Montag, 21. Dezember 2015

Der Staat im Fall Jalloh


Feuertod in der Zelle: Ermittlungsverfahren offenbar im Stand-by-Modus, Aktivisten befürchten endgültige Einstellung

Von Susan Bonath
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Selbstmordthese ad absurdum geführt: Demonstration zum zehnten Todestag Oury Jallohs am 7. Januar 2015 in Dessau-Roßlau
Oury Jalloh – das war Mord«: Am 7. Januar wird die Parole wieder durch Dessau in Sachsen-Anhalt hallen. Der Feuertod des Flüchtlings im dortigen Polizeirevier jährt sich zum elften Mal. Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh, 2005 gegründet von seinem Freund Mouctar Bah, hat mehr als ein Jahrzehnt Indizien gesammelt, die die amtliche Selbstmordthese ad absurdum führen. Sie hat erreicht, dass der Fall nach einem Freispruch vor dem Landgericht Dessau 2008 nicht zu den Akten gelegt wurde und dass – zumindest offiziell – wieder ermittelt wird. Doch damit könnte bald Schluss sein, fürchten die Aktivisten. Darauf gibt es Hinweise: Am 1. November erklärte Oberstaatsanwalt Folker Bittmann gegenüber der Frankfurter Rundschau, dass 2016 »nach der Befragung aller Experten« entschieden werde, »ob und wenn ja, wie es weitergehen soll«. Zudem lassen jüngere Dokumente, die jW vorliegen, wenig Aufklärungswillen der Dessauer Staatsanwälte erkennen.
Ende 2015, drei Jahre nachdem das Landgericht Magdeburg den vorgesetzten Dessauer Polizisten Andreas S. zu einer Geldstrafe verurteilt hat, weil er dem Verbrennenden »nicht schnell genug geholfen« habe, spricht vieles für Mord. Wie eine Sachverständige 2012 analysiert hatte, weist das Feuerzeug, mit dem der Gefesselte sich angezündet haben soll, keine einzige Spur aus der Todeszelle auf. Das verschmorte Utensil wurde wahrscheinlich nicht, wie behauptet (und nicht beweiskräftig dokumentiert), in einer Asservatentüte entdeckt, sondern manipuliert. Im Juli 2014 fand das Landeskriminalamt Baden-Württemberg noch mehr daran: eingeschmolzene Tierhaare und unversehrte Textilfasern auf verkohlten. Ein von der Initiative beauftragtes, vor zwei Jahren präsentiertes Gutachten legt nahe: Ohne Brandbeschleuniger kann das Feuer nicht so gewütet haben, wie auf Tatortfotos ersichtlich. Eine zweite jüngst vorgestellte Expertise bemängelt schwere Ermittlungsfehler. Zum Beispiel: Ein Foto der Rechtsmedizin Halle zeige nicht, wie angegeben, die Luftröhre des Opfers, sondern die Speiseröhre. Ungeklärt ist ferner: Was weiß die Polizistin Beate H. wirklich über den Tathergang? Am Tag des Geschehens und vor Gericht hatte sie beteuert, Jalloh noch elf Minuten nach Anschlagen des Rauchmelders rufen gehört zu haben. Das ist unmöglich, denn er hatte, wie man heute weiß, kein Kohlenmonoxid im Blut. Er kann also keinen Rauch mehr eingeatmet haben.
Die Ermittlungsakten enthalten sogar Hinweise auf mögliche Täter: Ein Justizangestellter bezichtigte einen inzwischen pensionierten Polizisten – früher Chemiearbeiter und Feuerwehrmann – der Brandlegung. Ersterer wurde vernommen, der Beschuldigte offenbar nicht. Nach jW-Informationen wurde zudem ein Disziplinarverfahren gegen den Zeugen geführt. Eine zweite Anzeige aus dem Jahr 2013 belastete einen weiteren Polizisten. Dieser sei wegen Kontakten ins Neonazimilieu bereits vor dem Brand versetzt worden. Einer Freundin habe er detailliert gestanden, das Feuer auf »Bitte« eines Kollegen entfacht zu haben. Die Frau habe es ihrem Mann zugetragen, der sich an Dritte wandte. Der Generalbundesanwalt wies die Anzeige zurück nach Dessau. Erneut vernahm man dort nur die Überbringer der Nachricht, durchsuchte die Wohnung eines Zeugen, beschlagnahmte Datenträger – erfolglos. Wieder blieben der Beschuldigte und die mutmaßliche Mitwisserin unbehelligt. Bittmann teilte hingegen am 8. Dezember gegenüber jW mit: Man sei dieser Anzeige »intensiv nachgegangen«. »Sie hat sich nicht als Spur zum realen Fall erwiesen.« Weitere Fragen wehrte der Behördenchef ab. Es gebe derzeit »nichts Berichtenswertes«.
Nicht berichten will Bittmann über etwaige Absichten zur Einstellung. Er will nicht sagen, ob es eine Option sei, die Zeugin H. auf mögliches Tathergangswissen zu überprüfen oder ob das Feuerzeug genauer untersucht wird. Denn vielleicht wäre die Herkunft der unverbrannten Textilfragmente zu entschlüsseln, was wiederum Hinweise auf den wirklichen Verbrennungsort liefern könnte. Auch darüber, ob es neue Brandversuche geben soll, schweigt der Staatsanwalt. Dabei riet ihm das Würzburger Institut für Rechtsmedizin im Februar 2015 dringend dazu. Die Experten hatten vier mögliche Szenarien mit Brandlegung durch Dritte geprüft und zwei davon als »denkbar« eingestuft. Sie würdigten auch Smirnous Abbrandexperimente – zum Beispiel an einer Matratze – als richtigen Ansatz. Diese sollten unter realitätsnäheren Bedingungen wiederholt werden. Sie schlugen sogar entsprechende Einrichtungen vor. Zehn Monate später ist hier, wie es scheint, noch nicht viel passiert.
Den Stillstand beklagen die Aktivisten seit langem. Am Unvermögen der Staatsanwälte dürfte das nicht liegen. Eher darf man wohl fragen: Was würde passieren, müssten sie einräumen, dass ein Flüchtling von Polizisten gefesselt und verbrannt wurde, dass ein ganzer Beamtenapparat aktiv mit dafür gesorgt hat, dass Spuren verwischt werden konnten und trotz Indizien nie nach einem Täter gesucht wurde? Dann würde es in Sachsen-Anhalt um mehr als »nur« kollektives Versagen gehen.

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