Dienstag, 25. Oktober 2016

Eine unendliche Mission

IMI-Analyse 2016/39 - in: ak (Analyse & Kritik) 620



Die Bundeswehr ist im Mittelmeer auf permanente Präsenz aus – Migrationsbekämpfung ist dafür ein willkommener Anlass

von: Jacqueline Andres | Veröffentlicht am: 25. Oktober 2016



Das Mittelmeer zählt mittlerweile zu den am intensivsten überwachten Gebieten weltweit. Zu den Überwachungsbausteinen zählen neben der Grenzschutzagentur Frontex auch das Europäische Grenzüberwachungssystem Eurosur, bei dem Drohnen, Aufklärungsgeräte, Sensoren, hochauflösende Kameras und Satellitensuchsysteme eingesetzt werden. Die Operationsräume, Infrastruktur und Logistik der Migrationsbekämpfungsmissionen und weiterer Militäroperationen überschneiden sich und teilen sich zunehmend die Aufgaben; es gibt unausgesprochene gemeinsame geopolitische Interessen. Diese erklären auch, weshalb heute noch immer Geflüchtete und Migrant_innen im Mittelmeer ertrinken müssen.
Im Jahr 2015 beschloss die Bundeswehr, mit Marineschiffen offiziell zur Seenotrettung und Bekämpfung der Schleuserstrukturen beizutragen. Seitdem beteiligt sich die Bundesmarine nicht nur an der UNIFIL-Mission vor der Küste Libanons (1) und der offiziell gegen den IS gerichteten Operation Inherent Resolve, sondern auch an drei zivil-militärischen Operationen zur Migrationseindämmung im Mittelmeer: der Operation Sophia, dem NATO-Einsatz in der Ägäis und der Operation Sea Guardian. Damit erhält die Bundeswehr gemeinsam mit Militärverbänden weiterer Staaten das Recht, den kompletten See- und Luftraum des Mittelmeers zu patrouillieren. Die Migrationskontrolle wird zum Mittel für die Durchsetzung wirtschaftlicher und geopolitischer Interessen der Großmacht Deutschland – auf Kosten Tausender Menschenleben.
Nachdem sich im April 2015 erneut große Schiffsbrüche mit hohen Opferzahlen ereigneten, schickte die Bundesregierung im darauf folgenden Monat die Fregatte »Hessen« und den Einsatzgruppenversorger »Berlin« ins Mittelmeer. Die Schiffe der deutschen Marine wurden Ende Juni in die schnell konzipierte EU-Mission European Union Naval Force Mediterranean (EUNAVFOR MED) eingegliedert. Seither beteiligt sich Deutschland mit zwei Marineschiffen und bis zu 950 Soldat_innen an der italienisch geführten EU-Mission.
Seit September 2015 heißt die Mission »Operation Sophia«; die Umbenennung geht zurück auf den Namen eines somalischen Mädchens, das an Bord der Fregatte »Schleswig-Holstein« zur Welt gekommen war. Auch wenn Regierungsvertreter_innen versuchen, dem Einsatz nach außen hin einen humanitären Anstrich zu verleihen, täuscht dies nicht darüber hinweg, dass die Kernaufgabe eine andere ist: In drei Phasen sollen die eingesetzten Schiffe, Flugzeuge und Hubschrauber zur Bekämpfung der Schleusernetzwerke und der irregulären Migration im zentralen Mittelmeer zwischen Libyen und Italien beitragen.
Ende Juni 2015 begann die erste Phase, die durchgehend Bestandteil der Mission bleibt. Die eingesetzten Militäreinheiten erstellen ein umfassendes Lagebild für die Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedsstaaten. Seit Beginn des ersten Teils der zweiten Phase im Oktober 2015 halten sie verdächtige Schiffe auf hoher See an, durchsuchen, beschlagnahmen und zerstören sie gegebenenfalls. Die zweite Stufe der zweiten Phase sieht einen Einsatz in libyschen Gewässern vor. In der dritten Phase sollen auf libyschem Territorium die Schleuserorganisationen in den Küstenstädten bekämpft werden.
Operation Sophia erhöht das Risiko für Flüchtende
84 vermeintliche Schmuggler hat die Operation seit Einsatzbeginn an die zuständigen italienischen Behörden übergeben, 255 Boote wurden beschlagnahmt oder zerstört. In Zusammenarbeit mit weiteren zivilen und militärischen Schiffen im libyschen Meer wurden mehr als 21.958 Menschen gerettet. Dennoch stellt die Operation Sophia alles andere als einen Erfolg dar. In den ersten neun Monaten des Jahres 2016 starben mehr als 3.364 Menschen beim Versuch das Mittelmeer zu überqueren und damit mehr als im gleichen Zeitraum 2015. Wie aus dem von Wikileaks veröffentlichten ersten Halbjahresbericht des Missionskommandanten Enrico Credendino hervorgeht, passten die Schmuggler ihre Geschäftsmethoden schlicht an und die Migrationswege verlagerten sich. Diese Reaktion auf die Militärpräsenz vor der libyschen Küste war vorhersehbar. Mittlerweile setzen Schlepper günstigere und unsicherere Boote ein, die sie mit weniger Benzin betanken, denn schließlich müssen die Migrant_innen theoretisch nur in internationale Gewässer kommen, um von dort an Bord der Militärschiffe bis nach Italien zu gelangen. Die verstärkte Überwachung und Militarisierung der EU-Außengrenzen macht die gefährliche Überfahrt noch riskanter.
Im Juni 2016 beschloss der Rat der Europäischen Union, der Mission zwei weitere Unterstützungsaufgaben aufzutragen. Die eingesetzten Streitkräfte sollen in drei Phasen libysche Grenzschützer und die Marine ausbilden: anfangs auf hoher See an Bord der EU-Schiffe, später an Land in einem EU-Mitgliedstaat oder in Libyen und zuletzt bei der libyschen Küstenwache. Zweitens soll die Mission das Waffenembargo gegen Libyen durchsetzen. Die zwei zusätzlichen Aufgaben verschieben den Fokus der Mission weiter von der unzureichenden Seenotrettung hin zu anderen Aufgaben, die jedoch in einem widersprüchlichen Verhältnis stehen: Einerseits sollen Streitkräfte ausgebildet und ausgestattet, andererseits soll das UN-Waffenembargo durchgesetzt werden.
In Libyen besteht eine international anerkannte Einheitsregierung, die jedoch nicht den Rückhalt aller bewaffneten Fraktionen und Milizengruppen im eigenen Territorium hat; Loyalitäten sind wechselhaft. Die Ausbildung einer Küstenwache und einer Marine ist da ein heikles Unterfangen. Das Mandat gilt vorerst bis zum 30. Juni 2017 und wird höchstwahrscheinlich verlängert werden. Da die Mission vor unerfüllbaren Aufgaben steht, wird sie sich hinziehen, und womöglich liegt in der zeitlich unbeschränkten Militärpräsenz vor Libyen angesichts dessen Ölreichtums auch der wahre Erfolg der Mission.
Seit Februar 2016 erstellen NATO-Partner ein umfassendes Lagebild der Ägäis für die griechische und türkische Küstenwache sowie für die europäische Grenzschutzagentur Frontex, offiziell um effektiver gegen Schleuser vorgehen zu können. Für die Antragsstellung dieser NATO-Operation konnte Deutschland die Türkei und Griechenland gewinnen. Aus der Türkei kommende gerettete Migrant_innen sollen grundsätzlich den türkischen Behörden übergeben werden – nur falls es sich um türkische Staatsangehörige handle, werde eine Einzelfallprüfung gemacht. Ein solches Vorgehen muss de facto als eine rechtswidrige Push-Back-Operation eingestuft werden.
Die in die Mission eingebundenen griechischen Häfen sind Souda Bay, Piräus, Volos und Thessaloniki, während die türkischen Häfen in der nördlichen, an den Dardanellen gelegenen Stadt Canakkale, in Izmir und im südlichen Aksaz liegen. Damit umschließt das kontrollierte Seegebiet auch das wichtigste Zugangstor Russlands zum Mittelmeer. Vom Schwarzen Meer aus kann die russische Marine durch die Meerenge am Bosporus und an den Dardanellen seinen letzten Mittelmeerhafen in der syrischen Stadt Tartus erreichen. Das erklärt vielleicht auch die US-Beteiligung an der Mission, die seit Juni 2016 mit einem Schiff der Safeguard-Klasse präsent sind, obwohl sie sich recht wenig für die Sicherung der europäischen Außengrenzen interessieren dürften. Eine verstärkte Präsenz in dieser Region ist im Kontext der wachsenden Spannungen mit Russland als klare Machtdemonstration zu werten. Zudem stellt die ausgeweitete Militärpräsenz ein mögliches materielles Rückgriffpolster für NATO-Operationen im arabischen Osten dar.
Antiterroroperation nimmt Schleuser ins Visier
Im Oktober 2016 löst die maritime NATO-Sicherheitsoperation Sea Guardian die seit 2001 andauernde Antiterror-Operation Active Endeavour ab. Ein neues Aufgabenfeld beschloss die NATO auf ihrem Gipfel im Juli 2016 in Warschau. Sea Guardian umfasst neben der Terrorbekämpfung jetzt auch die Schleuserbekämpfung im gesamten See- und Luftraum von der Straße Gibraltars im äußersten Westen bis ans östliche Ende des Mittelmeers. Die Operation soll als Scharnier zwischen dem NATO-Einsatz in der Ägäis und der Operation Sophia fungieren. In Kooperation mit den erwähnten Missionen soll eine umfassende See- und Luftraumüberwachung erfolgen. Die Bundeswehr unterstützt die Mission mit bis zu 650 bewaffneten Soldat_innen und trägt dafür Personal- und Beschaffungskosten von 2,6 Millionen Euro für das Jahr 2016 und von 10,5 Millionen Euro für 2017. In den letzten Jahren wurde die Mandatsverlängerung der Operation Active Endeavour zumindest für die Bundesregierung schwieriger und musste zwangsläufig geändert oder eingestellt werden. Die Mandatsänderung ist die logische Konsequenz der Entwicklung der letzten Jahre.
Zunehmend verzahnt sich die NATO mit der EU und wird damit immer mehr zum festen Baustein der EU-Migrationsbekämpfung. Einen weiteren Beitrag zu dieser Verzahnung leistet das im kommenden Jahr in Betrieb gehende Alliance Ground Surveillance (AGS) System der NATO. Mobile Bodenstationen und fünf Global-Hawk-Drohnen kommen dann auch bei der Überwachung der EU-Außengrenzen zum Einsatz.
In dem Faltblatt »Unsere Marine hilft Menschen in Not« betont die Bundeswehr, Deutschland habe im April 2015 unverzüglich Schiffe der Marine geschickt, um die ertrinkenden Flüchtlinge zu retten. Auf der Rückseite des Faltblatts schlägt das Presse- und Informationszentrum des Marinekommandos ehrlichere Töne an: »Unser Wohlstand hängt wesentlich vom Handel über die Weltmeere ab. Der Handel über die Weltmeere erfordert sichere Seewege. Eine starke Marine schützt diese Seewege«. Eine permanente Präsenz der Bundeswehr im Mittelmeer ist im geopolitischen und wirtschaftlichen Interesse der deutschen Außenpolitik.
Selbst wenn die Bundeswehr, wie sie behauptet, in den vergangenen Monaten mehr als 17.972 Menschen aus Seenot gerettet haben sollte, geht das Sterben im Mittelmeer weiter; es wird auch durch die weiteren Militärmissionen nicht gestoppt werden, weil der politische Wille dazu fehlt.
Ihre Rolle bei der Migrationsbekämpfung verklärt die Bundeswehr und lenkt damit auch von der Grenzvorverlagerung ab, die nur durch erpresserische Entwicklungshilfe und kostspielige Ausstattungshilfen möglich wurde. Es sind nicht die Schmuggler, die Migrant_innen in die unsicheren Schlauchboote locken, sondern die Folgen von Freihandelsabkommen, Waffenexporten und Kriegseinsätzen. Die Kosten dieser Politik tragen wie immer die Schutzsuchenden. Eine radikale Forderung gegen die tödliche EU-Migrationspolitik beinhaltet das Recht auf Bewegungsfreiheit aller Menschen: Fähren statt Frontex, Fähren statt Kriegsschiffe.
Anmerkung:
1) Die Interimstruppe der Vereinten Nationen im Libanon (UNIFIL) ist eine UN-Beobachtermission vor der Küste des Libanon, die den Waffenschmuggel unterbinden soll. Das Mandat für die Beteiligung an der Mission wurde zuletzt im Juni 2016 um ein Jahr verlängert.

Dieser Text erschien zunächst innerhalb des Schwerpunkts „Länder Menschen Abenteuer – Wie militärische Mittel zur politischen Normalität gemacht werden“ der Ausgabe 620 der Zeitung ak (Analyse&Kritik), siehe: https://www.akweb.de/

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