrenamtlich. Das sagt sich so einfach, war aber mit einer Unzahl von Problemen und Konflikten verbunden; gesichert ist der Fortbestand der Kurt-Tucholsky-Bibliothek bis heute nicht. Vereinsmitglieder organisieren aber auch Lesungen und Ausstellungen und das alljährliche Sommerfest am Stierbrunnen, sie kümmern sich um Bauplanungen und um Flüchtlinge. Manches haben sogar allein die Neuankömmlinge ins Leben gerufen: die Subbotniks auf dem Arnswalder Platz etwa und das alljährliche Kirschblütenfest. Bürgerengagement gilt inzwischen als eine der Eigenarten des Bötzowviertels. Es zählen aber auch die Merkwürdigkeiten dazu, die man in den stillen Seitenstraßen findet: eine Werkstatt für antike Uhren, eine selten geöffnete Galerie, in der nie Besucher zu sehen sind, das Rosen-Studio für erotischen Tanz, von dem man nun überhaupt nichts weiß. Ich hoffe, sie bleiben uns allesamt erhalten. Ich hoffe obendrein, dass Angela Merkel nicht irgendwann auf die Idee kommt, sich ausgerechnet hier bei uns mit Donald Trump zu treffen. Die Folgen für das Viertel könnten verheerend sein.

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