Dienstag, 29. September 2015

Verschwundene Studenten - In Mexico kann die Lage expandieren

Zum Jahrestag ihres Verschwindens erinnern Tausende in Guadalajara an die mutmaßlich ermordeten Studenten. Foto: dpa Der mutmaßliche Mord an 43 Studenten war für die mexikanische Gesellschaft ein Wendepunkt, sagt der Schriftsteller Juan Villoro. Dass die angeblich Schuldigen auch die Täter sind, glaubt er nicht. Noch vor gut einem Jahr galt Mexiko als Land der Zukunft. Das Magazin „Time“ feierte Präsident Enrique Peña Nieto als Retter Mexikos. Heute wird Ihr Land nur mit organisierter Kriminalität, korrupten Politikern und unfasslichen Verbrechen in Verbindung gebracht. Was ist passiert? Es ist das Ergebnis eines langen Niedergangs der Demokratie. Als die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) 2001 nach 71 Jahren an der Macht abgewählt wurde, dachten alle, die Zeit für einen radikalen Wandel sei gekommen. Aber die konservative Partei PAN hat sich als genauso korrupt, aber weniger effizient erwiesen. So erstand Sehnsucht nach der alten PRI, die ihre Rückkehr möglich machte. Ihr gelang es mit Präsident Peña Nieto dann anfangs, dem Land und der Welt ein angebliches Reformprojekt zu verkaufen. Aber es wurden strukturelle Dinge wie eine Steuerreform und die Öffnung von Schlüsselsektoren ebenso umgesetzt wie das Aufbrechen der Monopole. Es waren kosmetische Veränderungen mit dem Ziel, Mexiko für Investoren attraktiv zu machen. Scheinbar gelang es Peña Nieto, das Land zu verändern. Aber weder die Abhängigkeit vom Dollar noch vom Ölpreis wurden verringert. Mexiko bleibt ein Land mit 40 Millionen Armen und 15 Millionen extrem Armen, mit einem Gewaltproblem unfasslichen Ausmaßes und Verbrechen wie dem Mord an Journalisten und dem Verschwinden der 43 Studenten von Ayotzinapa. Der Protest gegen das Verbrechen an den Studenten hat einen kurzen mexikanischen Frühling hervorgebracht . . . Das Verbrechen war für die mexikanische Gesellschaft eine Art Wendepunkt. Es kommen hier mehrere Dinge zusammen. Es wurden angehende Lehrer getötet und somit die Zukunft Mexikos zerstört. Dass die jungen Männer von der Polizei festgenommen und an das organisierte Verbrechen übergeben wurden, belegt zudem, dass die Sicherheitskräfte Teil des kriminellen Netzwerks sind. Vielleicht wurden die Muchachos sogar der Armee übergeben. Ayotzinapa hat unser Land in eine Art Republik der Unzufriedenen verwandelt, wir sehen eine Entrüstung und Empörung, die wir bisher nicht kannten. Erstmals haben sich Prominente zu politischen Themen geäußert. Filmemacher wie Oscar-Preisträger Alejandro González Iñárritu, Fußballprofis wie Javier Hernández. Alle haben gesagt: Es reicht. "Das Fabrizieren von Schuldigen hat Tradition" Aber jetzt ist ein Jahr vorbei, und es gibt keine Gerechtigkeit. Es ist fürchterlicher Zynismus. Der Generalstaatsanwalt verordnete eine ‚historische Wahrheit‘, die sich als historische Lüge entpuppte. Die Geständnisse der angeblichen Schuldigen wurden vermutlich mit Folter erpresst. Im Fabrizieren von Schuldigen haben wir in Mexiko eine große Tradition. Und der Präsident Peña Nieto sagt den trauernden Familien einfach, dass sie über den Verlust ihrer Söhne hinweg kommen sollen. Kommt er damit durch? Es ist ein riskantes Spiel in einem Land, in dem die Unzufriedenheit wächst, denn dieser Frust wird sich nicht mehr unbedingt auf demokratischem Weg Luft schaffen. Ich wünsche mir, dass Ayotzinapa das Samenkorn für eine Bürgerbewegung ist, in der alle Unzufriedenen sich artikulieren können: Die Zapatisten, die Umweltschützer, die Ureinwohner, die Frauenbewegung, die Opfer der Gewalt des Drogenkriegs. Das muss zu einer großen Plattform verschmelzen. Wir brauchen eine direkte Beteiligung der Menschen an der Politik, denn die Regierung hat sich moralisch und rechtlich isoliert. Politiker sind Komplizen. Was bedeutet es, wenn diese Bürgerbewegung nicht zustande kommt? Dann bricht sich die Wut vielleicht anderweitig Bahn. Viele Menschen denken an anarchistische Taten. Vandalismus wie das Anzünden von Parteibüros oder Wahlbüros sehen wir schon. Oder es entstehen so befremdlich anmutende Verbindungen von Guerilla und organisierter Kriminalität oder Bürgerwehren, wie man sie aus Kolumbien kennt. In Mexiko, wo es so viele Waffen und so viel Unzufriedenheit gibt, kann das jeden Moment explodieren, solange keine politischen Wege aufgezeichnet werden. Sie haben Mexiko als ein Land der Paradoxien bezeichnet? Mexiko ist ein surreales Land. Hier gehören Karneval und Apokalypse zusammen. Auf der einen Seite gewärtigen wir die Zerstörung des sozialen Gefüges unserer Gesellschaft, auf der anderen Seite blühen die lokalen Feste mit fröhlichen Menschen. Vielleicht ist das der Wunsch, dieser rauen Realität zu entfliehen. Wie kann man das soziale Gefüge wiederherstellen? Es gibt in Mexiko kein Projekt, welches das soziale Netz wieder zusammenfügen könnte. Als Lula da Silva in Brasilien an die Macht kam, sind zehn Millionen Brasilianer zum ersten Mal geflogen, haben 20 Millionen Brasilianer zum ersten Mal ein Bankkonto eröffnet. Das sind Indikatoren von Teilhabe und Zugang. In Mexiko haben wir diese Indikatoren nicht, dafür aber sieben Millionen junge Leute, die nicht arbeiten, nicht studieren. Sie sind leichte Beute für das organisierte Verbrechen. Aber die Politik tut nichts dagegen. In Mexiko wurde und wird das Problem der Gewalt nur in militärischen Kategorien gedacht. Interview: Klaus Ehringfeld

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