Dienstag, 22. Dezember 2015

Jäger und Gejagter – Flug MH17 (1) (Jürgen Rose)


Während des Kalten Krieges diente ich als Oberleutnant der Bundesluftwaffe in der Funktion eines Feuerleitoffiziers einer Flugabwehrraketen(FlaRak)batterie vom Typ HAWK. Die US-amerikanische Rüstungsfirma Raytheon hatte dieses Waffensystem zur bodengebundenen Luftverteidigung gegen Flugziele im niedrigen und mittleren Höhenbereich produziert. Es wurde im NATO-Verbund entlang der innerdeutschen Grenze in Gestalt eines sogenannten FlaRak-Gürtels von Dänemark bis an die Grenze Österreichs zur Verteidigung des Luftraums über der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt. Bereits in Friedenszeiten herrschte rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr eine ununterbrochene Feuerbereitschaft, waren die FlaRak-Verbände als »NATO Command Force« einsatztechnisch direkt dem Befehl der zuständigen NATO-Hauptquartiere unterstellt. Auf diese Weise stellte das Bündnis sicher, dass innerhalb weniger Minuten (!) eine Flugabwehrrakete auf ein angreifendes Kampfflugzeug abgefeuert werden konnte. Um meinen vollständigen Einsatzbereitschaftsstatus »Full Combat Ready« zu erhalten, habe ich selbst im Sommer 1985 erfolgreich eine scharfe Flugabwehrrakete HAWK auf dem NATO-Raketenschießplatz NAMFI auf eine Zieldrohne verschossen – Kostenpunkt des Lenkflugkörpers (LFK) damals rund 200.000 US-Dollar.
Vor diesem Hintergrund löst die teilweise erregt geführte Debatte um den Abschuss des malaysischen Airliners im Luftraum der Ukraine bei mir Irritationen aus. Unbestritten erscheint zunächst, dass das Flugzeug auf einer Flughöhe von etwa 10.000 Metern nicht einfach auseinandergebrochen und vom Himmel gefallen ist, sondern dass dies aufgrund massiver physischer Gewalteinwirkung geschehen sein muss. Ähnliches hat sich in der jüngeren Vergangenheit immer mal wieder ereignet, zum Beispiel beim Bombenattentat auf den Jumbo-Jet der PanAm über dem schottischen Lockerbie, dem Abschuss eines iranischen Verkehrsflugzeuges durch den US-amerikanischen Lenkwaffenkreuzer Vincennes über dem Persischen Golf, dem Abschuss von Flug KAL007 der südkoreanischen Korean Air Lines durch einen sowjetischen Abfangjäger über Kamtschatka oder jüngst über dem Sinai, als eine Bombe einen Airbus der russischen Kolavia vom Himmel sprengte.

Was im Falle des Fluges MH17 mitunter in Zweifel gezogen wird, ist der Befund der niederländischen Untersuchungskommission, dass die Maschine mittels einer Flugabwehrrakete des russischen FlaRak-Systems Buk M1, NATO-Code SA-11 Gadfly, abgeschossen wurde. Hartnäckig hält sich demgegenüber die These, ein ukrainisches Kampfflugzeug habe die Boeing 777 vom Himmel geholt. Tatsächlich war mindestens ein Kampfflugzeug vom Typ SU-25 Frogfoot zum Zeitpunkt des Abschusses in der Luft und hat gemäß den Angaben eines Presse-Briefings der russischen Streitkräfte den Flugkurs der MH17 gekreuzt. Zu Bedenken ist hierbei, dass ein Erdkampfflugzeug vom Typ SU-25 mit seinen Leistungsparametern (Geschwindigkeit, Gipfelhöhe, Bewaffnung) sicherlich die schlechteste Wahl zum Abschuss eines mit circa 900 Kilometern pro Stunde in 10.000 Metern Höhe fliegenden Airliners darstellt, besonders wenn man berücksichtigt, dass die ukrainische Luftwaffe über extrem leistungsfähige Abfangjäger vom Typ MiG-29 Fulcrum verfügt, die für eine solche Mission um ein Mehrfaches besser geeignet sind.

Gegen die These, ein Kampfflugzeug habe den Airliner abgeschossen, spricht vor allem, dass die Trefferwirkung, wie schon anhand der ersten unmittelbar nach dem Absturz angefertigten Trümmerfotos erkennbar war, offensichtlich im Bereich des Cockpits lag, also an der Flugzeugspitze. Um eine derartige Trefferlage zu erzielen, müsste der Pilot des Kampfflugzeuges entweder direkt oder seitlich von vorn auf sein Ziel zugeflogen sein, um es mit seiner Bordkanone zu bekämpfen. Eine derartige Annahme ist aus taktischer Sicht abwegig. Frontalangriffe mit Bordkanonen hat lediglich die deutsche Luftwaffe gegen die »Fliegenden Festungen« der USAAF im Zweiten Weltkrieg geflogen, solange diese mangels entsprechender Bewaffnung nicht nach vorn schießen konnten. Nach Einrüstung eines MG-Turmes unter dem Bug der B-17G hatte sich das Thema erledigt. Ohnehin grenzte diese Angriffstaktik der deutschen Jagdpiloten schon damals an hellen Wahnsinn, denn die Annäherungsgeschwindigkeit der aufeinander zu rasenden Flugzeuge betrug etwa 1000 Kilometer pro Stunde. Für die Bekämpfung blieb lediglich ein kurzer Feuerstoß aus den Bordwaffen von ein, maximal zwei Sekunden Dauer, dann musste der Jäger hochziehen oder wegdrücken, um nicht mit seinem Ziel zu kollidieren. Im Falle MH17 versus SU-25 wäre die Annäherungsgeschwindigkeit circa doppelt so hoch, ein »erfolgreicher« Beschuss mit Bordwaffen schon von daher technisch ausgeschlossen gewesen. Wenn heutzutage Abfangjäger aufsteigen, um ein anfliegendes Feindflugzeug von vorn zu bekämpfen, so geschieht dies auf mittlere oder lange Distanzen mittels radargesteuerter Luft-Luft-Raketen. Davon abgesehen wäre es von dem betreffenden Kampfflugzeugpiloten im Fall MH17 komplett schwachsinnig gewesen, einen Airliner, der erkennbar völlig geradlinig in großer Höhe stur seine Bahn flog und keinerlei Anzeichen machte, seinen Kurs zu ändern oder gar Ausweichmanöver zu fliegen, mit einem hochriskanten und zudem ineffektiven Angriffsmanöver mittels Bordkanone zu attackieren. Entweder hätte er einen Lenkflugkörper benutzt, oder er hätte sich in aller Ruhe von hinten seinem Ziel genähert – so wie das Jagdflugzeugpiloten (fast) immer tun – und dann aus einer leicht überhöhten und in aller Regel seitlich etwas versetzten Position auf sein Ziel gefeuert (um nicht von den Trümmerteilen getroffen zu werden). Dieses Verfahren wäre nahezu risikolos und extrem erfolgreich gewesen. Allerdings hätte die Trefferwirkung der beim Aufschlag explodierenden und die Flugzeugbeplankung großflächig aufreißenden Granaten (nicht Kugeln) aus der Bordkanone in einem solchen Falle nicht im Cockpitbereich, sondern im Bereich des Leitwerks, des Rumpfhecks oder der Tragflächen mit den Triebwerksgondeln gelegen. Das Trefferbild bei der MH17 spricht dagegen, dass sich der Abschuss so zugetragen hat. Ähnlich hätte es ausgesehen, wenn der Kampflugzeugpilot sein Ziel mit infrarotgesteuerten Kurzstreckenflugkörpern attackiert hätte: Eine solche Rakete wäre sensorgesteuert auf den heißen Abgasstrahl der Turbine zugeflogen und hinter dem Triebwerk unterhalb der Tragfläche detoniert – entsprechend hätte das Trefferbild aussehen müssen, was nicht der Fall war.

Summa summarum lässt sich die Hypothese, MH17 sei durch ein Kampfflugzeug zu Boden gebracht worden, als absurd getrost zu den Akten legen. Alles spricht dafür, dass der malaysische Airliner vom Boden aus mit einer Flugabwehrrakete aus dem Himmel geschossen wurde. Aber von wo und von wem?
Der Autor war Oberstleutnant der Bundeswehr und ist Mitglied im Vorstand des »Darmstädter Signals«, des Forums für kritische StaatsbürgerInnen in Uniform.

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