Dienstag, 22. Dezember 2015

Der Terror und unsere Zivilisation (Norman Paech)


Die Anschläge vom 13. November in Paris und das Attentat gegen Charlie Hebdo vom 7. Januar sind Angriffe aus der muslimischen Welt, die die Metropolen der westlichen Welt ins Mark getroffen haben. Gewiss, es ist blanker Terror, der sich gegen Zivilisten richtet und Angst und Schrecken verbreiten soll, »shock and awe«, was ihm offensichtlich gelingt. Doch bleiben wir bei allem Entsetzen und aller Trauer über die Angriffe und Opfer in Paris, aber auch New York, Madrid oder London nüchtern. Die Politik und ihre Medien in den westlichen Metropolen wollen immer noch nicht begreifen, dass der Terror, den sie immer wieder über ihre so unantastbare Wertegesellschaft hereinbrechen sehen, eine Reaktion auf den Terror ist, den sie in ihren alten Kolonien auch nach der »Unabhängigkeit« fortgeführt haben – um Rohstoffe, Absatzmärkte und die Auswechselung ehemaliger Verbündeter. Sie nennen es nur dann Krieg, wenn die Attentäter in ihre Metropolen vorstoßen. Für ihre eigenen Kriege sprechen sie lieber von »humanitären Interventionen«. Auf jeden Fall nehmen sie für sich die Legitimation und Rechte eines Verteidigungskrieges in Anspruch. Sie verkehren damit Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion. Angreifer in diesem »asymmetrischen Krieg« sind immer die anderen mit der barbarischen Kriegsführung des Terrors. Ihnen fehlt jede Legitimation der Verteidigung. Sie sind die outlaws, ob in Guantanamo oder Abbottabad, die eher die Kugel als der öffentliche Prozess erwartet.
Man könnte zahllose Barbareien der »westlichen Zivilisation« aufzählen, sie reichen von Mỹ Lai und dem Napalm-Krieg über Guantanamo, Abu Ghraib und Bagram, Bagdad, Kundus bis hin zum Drohnen-Krieg. Nie gab es einen öffentlichen Prozess gegen die Verantwortlichen für diese Verbrechen. Aber man lässt die Glocken läuten, wenn Bundespräsident Gauck jetzt bekennt: »Was wir tun, ist ein Akt der Selbstverteidigung ... Wir stehen vor einer Lebensaufgabe, wenn man die Feinde der Freiheit sieht.«

Doch erinnern wir uns an den Sommer 1972. Als eine palästinensische Splittergruppe mit ihrem Terroranschlag die israelische Olympiamannschaft in München angriff, war plötzlich Krieg. In den Medien wurde aus diesem grauenhaften Mord sogleich nicht weniger als ein Angriff auf die Freiheit der Spiele und die olympische Idee, um darauf den bedingungslosen Verteidigungsfall ausrufen zu können.

Zwar sind seitdem über vierzig Jahre vergangen, aber die Schlachtgesänge nach Paris ähneln in fataler Weise denen nach München. Sätze, die Henri Nannen 1972 im Stern Nr. 39 zu München schrieb, würde Joachim Gauck heute wohl ohne Einschränkung für Paris übernehmen: »Die Mörder von München sind keine Fabelwesen, sie sind ein anerkannter Feind. Gegen ihn werden wir uns zu wenden haben. Basta ... leider werden davon auch Unschuldige betroffen. Aber der Satz, dass es besser ist, zehn Schuldige davonkommen zu lassen, als einem Unschuldigen Unrecht zu tun, gilt nur im Frieden. Im Krieg gilt der umgekehrte Satz.« Seinerzeit entstand eine Pogromstimmung gegen Palästinenser in Deutschland, viele verließen das Land. Und nach diesem umgekehrten Satz haben die Herren im Gewand der NATO bisher ihre Kriege geführt, ob in Afghanistan, Irak, Libyen, Somalia, Jemen oder Gaza, ob mit Artillerie oder Drohnen. Sie waren immer im Krieg gegen Muslime und nicht erst seit dem 13. November 2015.

Vergessen ist aber, was zum Beispiel die regierungsnahe La Presse de Tunisie 1972 unter der Überschrift »Die Verdammten der Erde« schrieb: »Die guten Seelen und die wachsamen Hüter der westlichen Zivilisation, die sich entrüsten und den Araber als blutrünstiges Wesen hinstellen, vergessen, dass es nicht die Araber gewesen sind, die sechs Millionen Juden massakriert haben, die Vietnam einer Sintflut von Feuer und Eisen aussetzten, die Sakiet-Sidi-Youssef, El Arich, Port Said zerstört haben, die in Algerien, Indochina und anderswo gefoltert haben ... Also man komme uns nicht mit der Moral und den Prinzipien, die der Westen verhöhnt und mit den Füßen tritt, zehntausendmal am Tag und das ganze Jahr hindurch.« (Übersetzung: N. P.)

Nur selten und vereinzelt hört man Stimmen wie die von Bernd Ulrich in der Zeit vom 19. November, der »Das Ende der Arroganz« fordert. »Kolonialismus, Interventionen, Krieg gegen Terror: Die ›Realpolitik‹ des Westens ist gescheitert. Wir müssen unser Verhältnis zu den Muslimen grundlegend ändern.« Diese Stimme gab es schon damals im Sommer 1972, als die gaullistische Zeitung La Nation schrieb: »So grauenvoll auch die von den Palästinensern hier und dort in der Welt oder von der IRA in Ulster begangenen Taten sind, wie sollte man nicht sehen, dass diese schreckliche Gewalt sich nur gegen eine andere Gewalt auflehnt: die schreiende Ungerechtigkeit. Denn diese Opfer schrien. Und zwar seit langem. Aber in der Wüste. Jetzt schlagen sie zu ...« (Übersetzung: N. P.) Bisher haben Politik und Militär daraus nichts gelernt. Sollte es dabei bleiben, dass nicht nur die Barbarei, sondern auch die Weigerung zu lernen zu unserer Zivilisation gehört?

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