Donnerstag, 16. März 2017

Das System Europa und seine Gegner



"Sechzig Jahre nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft ist das 
Unbehagen an dem, was aus ihr geworden ist, größer denn je. Die EU 
gilt als neoliberales Elitenprojekt. Ihre schärfsten Kritiker sind 
heute nicht linke Antikapitalisten, sondern rechte Kräfte. Warum sind 
die Rechten erfolgreicher als die Linken? (...) Das wichtigste Merkmal 
dieser politischen Landschaft ist, dass die rechten Bewegungen 
insgesamt stärker sind als die linken, und zwar im doppelten Sinne: 
sowohl in der Anzahl der Länder, in denen sie vorn liegen, als auch 
bei den Wählerstimmen. Rechte wie linke Bewegungen sind Reaktionen auf 
die Struktur des neoliberalen Systems, die in der gegenwärtigen Union 
auf besonders krude und verdichtete Weise zum Vorschein kommen. (...) 
Für die linken Bewegungen gegen das System in Europa ergibt sich aus 
den Erfahrungen der letzten Jahre eine eindeutige Lehre: Wenn sie 
nicht von den Rechten abgehängt werden wollen, können sie es sich 
nicht leisten, das bestehende System weniger radikal anzugreifen als 
diese. Zugleich muss ihre Opposition kohärenter werden. Und sie müssen 
von der Wahrscheinlichkeit ausgehen, dass die heutige EU als 
neoliberales Konstrukt sich nicht mehr von innen reformieren kann. Das 
heißt: Die Union müsste dekonstruiert werden, bevor etwas Besseres 
aufgebaut werden kann. Das könnte durch den Austritt aus der 
bestehenden EU geschehen oder durch einen Neuaufbau Europas auf einem 
anderen Fundament. Damit wären die Maas¬tricht-Verträge tot. Beide 
Entwicklungen sind allerdings wenig wahr¬scheinlich – außer im Gefolge 
einer weiteren und noch tieferen ökonomischen Krise." Artikel von 
Perry Anderson, aus dem Englischen von Niels Kadritzke, vom 9. März 
2017 bei Le Monde diplomatique online (Perry Anderson lehrt Geschichte 
an der University of California, Los Angeles. Zuletzt erschien von ihm 
„The New Old World“, London (Verso) 2009)
https://monde-diplomatique.de/artikel/!5381578

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