Dienstag, 31. Januar 2017

Kurs Brexitannien: Mayday, Mayday … (Johann-Günther König)

 
Mayday ist das weltweit gültige Notsignal im mobilen Sprechfunk. Wird es dereinst womöglich als Aufschrei der Briten in die Geschichte eingehen, sie von der Brexit-Vollstreckerin, von Regierungschefin Theresa May zu erlösen? Wäre ich ein Thinktank wie etwa das Institute of Public Policy Research (IPPR), so müsste ich jedenfalls für die Zeit ab circa 2020 prognostizieren: »Der Brexit wird das Königreich gewaltig umgestalten … Schmerzhafte Einschnitte durch den Brexit sind so gut wie sicher. Das Wirtschaftswachstum dürfte ebenso wie die Investitionsbereitschaft geringer als heute ausfallen, und die öffentlichen Kassen werden voraussichtlich weit weniger gut gefüllt sein … Um 2030 werden sich die Haushalte pro Jahr durchschnittlich um 1700 Pfund Sterling schlechter stehen als gegenwärtig beziehungsweise bei einer weiteren Mitgliedschaft in der EU.« Die nachhaltig geschwächte britische Währung wird laut den Wirtschaftsforschern eine Verteuerung von Gütern des täglichen Bedarfs bewirken, die vor allem den Lebensstandard der ärmeren Bevölkerung drastisch senken wird. (Zitiert und übersetzt aus The Guardian, 29.12.2016.)

Noch hat Premierministerin Theresa May – ob mit oder ohne Segen des Parlaments, das entscheidet das höchste britische Gericht, der Supreme Court, wohl im Januar 2017 – kein Austrittsgesuch in Brüssel eingereicht. Sie wird indes nicht müde, dem Europäischen Rat zu versichern, das Königreich werde vor Ende März 2017, also noch vor der 60-Jahr-Feier der EU, das Austrittsgesuch gemäß Artikel 50 der EU-Verträge stellen. Und weil bis dahin noch so einiges Wasser die Themse herunterfließt, nutze ich den Moment für einen kurzen Rück- und Ausblick. Schließlich setzt die am 23. Juni 2016 beim Referendum knapp mehrheitlich erfolgte Entscheidung der Briten für den Brexit – gefällt mehrheitlich vor allem von den Engländern und Walisern, die Schotten und Nordiren stimmten mehrheitlich gegen den Austritt – eine nachgerade ungeheuerliche Zäsur. Für Unionseuropa nicht minder wie für das Vereinigte Königreich selbst.

Wohlan. Im Januar 2013 kündigte der damalige Premierminister David Cameron an, die Bürger seines Landes bis spätestens 2017 über den Verbleib in der EU abstimmen zu lassen. Im November 2014 verknüpfte er die Frage des EU-Austritts zusätzlich mit Änderungswünschen zur Migrationspolitik. Beim EU-Gipfel am 19. Februar 2016 setzte Cameron in den Verhandlungen mit den Staats- und Regierungschefs der 27 anderen EU-Staaten ein »Reformpaket« durch. Im Wesentlichen wurde für den Fall des Verbleibens von Großbritannien in der EU vereinbart, zugewanderte Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten von Sozialleistungen ausschließen zu können (wenn Mensch so will, war das bereits ein Verstoß gegen mindestens eine der vermeintlich unumstößlichen vier Grundfreiheiten der EU: Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen). Anfang Mai 2016 eröffneten Gegner und Befürworter der EU-Mitgliedschaft im Vereinigten Königreich die heiße Phase des Abstimmungskampfes. Premier Cameron warnte vor den wirtschaftlichen Risiken im Falle eines Austritts; Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson und prominentester Brexiteer machte die Einwanderung und die angeblich hohen Kosten der EU-Mitgliedschaft zum zentralen Wahlkampfthema – und das mit unglaublich massiver Hilfe der auflagenstarken Boulevardpresse und einiger konservativer Blätter.

Am 24. Juni, dem Morgen nach dem Referendum durch rund 46,5 Millionen registrierte Wahlberechtigte, brachen in Europa und Asien die Aktienmärkte ein, fiel das Pfund Sterling, standen die britischen EU-Mitgliedschaftsbefürworter unter Schock, war der Brexit volksbeschlossene Sache, feierte die Boulevardpresse den »Unabhängigkeitstag«. Was dann folgte, lief – und läuft nach wie vor – auf so etwas wie ein politisches Chaos im früher üblichen Londoner Nebel hinaus. Bis Mitte Juli legten drei Politiker ihre Ämter nieder: Zunächst der britische EU-Kommissar Jonathan Hill, dann Nigel Farage, der Chef der ausländer- und EU-feindlichen Partei Ukip, und am 13. Juli schließlich Premier David Cameron. Sein Amt übernahm die bis dahin als kompromisslose Innenministerin tätige Theresa May. Zum Außenminister ernannte May den Brexiteer Boris Johnson; das neue Amt des Brexit-Ministers erhielt David Davies. Am 15. Juli 2016 kündigte er an, frühestens am Ende des Jahres offizielle Gespräche mit Brüssel über einen EU-Austritt aufzunehmen, obwohl führende Köpfe der Europäischen Union auf eine rasche Austrittserklärung drängten. Zehn Tage später setzte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon die neue Regierung mit der Bemerkung unter Druck, sie erwäge eine erneute Abstimmung der Schotten über die Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich. Jedenfalls wolle Schottland Teil der EU bleiben. Am 5. September verlautbarte Brexit-Minister Davis, er halte einen Verbleib im EU-Binnenmarkt nach einem EU-Austritt für unwahrscheinlich, was wiederum die Regierungschefin einen Tag später relativierte. Am 2. Oktober ließ Theresa May schließlich öffentlich wissen, die Austrittserklärung werde zum März 2017 erfolgen, und benannte damit erstmals einen relativ konkreten Termin für den Beginn der eigentlichen – EU-vertraglich auf eine Dauer von zwei Jahren fixierten – Austrittsverhandlungen. Allerdings entschied der Londoner High Court am 3. November, dass die Regierung für die Austrittsverhandlungen mit Brüssel die Zustimmung des eigenen Parlaments einholen müsse. Die Regierung ging umgehend in Berufung, inzwischen befasst sich der Supreme Court mit der Materie. Juristisch beschlagene Beobachter gehen davon aus, dass das von einigen Boulevardblättern massiv kritisierte Urteil des High Courts Bestand behält. Dass sich in dem Fall der Zeitplan von Premierministerin May noch halten lässt, scheint wenig wahrscheinlich.

Soweit zu den Vorgängen auf der Insel, deren Regierungsmannschaft bis heute den Beweis dafür schuldig geblieben ist, die politische Herausforderung einer – im Übrigen unverbindlichen – Pro-Brexit-Abstimmung auch nur ansatzweise zu meistern. Schlimmer noch, es wurde seitens der Regierung unter Cameron nicht einmal der Versuch gemacht, mit dem in zwei fast gleichgroße Lager der Brexit-Befürworter und -gegner gespaltenen Volk intensiver zu erörtern, welche politischen Schritte sinnvoll wären. Möglich geworden wäre das nach Camerons kalkuliert zeitverzögertem Rücktritt durch die Ansetzung von Neuwahlen. Stattdessen beförderte die Elite der Conservative Party zum Zwecke des Regierungsmachterhalts Theresa May auf den freigewordenen Premierposten. Und das, so steht zu befürchten, ist nach der politisch unverantwortlichen Ansetzung eines Referendums ohne jegliches Quorum (zum Beispiel von 60 Prozent) der zweite politisch unverantwortliche Schachzug der Konservativen. Besiegeln die Tories Britanniens endgültigen Niedergang als einst so einflussreiche Nation? In ihrer Weihnachtsansprache ließ Theresa May das Volk vorsichtshalber wissen, es sei wichtig, »das Land zu einigen«, um eine »mutige neue Rolle auf der Weltbühne außerhalb der Europäischen Union« spielen zu können.

Der Brexit-Unterhändler der EU-Kommission, Michel Barnier, will die Austrittsverhandlungen mit Großbritannien nach dem Eingang des von Brüssel im März 2017 erwarteten Austrittsgesuchs zügig voranbringen. Die Vereinbarung müsse bis Oktober 2018 geschlossen werden, betonte er, denn der Austrittsvertrag müsse ja nach der Vereinbarung auf beiden Seiten des Ärmelkanals durch sämtliche Parlamente ratifiziert werden. Dass für die komplexen Verhandlungen mit unzähligen Experten 18 Monate reichen, kann ich mir nicht vorstellen. Barnier favorisiert übrigens weder einen »harten« noch einen »weichen« Brexit. Was genau damit gemeint ist, muss sich weisen. Seine Formulierung, die Briten dürften sich in den künftigen Beziehungen zur EU »nicht nur die Rosinen herauspicken«, klingt nicht nur hausbacken, sondern im Kern nichtssagend. So klingen auch die vier Grundprinzipien, die Barnier für die Verhandlungen benannt hat: Vor dem offiziellen Austrittsgesuch gibt es keine Verhandlungen; die EU soll bei den Verhandlungen einig bleiben; Drittländer (also wohl bald auch das Vereinigte Königreich) sollen nie dieselben Rechte haben wie Mitgliedsländer; die für den Binnenmarkt geltenden vier Freiheiten sollen unantastbar bleiben. Bleibt nur der – bei Briten beliebte – Kommentar: Abwarten und Tee trinken.

In dem 2016 publizierten Roman des bedeutenden zeitgenössischen englischen Autors Ian McEwan mit dem deutschen Titel »Nussschale« finden sich die Sätze des Protagonisten (eines Fötus): »Meine unmittelbare Umgebung wird indes nicht das unbeschwerte Norwegen sein […]. Stattdessen werde ich in einem ganz und gar nicht Vereinigten Königreich leben, regiert von einer allseits verehrten, betagten Queen, in welchem der Prinz – bekannt für seinen Geschäftssinn, seine guten Werke, seine Elixiere […] und seine verfassungswidrigen Einmischungen – ungeduldig auf die Krone wartet. Dies wird meine Heimat sein, und sie wird genügen.« (A. d. Engl. von Bernhard Robben; Diogenes 2016, S. 12f.) In der Tat? Wer weiß, vielleicht wird das Neugeborene sogleich »Mayday, Mayday« schreien.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen