Donnerstag, 22. September 2016

Lernort Aula. Eine Erwiderung (Erhard Weinholz)


Kaum ein anderes Buch eines heimischen Autors ist vom DDR-Lesepublikum, mich eingeschlossen, so begeistert aufgenommen worden wie Mitte der sechziger Jahre »Die Aula«: Man bejubelte Wortgewandtheit, ein fast schon barockes Fabuliervermögen, den heiter-ironischen Umgang mit der Geschichte. Das Buch wurde, was die Auflagenhöhe betrifft, Hermann Kants größter Erfolg.

Unlängst habe ich mich ein zweites Mal an die Aula gesetzt; ich suchte jene Stelle, da Trullesand sich über einstige ABFler mokiert, die mit ihm nun statt eines guten proletarischen Schlucks Bier ein Glas Wein trinken gehen wollten. Doch diesmal empfand ich den Text als schwer zu ertragendes Wortgeprassel. Beim ersten Lesen hatte ich nach dem Zweck der Schreibweise nicht gefragt, jetzt tat ich es. Sie war, so schien mir, nicht zuletzt als Kampfmittel gedacht. Zwar hielten der Autor und seine Hauptfiguren sich einiges auf ihre Herkunft zugute und schauten – meist eher belustigt als verächtlich – auf das Bürgertum herab, aber vom Bürgerlichen als Maßstab kamen sie nicht los. Im Siebenjahrplan 1958 bis 1965 wollte die DDR die BRD in wichtigen Kennziffern des Konsums überholen; Kants Buch kann man als kulturelles Pendant zu diesem Planziel sehen, als Versuch, die bürgerlichen Schönschreibkünstler auf eigenem Feld zu überbieten. Ums Überbieten geht es ja auch in einer zentralen Szene im Roman selbst, jener, in der Quasi Riek im sprachlichen Klassenkampf über die Bürger triumphiert. Das Verhältnis zum Bürgerlichen, das Kant hier vorführt, war typisch für die DDR. Das Problematische daran blieb unausgesprochen. Auch darin trafen sich Kant und sein Staatswesen.

Beides, DDR-typisch und problematisch, ist auch Kants Umgang mit der Geschichte in diesem Buch. In den frühen Fünfzigern hatte er die ABF absolviert – es war die Zeit des Kampfes gegen Titoismus, Formalismus und Kosmopolitismus, die Zeit des Noël-Field-Wahns. Doch solche Hässlichkeiten bezog Kant nicht einmal rechtfertigend ein, von Kritik daran ganz zu schweigen – Geschichtsfälschung per Weichzeichner könnte man das nennen. Heinz Czechowski bemerkte denn auch schon damals, diesem Versuch einer Aufarbeitung fehle die letzte Konsequenz, es werde mitunter vergessen, dass die Widersprüche tiefer, die Anstrengungen ernster waren, als es nach Lektüre der »Aula« scheine. Gerade das aber, dieses heitere Abschiednehmen, bei dem man gern die Opfer vergaß, die ins Zuchthaus oder ohne Wiederkehr nach Moskau verschwunden waren, gerade das hat mit Sicherheit erheblich zum Erfolg des Buches beigetragen.

Harald Kretzschmar nennt in seinem Nachruf in Ossietzky 17/2016 Kants Werke literarische Zeugnisse zu historisch bedeutsamen Fakten. Das ist »Die Aula« wohl – aber in einem anderen Sinne, als er meint: Sie zeugt, ungewollt natürlich, von gesellschaftlichen Defiziten in der DDR. Von solch einem Defizit spricht, ohne es zu merken, auch Kretzschmar selbst, wenn er klagend fragt, ob da ein Funken von Bewusstsein dafür sei, dass Literatur für uns in diesem Land einstmals wesentlich war. Denn diese Rolle der Literatur war zum beträchtlichen Teil eine Folge dessen, dass wichtige Lebensprobleme in den DDR-Medien nicht mehr diskutiert werden durften. Der Zustand konnte nicht von Dauer sein.

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