Dienstag, 17. März 2015

NATO weggetreten! (II) (Jürgen Rose)

Die Folgen der Macht-, Ausplünderungs- und Gewaltpolitik westlicher Provenienz unter Rädelsführerschaft der USA für die betroffenen Länder rund um den Globus brachte der Literaturnobelpreisträger Harold Pinter in seiner – von den Konzernmedien weitgehend totgeschwiegenen – Preisrede vom 7. Dezember 2005 glasklar auf den Punkt: »In diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß man natürlich nichts. Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand. Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam, unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darüber gesprochen. Das muß man Amerika lassen. Es hat weltweit eine ziemlich kühl operierende Machtmanipulation betrieben, und sich dabei als Streiter für das universelle Gute gebärdet. Ein glänzender, sogar geistreicher, äußerst erfolgreicher Hypnoseakt. Ich behaupte, die Vereinigten Staaten ziehen die größte Show der Welt ab, ganz ohne Zweifel. Brutal, gleichgültig, verächtlich und skrupellos, aber auch ausgesprochen clever.« (www.nobelprize.org, Übersetzung: Michael Walter) Drängen sich an dieser Stelle erste Zweifel an einer vorgeblich den Atlantik überspannenden Interessengemeinschaft auf, so verdichten sie sich angesichts der Analyse, die der einflußreiche Geostratege und Politikberater Zbigniew Brzezinski, einst Nationaler Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, heute in Diensten von Barack Obama, liefert. Die NATO binde »die produktivsten und einflußreichsten Staaten Europas an Amerika« und verleihe »den Vereinigten Staaten selbst in innereuropäischen Angelegenheiten eine wichtige Stimme«. Europa bilde einen unverzichtbaren geopolitischen Brückenkopf der USA auf dem europäischen Kontinent. Da die verbündeten europäischen Nationen immer noch stark auf den Sicherheitsschild der USA angewiesen seien, erweitere sich »mit jeder Ausdehnung des europäischen Geltungsbereichs automatisch auch die direkte Einflußsphäre der Vereinigten Staaten. Umgekehrt wäre ohne diese engen transatlantischen Bindungen Amerikas Vormachtstellung in Eurasien schnell dahin. Seine Kontrolle über den Atlantischen Ozean und die Fähigkeit, Einfluß und Macht tiefer in den eurasischen Raum hinein geltend zu machen, wären dann äußerst begrenzt.« Es sei eine Tatsache, »daß Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern«. Bediene man sich einer Terminologie brutalerer Zeitalter, »so lauten die drei großen Imperative imperialer Geostrategie: Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen und dafür zu sorgen, daß die ›Barbaren‹völker sich nicht zusammenschließen«. (Zbigniew Brzeziński: »Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft.« Frankfurt am Main 2014, Übersetzung: Angelika Beck) Ganz als Fleisch vom Fleische Brzezinskis erweist sich der Gründer des US-Thinktanks Stratfor und äußerst einflußreiche sicherheitspolitische Lobbyist George Friedman, der in seiner Analyse zur Ukraine-Krise, die im April 2014 unter dem Titel »U.S. Defense Policy in the Wake of the Ukrainian Affair« (US-Verteidigungspolitik im Gefolge der Ukraine-Krise) erschien, verlauten läßt: »Die nationale Strategie der USA muß auf der Seeherrschaft gründen. Die Ozeane schützen die Vereinigten Staaten vor allem, außer vor Terrorismus und Atomraketen. Die größte Herausforderung für die US-amerikanische Seeherrschaft bilden feindliche Flotten. Die beste Gegenmaßnahme ist die Verhinderung des feindlichen Flottenbaus. Und die bewirkt man am besten durch die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Kräfte in Eurasien. Hierfür wiederum ist es ideal, für anhaltende Spannungen innerhalb Eurasiens zu sorgen, so daß dort die Ressourcen statt für den Flottenbau zur Verteidigung gegen Bedrohungen von Land her eingesetzt werden. In Anbetracht der inhärenten Spannungen in Eurasien brauchen die Vereinigten Staaten meistens gar nichts zu tun. Manchmal müssen sie einer oder beiden Seiten militärische oder wirtschaftliche Hilfe schicken, in anderen Fällen lediglich Ratschläge erteilen ... Damit diese von den Briten ererbte Strategie aufgeht, benötigen die Vereinigten Staaten eine effektive und zielführende Bündnisstruktur. Die Strategie des Gleichgewichts der Kräfte geht davon aus, daß es zentrale Bündnispartner gibt, die ein Interesse daran haben, sich mit den Vereinigten Staaten in Reih und Glied gegen regionale Gegner zu stellen.« (www.stratfor.com, Übersetzung: J. R.) Mit dieser hundertprozentig zutreffenden Analyse knüpft Friedman unmittelbar an zentrale Grundsätze US-amerikanischen geostrategischen Denkens an, erinnert sei Halford Mackinders »Heartland Theory« und Alfred Thayer Mahans »Influence of Sea Power Upon History«. Angesichts der für alle sichtbaren geostrategischen Interessenlage des Imperium Americanum ist es unfaßbar, daß es hierzulande und auch bei unseren europäischen Nachbarn immer noch ganze Geschwader (geo)politischer Blindgänger gibt, die an der Überzeugung festhalten, bei der jeweils amtierenden US-Administration handele es sich um Freunde der Europäer, die ganz und gar uneigennützig, aus altruistischen und philanthropischen Motiven heraus zum Wohle Europas Weltpolitik betrieben. Derartigen Illusionen hängt Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt, dem nun wahrhaftig nicht der Ruf vorauseilt, ein Antiamerikaner zu sein, nicht an. Auf dem diesjährigen Podium der Münchner (Un-)Sicherheitskonferenz kanzelte er Moderator und Zeit-Herausgeber Josef Joffe, auf dessen Frage nach der Zukunft der NATO mit der knochentrockenen Bemerkung ab: »Mir ist das ziemlich gleichgültig, ob sie in zehn Jahren noch existiert.« Bereits gut ein Jahrzehnt zuvor hatte er zur US-amerikanischen Geostrategie angemerkt, er sei überzeugt, »daß wir Europäer uns nicht zu Instrumenten amerikanischer hegemonialer Macht machen lassen dürfen. Die Europäer müssen versuchen, im Sinne ihrer Sicht und ihrer Interessen Einfluß zu nehmen. Solange aber die supermächtigen USA darauf beharren sollten, unilateral, das heißt allein zu entscheiden und unilateral militärisch zu handeln, so müssen wir das in gelassener Würde ertragen.« (Zeit online, 2.4.2003) Und ein Jahr später sah er sich in einem Zeit-Interview gar veranlaßt, »die gegenwärtige imperialistische Einstellung der USA« zu monieren. Nimmt man die Anmerkungen des Elder Statesman Schmidt und die aufgezeigten Fakten ernst, so ergibt sich der zwingende Schluß, daß es im existentiellen Interesse Europas liegt, eine tragfähige sicherheitspolitische Alternative gegen die US-amerikanische Form von Amok-Politik zu entwickeln. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob das »Alte Europa«, wie US-Kriegsminister Donald Rumsfeld vor dem Irak-Desaster selbstgerecht höhnte, angesichts der hegemonialen Attitüden der militärischen »Hypermacht« USA unter einer globalen »Pax Americana« zu leben gewillt ist. Für eine Europäische Union, die sich vom Vasallenstatus gegenüber der atlantischen Hegemonialmacht befreien will, folgt daraus, daß der Königsweg zur Unabhängigkeit mitnichten darin bestehen kann, nun ihrerseits Status und Potenz einer globalen Militärmacht anzustreben, sondern darin, klugen Gebrauch von Diplomatie und wirtschaftlicher Stärke im Rahmen einer eigenen fundierten Strategie zu machen. Der Autor war Oberstleutnant der Bundeswehr und ist Mitglied im Vorstand des »Darmstädter Signals«, des Forums für kritische StaatsbürgerInnen in Uniform.

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