Donnerstag, 15. Dezember 2016

Auf der Suche nach Relevanz (I) (Jürgen Rose)


In einer zweiteiligen Serie widmet sich der Autor den sicherheitspolitischen Handlungsstrategien für die Legitimitätsbeschaffung der Bundeswehr im »Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr«.

Das neue Weißbuch – ein Berliner Allerlei
Zehn Jahre nach dem Erscheinen des letzten »Weißbuchs zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« präsentierte die Bundesregierung im Sommer dieses Jahres die Neufassung dieses sicherheitspolitischen Grundsatzdokuments. Auf knapp 140 reich bebilderten Seiten wird darin ein Überblick über die wesentlichen Parameter der Sicherheitspolitik der Berliner Republik geboten.

Die Federführung für das neue Weißbuch lag beim Bundesministerium der Verteidigung. Beteiligt waren eine Reihe weiterer Ressorts. Darüber hinaus fanden im Zuge der Erstellung zehn Workshops mit 150 sogenannten Experten sowie über 500 Gespräche mit mehr als 1500 Spezialisten und Dutzende von Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen statt, um dem Entstehungsprozess einen demokratisch-partizipativen Anstrich zu verpassen. Kaum überraschend kam dabei ein in weiten Teilen abstraktes und inhaltsarmes Konsensprodukt heraus. Wer in diesem Endprodukt konkrete Informationen, beispielsweise über Strukturen, Umfang und Finanzierung der bundesdeutschen Streitkräfte sucht, wird bitterlich enttäuscht werden. Finden werden interessierte BürgerInnen lediglich einen mitunter von Stilblüten aufgelockerten Wust von Begriffshülsen, Allgemeinplätzen, sicherheitspolitischer Phraseologie, sinnfreien Forderungskatalogen sowie appellativen Bekundungen, die den Eindruck eines Wunschkonzerts im sicherheitspolitischen Wolkenkuckucksheim erwecken. Daneben finden sich Erkenntnisse erhabener Weisheit wie zum Beispiel: »Wirkung ist entscheidend für die Auftragserfüllung« – na was denn sonst, möchte man rufen! Von unfreiwilliger Komik dagegen ist die Direktive: »Die Bundeswehr muss sich als Hochwertziel für staatliche wie nichtstaatliche Akteure und als Instrument der wirksamen Cyberverteidigung für den Umgang mit komplexen Angriffen aufstellen.« Gemeinhin lernt der Soldat das genaue Gegenteil, nämlich sich zu tarnen sowie in Deckung zu gehen, wenn er beschossen wird, anstatt sich als Ziel(scheibe) zu präsentieren.

Von derartigen Petitessen abgesehen weist das Weißbuch eine Redundanz mit ermüdender Wirkung auf. Das Ganze freilich aber in professioneller Weise PR-mäßig aufgehübscht und verpackt in einer fachchinesischen Rhetorik, die dafür sorgt, dass das Weißbuch 2016 einem nicht akademisch vorgebildeten Publikum – und letzteres bildet immer noch die überwiegende Mehrheit in unserem Lande – eher ein Buch mit sieben Siegeln bleiben wird, das ohne politik- oder sozialwissenschaftliches Studium kaum zu dechiffrieren ist. Um dies an einigen Beispielen zu illustrieren: Da ist die Rede von Resilienz, einem ursprünglich aus der Individualpsychologie stammenden Fachterminus, der über die Soziologie nunmehr in den sicherheitspolitischen Kontext eingesickert ist. So richtig erklärt und definiert wird dieser Modebegriff im Weißbuch nicht, obwohl er dort immerhin eindrucksvolle 32mal auftaucht. Ähnliche Begriffsungetüme firmieren unter »hybride Bedrohung«, »Cybersicherheit« oder »multinationaler Fähigkeitscluster«, ein Kompositum, welches zugleich auf die zahlreichen Anglizismen verweist, mit denen das verteidigungsministerielle Prachtstück durchsetzt ist. Beispiele hierfür sind: »Single Set of Forces«, »Defence Capacity Building Initiative«, »Advanced Analytics«, »Big Data«, »Diversity Management«, »Transatlantic Capability Enhancement and Training Initiative« oder »one size fits all-Logik«. Wer sich durch derlei sicherheitspolitisches Kauderwelsch überfordert fühlt, kann seine Aufmerksamkeit den vielen bunten Bildern widmen – nicht weniger als 18 ganzseitige Fotografien sowie 61 weitere Fotos unterschiedlicher Größe lockern den Text auf und nehmen dabei fast ein Drittel von »Truppen-Ursels Märchenbuch« ein. Selbstredend zeigen die sorgsam ausgewählten Bilder nicht das Geringste von der dreckigen Realität von Kriegseinsätzen. Tod und Verwundung bleiben ausgespart, und auch die stolzen Prunkstücke aus dem martialischen Waffenarsenal, wie Panzer, Kanonen oder Kampfjets, bleiben den Augen des Betrachters entzogen. Gezeigt werden fast ausschließlich uniformierte MitarbeiterInnen des Unternehmens Bundeswehr, die mit einem Lächeln im Gesicht freudig ihren patriotischen Dienst am deutschen Vaterland verrichten – geschickte Imagepflege und subtile Personalwerbung. Derlei Kommunikationstechniken oder besser: Kommunikationstricks zielen offensichtlich darauf ab, das Hochglanzprodukt aus dem Hause von der Leyen möglichst effektiv gegen potentielle Kritik zu imprägnieren und zu verschleiern, dass »der Kaiser« reichlich nackt dasteht. An dieser Stelle könnte man die Werbebroschüre der Verteidigungsministerin einfach ad acta legen und mit einer althergebrachten Bauernweisheit schließen: Auch wenn der Bauer (oder die Bäuerin) leeres Stroh drischt, donnert die Tenne – wiese die Broschüre nicht einige Aspekte auf, die als problematisch, wenn nicht sogar besorgniserregend erscheinen müssen.

Ansprüche und Widersprüche
Zum einen handelt es sich dabei um substantielle inhaltliche Widersprüche. So wird unter der Überschrift »Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung« völlig zutreffend konstatiert: »Aufrüstungsprozesse in zahlreichen Staaten und Regionen, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und die Entwicklung neuer Waffentechnologien sind wachsende Risiken für die Stabilität der regelbasierten internationalen Ordnung und die Sicherheit Deutschlands und seiner Verbündeten. Daher gewinnen Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung und Abrüstung als wichtige Instrumente des Krisenmanagements an Bedeutung.« Und weil das so ist, wird Deutschland laut Weißbuch 2016 unter anderem das Ziel verfolgen, sich für die »Stärkung und weltweite Geltung bindender Regime« wie des »nuklearen Nichtverbreitungsvertrags« einzusetzen. Das klingt löblich, weil der Internationale Gerichtshof schon in einem Rechtsgutachten aus dem Jahre 1996 geurteilt hatte, dass »die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen generell gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstoßen …, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts«. Zudem verpflichtet Artikel 6 des sogenannten Kernwaffensperrvertrages die Nuklearmächte zur vollständigen Abrüstung ihrer Atomwaffenarsenale. Der Besitz von Nuklearwaffen sowie ihr Einsatz und sogar schon die Drohung mit letzterem sind demnach völkerrechtswidrig. Angesichts dessen irritiert es, wenn im Abschnitt »Kollektive Verteidigung« des Weißbuchs ausgeführt wird: »Solange nukleare Waffen ein Mittel militärischer Auseinandersetzungen sein können, besteht die Notwendigkeit zu nuklearer Abschreckung fort … Die NATO ist weiterhin ein nukleares Bündnis. Deutschland bleibt über die nukleare Teilhabe in die Nuklearpolitik und die diesbezüglichen Planungen der Allianz eingebunden.« Hieraus folgt zwingend, dass die Bundesregierung weiterhin unbeirrt an ihrer Politik des Völkerrechtsbruchs, was die Nuklearwaffenpolitik der NATO angeht, festzuhalten gedenkt. Dies kontrastiert eigentümlich mit der im Weißbuch vielfach reklamierten Beschwörung des Völkerrechts, wo es unter dem Rubrum »Werte und sicherheitspolitische Interessen« beispielsweise heißt: »Die objektive Richtschnur für die Formulierung unserer nationalen Interessen bilden … die Bestimmungen des europäischen Rechts und des Völkerrechts, insbesondere zum Schutz universaler Menschenrechte und zur Wahrung des Friedens.« Im selben Kontext wird die »Aufrechterhaltung der regelbasierten internationalen Ordnung auf der Grundlage des Völkerrechts« zum sicherheitspolitischen Interesse der Bundesrepublik Deutschland deklariert.

Ebenfalls Anlass zu Zweifeln an der Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit der Bundesregierung gibt der Umstand, dass im Eifelstädtchen Büchel die Jagdbomberpiloten des dort stationierten Tornado-Geschwaders der Luftwaffe unter Bruch der einschlägigen völkerrechtlichen Normen die Verfahren zum Abwurf US-amerikanischer Atombomben trainieren, während gleichzeitig im Weißbuch schnörkellos reklamiert wird: »Das Völkerrecht sowie unser Grundgesetz bilden die Grundlage allen Handelns der Bundeswehr.« Beides zusammen – hier Nuklearwaffen, da Völkerrecht – geht nicht. Und ohnehin ist jenes Weißbuch-Postulat durch die mehrfache Beteiligung an und Unterstützung von Angriffskriegen, die durch die NATO oder deren Bündnisvormacht USA in der Vergangenheit angezettelt wurden, längst Lügen gestraft worden. Zu nennen sind der Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ohne jedes völkerrechtliche Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 1999, die ebenfalls völkerrechtswidrige Beteiligung an der Invasion Afghanistans durch das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr im Oktober 2001 sowie die Unterstützung des völkerrechtlichen Verbrechens gegen den Irak und seine Menschen mit Tausenden von Bundeswehrsoldaten im Jahre 2003.

Gravierende Zweifel an der Völkerrechtskonformität regierungsamtlichen Agierens muss auch der Umstand erregen, dass unter anderem Atomwaffenträgersysteme in Gestalt deutscher U-Boote in das nahöstliche Kriegsgebiet geliefert werden oder dass weltweit massenhaft Pistolen, Sturmgewehre, Maschinenpistolen und -gewehre bis hin zu Mörsern und Panzerabwehrlenkraketen sowie Kampfpanzer und modernste Artilleriegeschütze aus deutscher Produktion an Abnehmer auch in Krisen- und Kriegsgebieten verteilt werden. Als Hohn erscheint es angesichts dieser fortwährenden Praxis des Rechtsbruchs, liest man im Weißbuch, dass »die Proliferation von Kleinwaffen auf globaler Ebene bekämpft werden [soll]« und dass »[w]irksame Rüstungskontrolle, Transparenz und Vertrauensbildung sowie eine restriktive Rüstungsexportpolitik Voraussetzung, Mittel und Grundlage friedlicher Streitbeilegung und Abrüstung [bleiben]«.

Kreativ mit der Wahrheit umgegangen wird im Weißbuch auch, wenn es um essentielle Grundrechte der SoldatInnen, wie zum Beispiel die grundgesetzlich verbriefte Gewissensfreiheit geht. Hierzu kann man lesen, dass die »Bundeswehr Menschen mit festem Gewissen, Charakter und Verantwortungsbewusstsein [braucht]« und dass die Innere Führung »das unverzichtbare Fundament für individuelles und kollektives Handeln in den Streitkräften [bleibt], da sie das Gewissen jeder und jedes Einzelnen als moralische Instanz anerkennt«. In der Realität stellte sich das bislang anders dar, denn in mehreren Fällen zog das Bundesministerium der Verteidigung sämtliche juristischen Register, um gegen SoldatInnen vorzugehen, die aus Gewissensgründen die Ausführung ihnen erteilter völkerrechts- und verfassungswidriger Befehle in Zweifel gezogen oder gar verweigert hatten. Es bedurfte erst eines aufsehenerregenden höchstrichterlichen Urteils, um klarzustellen dass »[i]m Konflikt zwischen Gewissen und Rechtspflicht [zur Gehorsamsleistung] die Freiheit des Gewissens ›unverletzlich‹ [ist]«. Denn, so der 2. Wehrdienstsenat am Bundesverwaltungsgericht zu Leipzig: »Das Grundgesetz normiert ... eine Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte, nicht jedoch eine Bindung der Grundrechte an die Entscheidungen und Bedarfslagen der Streitkräfte.« Und dies gilt nicht nur im Frieden, sondern »selbst im Verteidigungsfall ist die Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte … sowie an ›Gesetz und Recht‹ … gerade nicht aufgehoben.« Ungeachtet dieser Vorgabe eines Bundesgerichts wird im Weißbuch darauf insistiert, dass »absehbar … ein Spannungsfeld bestehen [bleibt] zwischen den persönlichen demokratischen Freiheitsrechten auf der einen Seite und den soldatischen Prinzipien von Pflicht und Gehorsam auf der anderen Seite«, ohne dass hinzugefügt wird, dass jenes Spannungsfeld jedenfalls im Hinblick auf die Gewissensfreiheit kategorisch zu Gunsten des Soldaten oder der Soldatin aufzulösen ist.

Dipl.-Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr a. D. und Vorstandsmitglied der kritischen SoldatInnenvereinigung »Darmstädter Signal«.

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