Donnerstag, 26. November 2015

Was Israel in Jerusalem vor hat

Ran HaCohen 

Quelle: Antikrieg

Der Tempelberg in JerusalemWieder einmal herrscht in Israel eine Atmosphäre des Kriegs. Im Fernsehen gibt´s den ganzen Tag nichts als messerstechende, steinewerfende, brandstiftende Palästinenser; die Aufnahmen werden bis zum Gehtnichtmehr wiederholt, und eine Sekunde vor dem Erbrechen werden Erinnerungen an frühere Intifadas gesendet, um die aktuellen Ereignisse in den richtigen historischen Zusammenhang zu rücken. Der Saftverkäufer sagte zu mir: „Es war schon immer so: immer töten sie uns. Erster Tempel, Zweiter Tempel, die Kreuzzüge, der Holocaust, und jetzt das.“ (Er war von den Socken, als ich wissen wollte, wohin die Amalekiter verschwunden sind, wer es war, der sie getötet hat.) Wir haben jetzt auf der einen Seite mit Messern und Steinen bewaffnete Palästinenser – nicht einmal Bomben und Schusswaffen haben sie mehr – und eine regionale atomare Supermacht, darüber hinaus einen der größten Waffenexporteure der Welt, und es liegt auf der Hand, dass letztere das Opfer ist. Wenn die Götter eine Nation zerstören wollen, dann schlagen sie sie zuerst mit Blindheit.
Es ist erstaunlich, wie sogar intelligente, eher kritische israelische Intellektuelle – wie Yaron London in seinen täglichen Nachrichtenshows im Fernsehen – die Behauptung des Ausflüchtemachers Netanyahu glauben, dass Israel keine Absicht hat, den Status Quo auf dem Tempelberg zu ändern. „Was, Sie glauben wirklich und ehrlich die Legenden, dass wir den Status Quo ändern wollen?!“, fragt er voll Verachtung jeden palästinensischen Gast in seinem Studio. Ja wirklich, warum haben die Palästinenser nicht ein bisschen mehr Vertrauen zu uns? Haben wir sie je belogen, versucht, ihr Land, Wasser, Freiheit oder ihre heiligen Stätten mit Gewalt zu nehmen? Der Status Quo, auf den man sich nach der Okkupation Ostjerusalems 1967 geeinigt hat, gestattet Nicht-Moslems Besuche der Moscheen aus dem 7. Jahrhundert auf dem Tempelberg, verbietet aber das Beten dort. Gibt es da einen Grund für die Paranoia der Moslems?
Aber nein, überhaupt keinen Grund. Außer der Tatsache, dass zumindest ein Drittel der Abgeordneten der Knesset von Netanyahus Likud-Partei (nicht zu reden von den weit rechts stehenden Parteien seiner Koalition) lautstark die Änderung des Status Quo unterstützen, unter ihnen die energische Kulturministerin Regev, die den Knesset-Ausschuss für das Innere wöchentlich einberufen hat, um den Tempelberg zu „diskutieren.“ Abgesehen davon hat der frühere Minister für innere Sicherheit Aharonovich jetzt enthüllt, dass Regev ihn sogar ersucht hat, einen neuen Zugang zum Tempelberg durchzubrechen: „Ich sagte ihr: ‚nur über meine Leiche. Verstehen Sie nicht, dass der Tempelberg die gesamte muslimische Welt in Brand setzen kann?’ Sechs Jahre lang behielt ich den Status Quo bei, so gut ich konnte,“ sagte er Ha’aretz (15.10.2015). Jetzt, wo er sich im Ruhestand befindet, ist Regev stärker geworden. Es besteht allerdings kein Grund, Netanyahu nicht zu glauben, außer der Tatsache, dass mehr und mehr Juden, und weniger und weniger Moslems der Zugang zum Areal gestattet wird, dass jetzt die israelische Polizei sogar eine ständige Präsenz dort eingerichtet hat, dass es eine Reihe und Dutzende von Gruppen jüdischer Fanatiker gibt, die Bilder des Berges veröffentlichen, auf denen die Moscheen wegretuschiert sind, die versuchen, den Grundstein für einen dritten jüdischen Tempel zu legen, die sich darauf vorbereiten, Tiere zu opfern und alle weiteren primitiven Riten zu zelebrieren, die angeblich vor zweitausend Jahren in diesem Tempel praktiziert wurden. Es besteht also überhaupt kein Grund, für die Zukunft der Moschee zu fürchten, den drittheiligsten Ort des Islam und ein palästinensisches nationales Symbol – schon gar nicht unter der extremistischsten jüdischen Regierung, die Israel je gesehen hat.
Aber es geht nicht nur um die Moscheen, ganz bestimmt nicht. Der maßgebliche Kommentator Zvi Yehezkeli von Israels TV-Channel 10 sagt, dass das alles mit dem Islamischen Staat zusammenhängt: die Idee, Messer zu benützen, kommt vom Islamischen Staat (hat davor jemals jemand ein Messer zum Erstechen benutzt?), der Gebrauch von Facebook und Twitter ist durch den Islamischen Staat inspiriert (sonst würden die Palästinenser noch immer Brieftauben benützen), und so weiter. Yehezkeli ist ein typisches Beispiel dafür, wie das Sein das Bewusstsein bestimmt: Kann man erwarten, dass der führende Analyst die Schuld am Zorn der Palästinenser der Okkupation gibt, der ständigen Beschlagnahmung von Land, dem täglichen Terror durch Soldaten und Siedler – wo doch Yehezkeli selbst ein Siedler in der West Bank ist? Die Siedler haben mittlerweile nicht nur die Regierung und Teile der höchsten Ränge der Beamtenschaft übernommen, sondern genauso auch einen großen Teil der „liberalen“ Medien in Israel.
So bekommen wir ausschließlich das Narrativ der Siedler über die Verträge von Oslo zu hören: viele junge Israelis glauben tatsächlich, dass die Intifada Oslo folgte (“Nachgeben führt zu Terror”) und nicht umgekehrt. Wir bekommen das Narrativ der Siedler in Bezug auf die derzeitige Gewalt: an den Hass des biblischen Esau gegen Jakob erinnert man sich, als wäre das letzte Woche passiert, aber dass vor wenigen Monaten eine palästinensische Familie durch Feuer getötet worden ist, wird vergessen („Wir wissen, wer es getan hat,“ gibt der Verteidigungsminister zu, aber die Täter genießen Straffreiheit). Wir bekommen das Narrativ der Siedler in Bezug auf den Tempelberg: das selbstgerechte „Warum kann ein Jude nicht an seinem heiligsten Platz beten?“ serviert, das das Verbot so gut wie aller bedeutenden Rabbis seit Jahrhunderten (außer den fanatischen Rabbis der Siedler) missachtet, die allen Juden verbieten, die heilige Stätte zu besudeln, indem sie sie betreten, das Leitbild eines Status Quo (das durch genau dieselben orthodoxen Juden geheiligt wird, wenn es, sagen wir, um öffentlichen Verkehr am Sabbat oder um nicht religiöse Heirat – beides in Israel verboten – geht) ignoriert, das die politische Realität und den gesunden Menschenverstand ignoriert.
Im Umgang mit der Gewalt – kein Gemeinwesen kann tolerieren, dass täglich Unschuldige auf seinen Straßen erstochen werden – hat Netanyahu sehr wenig zu bieten. Immerhin hat er sich geweigert, mit den Palästinensern in Jahren der relativen Ruhe (zum Beispiel wurde 2012 kein einziger Israeli durch palästinensische Gewalt getötet) zu verhandeln, also wird er damit nicht jetzt beginnen. Die Zerstörung von Häusern von Terroristen wurde als Mittel der Abschreckung wieder eingeführt, ein Jahrzehnt, nachdem die israelische Armee selbst unter Generalstabschef – jetzt Verteidigungsminister – Ye’elon offiziell empfahl, derartige Abrisse zu stoppen. Allerdings mit einem Unterschied: jetzt hat sich Israel das Recht angeeignet, nicht nur die Häuser abzureißen, sondern auch ihren Grund und Boden zu beschlagnahmen. Und das ist maßgeblich.
Während linksgerichtete nützliche Idioten triumphierend behaupten, dass Netanyahu jetzt Jerusalem teilt und dadurch macht, was sie schon immer wollten, ist die Wahrheit ganz anders. Die Palästinenser machen 35% der Einwohner Jerusalems aus, in den Augen Israels eine „demographische Gefahr.“ Ostjerusalem ist nicht von Westjerusalem abgeschnitten – das ist schwer machbar, da Ostjerusalem mit jüdischen Siedlungen durchsetzt ist. Stattdessen werden die palästinensischen Wohngegenden in Jerusalem weiterhin voneinander abgeschnitten, eingekreist und mit Kontrollstellen und Betonblöcken bedrängt. Es gibt kleine extremistische jüdische Niederlassungen sogar innerhalb vieler palästinensischer Wohngebiete; möglicherweise werden ihnen die Grundstücke der abgerissenen Häuser gegeben werden, damit sie sich ausdehnen können. Palästinenser in dem abgeschnürten Wohngebiet in Jerusalem werden kaum eine andere Möglichkeit haben, als in die Enklaven in der West Bank abzuwandern; und, um die Dinge noch weiter zu klären, werden Deportationen und der Entzug ihrer israelischen Staatsbürgerschaft bereits in Erwägung gezogen. Vermutlich wird es jetzt in Jerusalem nicht zu einer Teilung kommen, sondern eher zu seiner ethnischen Säuberung. 
erschienen am 19. Oktober 2015 auf > Antiwar.com > Artikel

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen