Dienstag, 25. Oktober 2016

Letzte Chance für Peltier


USA: Internationale Kampagne fordert Begnadigung des seit 40 Jahren inhaftierten politischen Gefangenen

Von Michael Koch
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Leonard Peltiers Sohn Chauncey am 2. Oktober bei einem von Harry Belafonte organisierten Festival in Chattahoochee Hills

Aufruf: Kundgebung in Berlin

In den USA sind derzeit knapp 2,3 Millionen Menschen eingesperrt, weitere etwa 4,2 Millionen unterliegen staatlicher Aufsicht und haben zum Großteil keine Bürgerrechte mehr. Auffällig dabei ist, dass ein überproportional großer Teil der Gefangenen People of Color sind, darunter viele Afroamerikaner, Hispanics und Indigene. Beinahe allen Gefangenen gemeinsam ist, dass sie über keine eigenen finanziellen Mittel verfügen, um sich vor der Justiz angemessen zu verteidigen.
Ein treibender Faktor bei der Masseninhaftierung in dem »Land of the free« ist dabei der ökonomische Anreiz zur beinahe kostenlosen Abschöpfung der Arbeitskraft dieser Gefangenen in der staatlichen und privaten Gefängnisindustrie.
Die Masseninhaftierung in den USA ist in ihrem Ausmaß derzeit beispiellos und nichts anderes als Fortsetzung der Sklaverei unter anderem Namen. Innerhalb und außerhalb der Gefängnisse steigt der Widerstand gegen diese Rechtslosigkeit und gegen eine Gesellschaft, in der Menschen ohne materiellen Wohlstand versklavt werden.
In Berlin hat sich das Bündnis »Free them all« aus Gruppen und Einzelpersonen gebildet, die Kämpfe der Gefangenen und ihrer Angehörigen unterstützen wollen. Zu diesem Zweck führt »Free them all« kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen am 29. Oktober eine Kundgebung vor der US-Botschaft in Berlin durch (15 Uhr, Pariser Platz). Ein Schwerpunkt wird dabei auf dem indigenen Gefangenen Leonard Peltier sowie der generellen Lebenssituation der Native Americans in den USA liegen. Weiter geht es um die Gefängnisindustrie und die gesundheitliche Versorgung von Langzeitgefangenen am Beispiel der Nichtversorgung von an Hepatitis C Erkrankten im US-Bundesstaat Pennsylvania, unter ihnen der Journalist Mumia Abu-Jamal. Dieser hat selbst in einem Statement aus dem Gefängnis zur Teilnahme an der Kundgebung aufgerufen.
Geplant sind zudem Grußbotschaften von weiteren Gefangenen, Livemusik und Beiträge über Frauen in den Haftanstalten, Solidaritätsarbeit mit Gefangenen und aktuelle europäische Beispiele von Widerstand gegen die Gefängnisindustrie. (jW)
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Die Solidaritätsaktionen für den seit 1976 in den USA inhaftierten indianischen Aktivisten Leonard Peltier halten an. So fand im Juli ein Autokorso statt, der vor dem Hochsicherheitsgefängnis in Coleman/Florida endete, in dem Peltier inhaftiert ist. Im »Red Warrior Camp«, das Gegner der Dakota Access Pipeline errichteten (jW berichtete), wird mit Flugblättern über den Gefangenen informiert. In vielen Städten der USA finden Mahnwachen, Demonstrationen, Kundgebungen und Konzerte statt, auf denen die Forderung nach einer Begnadigung Peltiers erhoben wird. Die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Action Centre Washington informierten mit Videos über den Fall des Gefangenen. Die Musikerlegende Harry Belafonte kam mit Peltiers Sohn Chauncey zusammen. Auch diesseits des Atlantiks beteiligen sich Unterstützergruppen an der Kampagne. In Frankfurt am Main finden monatlich Mahnwachen vor dem US-Generalkonsulat statt. Konzerte und Lesungen sorgten in zahlreichen Städten für Aufmerksamkeit. Mehrere tausend Postkarten und über 10.000 Unterschriften für die Freilassung des Gefangenen wurden an das Weiße Haus übersandt. Anfang Oktober fand zudem im Deutsch-Amerikanischen Institut Heidelberg ein dreitägiges Symposium »Free Peltier – Leonard Peltier und der Kampf der Native Americans in den USA« statt.
Die Aktionen sind an Barack Obama gerichtet. Traditionell begnadigen die US-Präsidenten kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit eine Reihe von Gefangenen. Die Solidaritätsbewegung will nun erreichen, dass Obama Peltier in die Liste der Inhaftierten aufnimmt, die freigelassen werden sollen. Doch auch die Gegner einer solchen Entscheidung sind aktiv. Die Bundespolizei FBI und reaktionäre Polizeiorganisationen, rechte Politiker und Indianerhasser machen Stimmung gegen Peltier.
Der 1944 in Grand Forks, North Dakota, geborene Leonard Peltier ist ein Anishinabe-Lakota und musste bereits als Kind rassistische Anfeindungen erleben. Als Jugendlicher wurde er aufgrund seiner Anwesenheit bei einem »Sonnentanz« verfolgt, da bis Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts alle spirituellen Zeremonien der Indigenen in den USA verboten waren. Zudem wurden damals die meisten staatlichen Unterstützungsleistungen für Native Americans eingestellt. Viele Alte, Kranke und Kleinkinder verhungerten.
junge Welt stärken
Medienberichte über massive Polizeigewalt gegen indianische Fischer empörten und politisierten Peltier, der sich ab 1972 im American Indian Movement (AIM) engagierte. Dort kümmerte er sich um Erwerbslose, Alkohol- und Drogenabhängige sowie Kriminalisierte in den indianischen Großstadtghettos. Später nahm er an diversen Besetzungsaktionen teil und wurde Sicherheitschef von AIM-Mitbegründer Dennis Banks.
1975 kam Peltier aufgrund eines Hilferufs von Lakotahäuptlingen und Stammesältesten in die Pine-Ridge-Reservation (South Dakota). Dort hatte eine anhaltende Mordserie an traditionellen Lakota sowie jungen politischen Aktivisten die Einwohner alarmiert. Verantwortlich für diese Morde war der korrupte Stammespräsident Richard »Dick« Wilson, der mit den »Guardians of the Oglala Nation« (GOON) eine Todesschwadron aufgebaut hatte. Waffen, Munition und Geld kamen indirekt vom FBI und dem Bureau of Indian Affairs. In diesem Klima des Terrors rasten am 26. Juni 1975 zwei bewaffnete FBI-Agenten auf der Jagd nach einem mutmaßlichen Kleinkriminellen mit Zivilfahrzeugen in ein AIM-Camp. Es entwickelte sich ein Schusswechsel, bei dem ein junger AIM-Aktivist sowie beide FBI-Beamte getötet wurden.
Bis heute ist unklar, wie der Schusswechsel begann und wer die tödlichen Schüsse abgab. Im Rahmen eines skandalösen Verfahrens wurde Leonard Peltier verurteilt. Er ist inzwischen mehr als 40 Jahre in Haft. Der heute 72jährige leidet seit vielen Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls, Bluthochdruck, Diabetes, an dem schleichenden Verlust seiner Sehkraft und aktuell an einem Bauchaortenaneurysma, an dem er jederzeit innerlich verbluten kann.
Der bevorstehende Wechsel im Präsidentenamt ist für Peltier die möglicherweise letzte Chance, in Freiheit zu gelangen. Bereits 2000 stand er auf der Begnadigungsliste des damals scheidenden Präsidenten William Clinton, sein Name wurde aber in letzter Sekunde auf Druck des FBI gestrichen.

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