Dienstag, 24. November 2015

Das erste Massaker von Paris

Das Massaker vor einer Woche in Paris war nicht, wie nahezu alle Schreiber fälschlich behaupteten, die schlimmste Gräueltat in der Stadt des Lichts seit dem Zweiten Weltkrieg.
Wie der bekannte Experte für den Mittleren Osten Robert Fisk schnell aufzeigte, fand in Paris vor 54 Jahren am 17. Oktober 1961 eine noch schlimmere Gräueltat statt.
Der Pariser Polizeichef Maurice Papon, ein ehemaliger Beamter des Vichy-Regimes, der im Krieg über tausend Juden in den Tod geschickt hatte, ließ seine brutalen Einsatztruppen gegen 30.000 arabische Demonstranten los, die die Unabhängigkeit Algeriens von der Kolonialherrschaft Frankreichs forderten. In einer Orgie des Tötens wurden rund 200 Algerier getötet. Viele wurden bewusstlos geschlagen und dann von der Pont St. Michel-Brücke in die Seine geworfen. 11.000 Algerier wurden verhaftet und in Internierungslagerlager oder in ein Sportstadion gesperrt.
Ich war in Paris, als diese Massaker stattfanden. Sechs Monate danach besuchte ich wieder Paris, als vier pensionierte französische Generäle versuchten, einen Staatsstreich gegen die Regierung von Präsident Charles de Gaulle und Premierminister Michel Debré durchzuführen, die die Absicht hatten, Algerien nach 132 Jahren französischer Kolonialherrschaft die Unabhängigkeit zu geben. 
Die französischen Wähler hatten den Unabhängigkeitsplan unterstützt nach einem langen blutigen Aufstand der Algerier, in dem eine Million Menschen getötet worden sein könnten. Aber Frankreichs professionelle militärische Kaste und nichtarabische Siedler in Algerien aka „pieds noires,“ die hauptsächlich spanischer, portugiesischer und jüdischer Abstammung waren, waren gewaltsam dagegen. Sie verschworen sich, um De Gaulle zu stürzen oder zu töten und Algerien französisch zu behalten – wie in dem superben Buch und Film „Der Schakal“ geschildert wird.
Am 21. April 1962 riefen Armeeverschwörer in Algerien stationierte französische Fallschirmjägerregimenter und die Fremdenlegion auf, nach Frankreich zu fliegen und die Flughäfen in der Umgebung von Paris zu besetzen. Die Rebellen sollten dann nach Paris eindringen, höhere Regierungsfunktionäre einschließlich De Gaulle verhaften und ein Militärregime errichten.
Der 22. April war einer der aufregendsten Tage, die ich je erlebt habe. Abgesehen von Demonstrationen linker Gewerkschaften war Paris ausgestorben. Die Straßen waren leer, die Geschäfte geschlossen. In der Stadt des Lichts war es finster geworden.
Das Geräusch hunderter knackender Funkgeräte von Militär und Polizei füllte die Luft. Seitenstraßen der Place de la Concorde waren voll mit Fahrzeugen, in denen harte, schwer bewaffnete CRS paramilitärische Bereitschaftstruppen und Soldaten der regulären Armee saßen, die sich nicht an die Seite der Aufständischen gestellt hatte.
Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Jeden Augenblick konnten Kämpfe ausbrechen. Wir beobachteten den Himmel nach ankommenden Truppentransportern, die General Jaques Massu´s Fallschirmjäger und die Fremdenlegion aus Algier bringen würden.
Frankreich stand am Rand des Bürgerkriegs. Die Regierung forderte ihre Bürger auf, zu den Flugplätzen zu eilen und die Fallschirmjäger und die Legion zu bitten, nicht nach Paris zu marschieren. Der legendäre amerikanische Humorist Art Buchwald, ein Freund meines Vaters, sagte uns, dass auch er bereit sei, zum Flughafen Orly zu eilen, aber „ich kann kein Deutsch!“ – die meisten Fremdenlegionäre waren ehemalige deutsche Soldaten oder Waffen-SS aus dem Zweiten Weltkrieg.
Französische Wehrpflichtige der Rheinarmee weigerten sich, bei dem Aufstand mitzumachen und verhafteten Mitglieder des Staatsstreichs von Algier, womit einmal mehr unter Beweis gestellt wurde, dass Berufsheere eine Gefahr für demokratische Regierungen darstellen. Der französische Luftwaffenkommandant weigerte sich, Transportflugzeuge für die Armee in Algerien bereitzustellen, was diese in Nordafrika festsitzen ließ.
(…)
Frankreichs lange koloniale Herrschaft in Algerien, Tunesien und Marokko, wie auch im größten Teil Westafrikas brachte große Zahlen von afrikanischen Hilfskräften nach Frankreich. Auch viele „harkis,“ ehemalige Soldaten in Frankreichs Algerienarmee. Ihre Nachfahren bilden die heutige unterste Schicht in Frankreich: arm, in Ghettos lebend, Opfer von Rassismus und religiöser Intoleranz gegenüber Moslems, nicht imstande, Arbeit zu bekommen, verstrickt in Kleinkriminalität und erfüllt vom Gefühl bitterer Hoffnungslosigkeit. 
Der vor über 50 Jahren geführte Algerienkrieg ist im Westen vergessen worden. Nicht jedoch von den Moslems in Europa oder Nordafrika. Auch nicht seine Fortsetzung, Algeriens grauenvoller Bürgerkrieg in den 1990er Jahren, in dem Hunderttausende getötet wurden. Damals warnte ich, dass er eines Tages nach Europa überschwappen würde. 
erschienen am 21. November 2015 auf > www.ericmargolis.com

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