Donnerstag, 2. März 2017

Ab in die zweite Klasse


EU-Kommission kokettiert in »Weißbuch« mit einem »Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten«. Arme Länder würden auf der Strecke bleiben

Von Simon Zeise
RTR4YPFU.jpg
Athen hat die Auflagen Brüssels erfüllt. Gleichberechtigtes EU-Mitglied darf Griechenland aber nicht sein (Jean-Claude Juncker geleitet Alexis Tsipras hinaus, 3. Juni 2015)
Die EU soll den stärksten Staaten dienen. So frei lassen sich die Planspiele Brüssels zur Schaffung eines »Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten« übersetzen. Denn es gebe »eine einfache Wahrheit«, Europas Bedeutung in der Welt schrumpfe, erklärte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch im EU-Parlament, bei der Vorstellung des »Weißbuch EU«.
Das »Brexit«-Votum Großbritanniens dient Juncker als Anlass, um ein »neues Kapitel« aufzuschlagen. Fünf »Szenarien« bis zum Jahr 2025 werden darin beschrieben. Unmittelbar nach der Abstimmung über den Austritt aus der EU im Juni 2016 in London hatte Brüssel und allen voran die deutsche Bundesregierung eine europäische Armee ins Spiel gebracht. Künftig könnten eine oder mehrere »Koalitionen der Willigen« in bestimmten Bereichen wie Verteidigung, innerer Sicherheit oder Sozialpolitik entstehen, heißt es im Weißbuch.
Die verschiedenen Zukunftsvisionen seien »weder gegenseitig ausschließend noch erschöpfend«. Bei einem »Weiter so wie bisher« könne die Einheit der 27 Mitgliedsstaaten »bei ernsthaften Meinungsverschiedenheiten erneut auf die Probe gestellt werden«. Die nach dem EU-Austritt verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten würden sich auf Reformen, Jobs, Wachstum und Investitionen konzentrieren, um greifbare Vorteile für die dann noch 450 Millionen Bürger der Union zu liefern. Bei der Währungsunion wären unter den gegebenen Verhältnissen nur »schrittweise Fortschritte« zu erwarten. Die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich bliebe begrenzt.
junge Welt stärken
Motiviert klingen solche Töne jedoch nicht. Zumal die Idee eines »Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten« bereits im Februar von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ins Spiel gebracht worden war. Berlin würde sich vermutlich am liebsten »Kostenfaktoren« wie Griechenland und die osteuropäischen Staaten vom Leib halten. Die Fixierung auf ein »Kerneuropa« ist der ursprüngliche Plan des heutigen Finanzministers Wolfgang Schäuble (CDU), den er bereits 1994 in einem gemeinsamen Papier mit seinem Parteifreund Karl Lamers formulierte.
Die in Großbritannien favorisierte Variante wäre, dass der Binnenmarkt Hauptziel der EU bleibe, weil die Mitgliedsstaaten sich nicht auf mehr politische Integration in anderen Bereichen verständigen können. Doch auch das scheint keine ernsthafte Option für Juncker zu sein. Der Preis für die übrigen Mitgliedsstaaten wäre aus Sicht der Kommission, dass »die Kapazität gemeinsam zu handeln begrenzt ist«. Dies könne »die Kluft zwischen Erwartungen und dem Gelieferten auf allen Ebenen vergrößern«.
Auch eine vertiefte Integration wäre theoretisch denkbar. Dann würden die Mitgliedsstaaten sich mit Brüssel darauf verständigen, »auf allen Ebenen mehr Macht, Ressourcen und Entscheidungsfindung zu teilen«. Zentrales Projekt wäre die Stärkung der Euro-Zone. Es müsse klar werden, dass, »was für die Länder der gemeinsamen Währung vorteilhaft ist, für alle vorteilhaft ist«. Juncker warnte aber, dass dies »Teile der Gesellschaft verstimmen könnte, die denkt, dass es der EU an Legitimität fehlt oder sie den nationalen Regierungen zuviel Macht abgenommen hat« – so lassen sich Massenstreiks der griechischen Bevölkerung gegen die Kürzungsdiktate der EU auch übersetzen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen