Donnerstag, 22. September 2016

Der Staat im Kapitalismus


Über die Staatstheorie von Nicos Poulantzas. Der Politologe und Philosoph wäre heute 80 Jahre alt geworden

Von Ingar Solty
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Proteste gegen die Arbeitsmarkt-»Reform« der französischen Regierung im September 2016 in Paris. Nicos Poulantzas (21.9.1936–3.10.1979) war im Anschluss an Antonio Gramsci der Überzeugung: Will die Linke den Kapitalismus überwinden, muss sie vor der Regierungsmacht die gesellschaftliche Hegemonie erkämpfen
Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt am 16. Juli 2016 über den US-amerikanischen Schriftstellers Tony Kushner.
Heute jährt sich die Geburt des bekanntesten marxistischen Staatstheoretikers des 20. Jahrhunderts, Nicos Poulantzas, zum 80. Mal. Am 3. Oktober 1979 nahm er sich, gerade einmal 43 Jahre alt, das Leben. Zwei Jahre zuvor war sein Hauptwerk »L’État, le Pouvoir, le Socialisme« (»Der Staat, die Macht, der Sozialismus«) erschienen. 2002 wurde es unter dem Titel »Staatstheorie: Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus« neu aufgelegt und erfreut sich in linken Lesekreisen seitdem großer Beliebtheit.Poulantzas’ früher Tod bedeutete, dass sein Werk im Grunde genommen am Vorabend des Neoliberalismus endete und seine Staatstheorie nicht von ihm selbst im Sinne konkreter Staatsformanalysen weiterentwickelt werden konnte. Dies hat aber seiner Rezeption keinen Abbruch getan; im Gegenteil, fußen auf seinen Überlegungen doch etwa die Arbeiten von zahlreichen zeitgenössischen Staatsdenkern wie Bob Jessop, Joachim Hirsch oder Ulrich Brand.

Marxismus und Staat

Nicos Poulantzas sah seine Arbeit in der Tradition des Marxschen »Kapital«-Projekts. Karl Marx hatte dieses ursprünglich auf sechs Bände angelegt. Zu Lebzeiten publizierte er 1867 jedoch bekanntlich nur den ersten. Der zweite Band wurde 1885, zwei Jahre nach Marx’ Tod, von Friedrich Engels bearbeitet, herausgegeben, und der dritte, 1894 erschienene, auf Grundlage von Marx’ fragmentarischen Notizen wiederum durch Engels zusammengestellt. Später galten dann vielen die zwischen 1905 und 1910 in drei Teilbänden veröffentlichten »Theorien über den Mehrwert« als der vierte Band des Kapitals. Die Bände vier bis sechs, die nach Marx’ ursprünglichem Plan vom April 1858 den Staat, den internationalen Handel und den Weltmarkt behandeln sollten, blieben uneingelöst.
Schon Rudolf Hilferdings Buch »Das Finanzkapital« von 1910 und Rosa Luxemburgs 1913 erschienene Schrift »Die Akkumulation des Kapitals« hatten den Anspruch erhoben, das Marxsche Werk fortzuführen. Luxemburg entwickelte ihre Imperialismustheorie aus den Reproduk­tionskreisläufen des Kapitals und schuf damit eine Theorie des Kapitalismus als Weltsystem. Eine marxistische Theorie des Staates blieb jedoch ein offenes Projekt. Gerade Luxemburgs Theorie mit ihrer Annahme, dass der Kapitalismus stets ein nichtkapitalistisches Außen zur Landnahme erfordere, erwies sich als mangelhaft. Und im Hinblick auf die Staatstheorie im engeren Sinne existierten zwar Vorarbeiten wie Lenins »Staat und Revolution« von 1918 oder das 1929 erstmals auf Deutsch veröffentlichte Werk »Allgemeine Rechtslehre und Marxismus: Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe« des sowjetischen Rechtsphilosophen Eugen Paschukanis sowie die Arbeiten des deutsch-amerikanischen Politologen Franz Neumann über den bürgerlichen Staat. Lenins »Staat und Revolution« war als allgemeine Theorie des Staates (und seiner Funktion) im Kapitalismus jedoch nicht hinreichend, weil er zum einen den Staat als ein reines »Werkzeug zur Ausbeutung der unterdrückten Klasse« definierte, und weil er zum anderen seinen Schwerpunkt nicht auf die Analyse des Staates im Kapitalismus, sondern auf den bolschewistisch-revolutionären Prozess legte, an dessen Ende bekanntlich das »Absterben des Staates« erfolgen sollte. Darüber hinaus glaubte Lenin, dass die bürgerliche Demokratie die natürliche »Hülle« des entwickelten Kapitalismus sei, weil sie Unzufriedenheit und Protest einbinde und diesen durch (mehr oder weniger folgenlose) Wahlen stabilisiere. Die bis dato größte Systemkrise des Kapitalismus – die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre – und in deren Folge der Aufstieg faschistischer Bewegungen sowie die Ersetzung bürgerlich-liberaler Demokratien durch faschistische und autoritäre Regimes überall außerhalb von Großbritannien und den USA ließ aber diese Auffassung fragwürdig werden. In den Analysen von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno vom Frankfurter Institut für Sozialforschung kippte dies wiederum in die entgegengesetzte Richtung: Sie gingen von der Annahme aus, der Faschismus sei die komplementäre Staatsform zum »Spätkapitalismus«. Der Faschismus blieb jedoch nicht die alleinige Antwort auf die Systemkrise der 30er Jahre, sondern der Kapitalismus offenbarte in den USA mit dem »New Deal« – einem Ausbau von Demokratie und Sozialstaatlichkeit und der Entstehung eines neuen staatsinterventionistischen Wohlfahrtskapitalismus – eine spezifische Wandlungsfähigkeit. Und die Tatsache, dass der keynesianisch regulierte, fordistische Kapitalismus mit dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition nach 1945 und unter den Bedingungen der Rekonstruktion des Kapitalismus durch das amerikanische Imperium in der »Grand Area« des »Westens« internationalisiert wurde, war erklärungsbedürftig. Das Phänomen Staat war zu durchdenken, um zu begreifen, warum der Kapitalismus offenbar sowohl mit autoritären wie auch (bürgerlich-)demokratischen Staatsformen kompatibel war und warum es zum »New Deal« kommen konnte.

Stabilität der Kapitalherrschaft

Kurzum, die Stabilität der Kapitalherrschaft im entwickelten Kapitalismus (manifestiert im Scheitern der bolschewistischen Revolution im Westen) einerseits und die (im New Deal verkörperte) Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus in seiner bis dato größten, systemischen Krise, der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre, andererseits offenbarten die Notwendigkeit einer grundlegenderen und zugleich komplexeren Theorie des Staates im Kapitalismus.
Der Theoretiker des Scheiterns der Revolution im Westen war Antonio Gramsci. Dessen Hegemonietheorie untersuchte die Art und Weise, wie der Staat durch die Einbindung von Teilen der Beherrschten auch unter Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts die Herrschaft der kapitalistischen Klasse – immerhin einer kleinen Minderheit – absichere. Insofern Gramsci eine Theorie der Revolution im »Westen« zu entwickeln beabsichtigte, kann er als derjenige gelten, der die erste, eigentliche politische Theorie im Rahmen des marxistischen Denkens entwickelte. Gramscis in der faschistischen Kerkerhaft entstandene Überlegungen zum Staat blieben allerdings nicht nur teilweise kursorisch, sondern die Rezeption seiner Ideen setzte außerhalb von Italien faktisch erst in den späten 60er und 70er Jahren ein. So war die neue Gramsci-Rezeption zugleich eine wichtige Inspirationsquelle für die zeitgleiche marxistische Staatsdebatte im Westen, die versuchte, die theoretische Lücke im marxistischen Denken zu füllen. Poulantzas spielte hier eine zentrale Rolle. Auch wenn er in vielen seiner Prognosen – etwa über die zunehmende Einverleibung weiterer Teile der Ökonomie durch den Staat – falsch lag, ist seine »Staatstheorie« bis heute wohl die im marxistischen Denken einflussreichste.
Was ist also für Poulantzas der Staat? Um diese Frage beantworten zu können, ist es entscheidend, den Entstehungskontext seiner Staatstheorie näher in den Blick zu nehmen. Poulantzas wollte keine allgemeine Theorie des Staates entwerfen, sondern eine des Staates im Kapitalismus. Dazu gehört auch die notwendige Unterscheidung von Staatsformen in seinem Werk, wie seine Arbeiten über den historischen Faschismus (»Faschismus und Diktatur«, 1970/1973) und die südeuropäischen Diktaturen Griechenland, Portugal und Spanien (»Die Krise der Diktaturen«, 1975/1977) belegen.

Struktur vs. Geschichte

Diese Orientierung an der konkreten Historie war dabei nicht selbstverständlich. Denn ursprünglich stand Poulantzas unter dem Einfluss des marxistischen Strukturalismus von Louis Althusser. Dieser hatte in seinem 1968 verfassten und 1970 publizierten Essay »Ideologie und ideologische Staatsapparate« den Staat – kaum systematisch – als die Kombination aus »repressiven« und »ideologischen Staatsapparaten« definiert. Dabei lag der Schwerpunkt seiner Analyse auf der besonderen Stabilität des Kapitalismus. Hierfür sah er die »ideologischen Staatsapparate« als entscheidend an; sie seien dafür verantwortlich, dass die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen den Kapitalismus nicht abschafften, obwohl sie doch potentiell die Mehrheit der Bevölkerung bildeten. Zu ihnen zählte Althusser nicht nur die Schulen, Universitäten und Kirchen, sondern auch und ganz generell die Gewerkschaften, d. h. die (formellen) Klassenorganisationen der Arbeiterklasse.
LPG Genossenschaft
Althusser stand mit dem Fokus auf der Stabilität des Kapitalismus nicht alleine. In jener Zeit fehlinterpretierten viele westlich-marxistische Denker die Spezifik des keynesianisch regulierten, fordistischen Kapitalismus allgemein als mehr oder weniger unhintergehbaren »Spätkapitalismus«. Dass im Neoliberalismus selbst in den kapitalistischen Kernstaaten später eine zivilisatorische Errungenschaft der Arbeiterbewegung nach der anderen infrage gestellt wurde, schien in diesen Analysen kaum vorstellbar. Entsprechend orientierten sich viele westliche Marxisten an Ansätzen, die diese Stabilität zu erklären halfen und wandten sich der »Kultur« zu. Dies galt für so unterschiedliche westlich-(neo)marxistische Ansätze wie die »Erste Neue Linke« und die »Cultural Studies« von Stuart Hall, die Frankfurter Schule mit ihren Studien zur »Konsumgesellschaft« und »Kulturindustrie« (Theodor W. Adorno) oder zum »Eindimensionalen Menschen« (Herbert Marcuse), aber auch für nichtmarxistische, linksradikale Ansätze wie den von Michel Foucault mit seiner Fokussierung auf Mikromachtverhältnisse. Die grundlegende Haltung dahinter war die Annahme einer (vollständigen) Integration der Arbeiterklasse und ihres Verlusts als revolutionäres Subjekt – und entsprechend die Suche nach alternativen (Randgruppen, identitätspolitischen/neusozialbewegten etc.) Subjekten der Revolution.
Die plötzliche, neue Arbeitermilitanz – manifestiert etwa in den wilden Streiks von 1967/1968 – führte jedoch im westlichen Marxismus zu einer neuen Orientierung weg vom Strukturalismus und hin zu (klassen-)konfliktorientierten Handlungstheorien. Dazu gehörte auch die Erstveröffentlichung von Marx’ »Grundrissen«, der Schriften Gramscis sowie von Bertolt Brechts philosophischem »Me-ti: Buch der Wandlungen«. In diesen Handlungstheorien spiegelte sich natürlich nicht allein der Wunsch, die Gesellschaft zu verändern, sondern eben auch die Wahrnehmung, dass die Herrschaft im Kapitalismus doch weniger stabil war.
Im historischen Rückblick war dies zweifellos ein Fortschritt. Aber diese Generation handlungsorientierter Linker vernachlässigte zunehmend die Strukturanalyse des Kapitalismus. Postmarxistische Theoretiker wie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe konzentrierten sich am Ende nur noch auf die Bereiche Politik/Staat und Ideologie/Diskurs, was zur Folge hatte, dass sie und vor allem ihre unzähligen Schülerinnen und Schüler zu Beginn der Krise von 2007 wie der Ochs vorm Berg standen, weil bei ihnen die Strukturanalyse des Kapitalismus und seiner Tendenzgesetze, d. h. die politische Ökonomie und ihre Kritik sowie die konkrete Klassenanalyse, aus dem Blickfeld geraten war.
An Poulantzas scheiden sich denn entsprechend auch heute die Geister: Die marxistische Theoretikerin Ellen Meiksins Wood hat in ihrem 1986 erstveröffentlichten Werk »The Retreat from Class« Poulantzas selbst in die Reihe der postmarxistischen Denker gestellt, die sich irgendwann von der Klassenanalyse abgewandt hätten, weil – so Woods Vorwurf – Poulantzas sich durch seinen engen Klassen- und weiten Kleinbürgertumsbegriff auf den Pfad eines (letztlich idealistischen) Linksreformismus begeben habe.

Verdichtetes Kräfteverhältnis

Welche Funktion hat nach Poulantzas der Staat im Kapitalismus? Und wie hilft dessen Staatstheorie historische Konstellationen wie den »New Deal« zu erklären, die ja nicht nur – analytisch – die Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus unterstreichen, sondern die revolutionäre Linke in den kapitalistischen Kernstaaten auch vor besondere strategische Herausforderungen stellen?
Poulantzas nimmt an, dass es die Funktion des Staates im Kapitalismus ist, diese grundsätzlich krisenhafte Produktionsweise institutionell zu managen. Er ist auf der Grundlage historischer Erfahrung der Überzeugung, dass es keinen selbstregulierten Markt gibt und der kapitalistische Markt nicht zum Gleichgewicht tendiert. Der Staat hat also die Funktion, die Widersprüche des Kapitalismus unter Kontrolle zu halten. Damit wird der Staat selber zum prozessierenden Widerspruch. Zu seinen spezifischen Aufgaben hinsichtlich seiner Reproduktionsfunktion für das Gesamtsystem zählen dabei – je nach historischer Situation und Klassenkampfkonjunktur – nicht nur die polizeiliche Überwachung und Durchsetzung des bürgerlichen (Klassen-)Rechts, sondern auch die Erziehung und Ausbildung von zukünftigen Arbeitskräften, die Übernahme ökonomischer Funktionen in nicht oder noch nicht profitträchtigen Bereichen, die Konstituierung des Volkes als »Nation«, die Organisation von nationalen Wachstums- und Wettbewerbsmodellen beruhend auf spezifischen Arrangements zwischen den verschiedenen Kapitalfraktionen und Teilen der beherrschten Klassen sowie schließlich die Organisierung und Gewährleistung der grenzüberschreitenden Internationalisierung des Kapitals, notfalls mit militärischen Mitteln. Kurzum, nach Poulantzas besteht die Aufgabe des Staates wesentlich darin, die Einzelkapitalien und Kapitalfraktionen als herrschende Klasse in einem kohärenten »Machtblock« zu organisieren, der ein spezifisches Projekt (etwa das exportorientierte Wachstumsmodell Deutschland) verfolgt. Die Spezifik dieses Machtblocks ist dabei von den Konjunkturen des Klassenkampfes abhängig, weshalb Poulantzas den Staat im Kapitalismus auch als »Verdichtung eines Kräfteverhältnisses der Klassen« definiert.
Zugleich geht Poulantzas davon aus, dass die Aufgabe des Staates nicht nur in der Organisierung der herrschenden Klasse, sondern auch in der Desorganisierung der beherrschten Klassen besteht. Hieraus folgt die wichtige Schlussfolgerung, der Normalzustand der Arbeiterklasse sei einer der Fragmentierung, der Heterogenität und der Vereinzelung. Schulen und Universitäten hätten etwa die Funktion, mit Selektionsverfahren wie Benotungen und Zugangsbeschränkungen sowie durch die Schaffung eines bürgerlichen (Klassen-)Rechts mit strafjustiziellem Apparat die Mitglieder einer Klasse zu individualisieren und zugleich als Staatsbürger (»Volk als Nation«) wieder zusammenzusetzen. Sozialistische Praxis müsse dementsprechend diesem »Vereinzelungseffekt« durch Klassenformierung entgegenwirken.

Relative Autonomie

Für die Erklärung historischer Sonderkonstellationen wie des »New Deal« ist für Poulantzas deshalb entscheidend, dass der Staat im Kapitalismus durch eine »relative Autonomie« gekennzeichnet ist. Hier beginnt jedoch bereits die Problematik. Heißt »relativ« nur »teilweise« oder muss »relativ« im Sinne eines Verhältnisses zur – in Kapitalverbänden – organisierten kapitalistischen Klasse verstanden werden? Tatsache ist, dass gerade Poulantzas’ »Staatstheorie«, die heute als sein Hauptwerk gilt, in einer recht esoterischen Sprache geschrieben ist, die beide Interpretation möglich macht. Der Autor muss sich daher durchaus den Vorwurf gefallen lassen, er habe mit seiner Sprache dem politizistischen Postmarxismus den Weg geebnet. Denn: War das ursprüngliche Ziel der marxistischen Staatstheorie gerade die Kritik am bürgerlich-liberalen Staatsverständnis, das von der Autonomie des Staates gegenüber der Gesellschaft/Wirtschaft ausgeht, so beschrieben manche Theoretiker am Ende letztlich einen »Full Circle« und landeten wieder bei der nicht relativen, sondern absoluten Staatsautonomie.
Für Poulantzas kann dagegen der Staat im Kapitalismus grundsätzlich keine Verkörperung des »allgemeinen Willens« sein, wie bei Jean-Jacques Rousseau, und auch nicht, wie bei Hegel, die »Wirklichkeit der sittlichen Idee«. Außerdem unterscheidet sich seine Staatsdefinition als »Verdichtung eines Kräfteverhältnisses« fundamental von den liberal-pluralistischen Vorstellungen, denen zufolge der unabhängige Staat lediglich Gefahr läuft, unter die Kontrolle von partikularen Interessen (Kapital) und damit zur »Plutokratie« und »Oligarchenherrschaft« zu geraten. Nach Poulantzas ist es sogar nahezu vollkommen irrelevant, aus welcher Klasse die Führungskader des bürgerlichen Staates stammen, wie er in einer Kontroverse gegen den britischen Staatstheoretiker Ralph Miliband argumentierte. Der Grund, warum auch linke Parteien in Regierungsverantwortung oft rechte, prokapitalistische Politik machen, sei eben nicht die Folge der Klassenherkunft dieser Politiker oder ihrer (Entscheidungs-)Beeinflussung durch Kapitalisten. Das Problem des Staates im Kapitalismus sei nicht, dass die kapitalistische Klasse den Staat »kolonisiere« (etwa durch Lobbyistentätigkeit oder offene Korruption). Der Staat im Kapitalismus werde nicht auf diesem Wege zum spezifisch kapitalistischen Staat, sondern er sei seinem Wesen nach kapitalistisch.
Diese Auffassung beruht dabei auf der Erkenntnis, dass die Übernahme einer Regierung noch längst nicht die Übernahme der wirklichen Macht in der Gesellschaft bedeute. Diesen Gedanken Gramscis, dass die Herrschaft der Bourgeoisie auf ihrer Hegemonie (in der Zivilgesellschaft) beruht, entwickelten Poulantzas und an ihm orientierte Denker weiter. Das Problem bestehe eben nicht nur darin, dass die politische Klasse, die auch als ständige Bürokratie im Staat präsent ist, im Regelfall ein bestehendes System nicht überwinden will, sondern es nach seinen eigenen Regeln zu optimieren trachtet. Es bestehe darüber hinaus wesentlich darin, dass der Staat im Kapitalismus unter Normalbedingungen tendenziell gezwungen sei, dem Kapital ein »investitionsfreundliches Klima« zu schaffen. Denn das Kapital verfüge insbesondere über zwei elementare, strukturale Machtformen: die Kapitalmobilität und den Investitionsstreik. Die Idee dahinter: Sorgt der Staat nicht für ein gutes Investitionsklima und »flieht« das Kapital, solange es das kann, ins Ausland oder investiert (aufgrund mangelnder Profiterwartungen) nicht, dann gerät der Staat, dessen Praxis – von der Infrastrukturerhaltung bis zur Daseinsvorsorge – zumeist großteils über Staatsanleihen bei globalen Kapitalinvestoren schuldenfinanziert ist, in eine tiefe Krise. Und insofern die Kapitaleigner nicht abgewählt werden können, bedeutet dies mittelfristig Regierungsmachtverlust durch Abwahl.

Zivilgesellschaftliche Gegenmacht

Vor diesem Hintergrund etwa ließe sich mit Poulantzas beispielhaft durchaus auch die Syriza-Problematik analysieren: Innerhalb der EU wurde die griechische Linksregierung mittels der Kreditbedingungen seitens der EZB in die Knie gezwungen; ein »Grexit«, für den sie allerdings nicht gewählt worden war (sondern für die in der EU inkompatiblen Forderungen: Beendigung der Austeritätspolitik bei gleichzeitigem Verbleib im Euroraum), hätte faktisch eine politische Situa­tion vorausgesetzt, in der die Volksmassen auf die mit einem »Grexit« verbundenen Konsequenzen vorbereitet gewesen wären. So hätte die Linksregierung etwa bereit sein müssen, direkt nach ihrem Antritt Kapitalverkehrskontrollen einzuführen, um Kapitalflucht zu verhindern. In der EU hätte dies allerdings einen Bruch mit den Primärverträgen und somit voraussichtlich den »Grexit« bedeutet. Die Abwertung einer neuen und chaotisch eingeführten Währung hätte jedoch wiederum die im Zuge des Austeritätsdiktats durch die Troika bereits geschaffene humanitäre Krise zunächst noch einmal verschärft, insofern sich lebensnotwendige Importe – von Lebensmitteln bis zu Medikamenten – massiv verteuert hätten. Mit anderen Worten: Die Bevölkerung hätte – unter den ohnehin schon katastrophalen Bedingungen – eine kurze Zeit eine deutliche Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse in Kauf nehmen müssen. Aber nur in einer wirklich revolutionären Situation mit entsprechendem Massenbewusstsein hätte sich eine linke Regierung dies erlauben können, ohne die Regierungsmacht – auf dem einen oder anderen Wege – zu verlieren.
Für Poulantzas war offensichtlich, dass der kapitalistische Staat nicht ohne weiteres aus einem Werkzeug des Kapitals in ein Werkzeug der lohnabhängigen Volksmassen verwandelt werden kann. Denn die Macht im Kapitalismus liegt jenseits des Staats im engeren Sinne. Es bedürfe also einer Strategie, die das Ziel verfolgt, die Gegenmacht in der Zivilgesellschaft bereits vor der Regierungsübernahme zu konstituieren. In diesem Sinne verfolgte Poulantzas zum Ende seines Lebens die Strategie einer Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus, und das Vehikel hierfür war für ihn – der sich zunehmend dem Eurokommunismus annäherte – schließlich die französische »Linksunion«. Zu einer Einschätzung des »französischen Experiments« der 1981 unter Präsident Mitterand an die Macht gekommenen Linksregierung konnte er allerdings nicht mehr gelangen.

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