Sonntag, 8. Februar 2015

Ende der Schweigsamkeit (Ralph Dobrawa)

Am 8. Mai 1945 kapitulierte der faschistische Staat, der in zwölf Jahren seiner Existenz halb Europa in Schutt und Asche legte und Millionen Menschen den Tod brachte. Die meisten starben aufgrund der unmittelbaren Auswirkungen des 1939 begonnenen Krieges entweder in Erfüllung soldatischer Aufgaben oder als Opfer aus der Zivilbevölkerung. Viele Menschen wurden aber auch gezielt durch die zahlreichen Handlanger des Naziregimes umgebracht, weil sie in deren Augen eine falsche politische Überzeugung hatten, einer falschen »menschlichen Rasse« angehörten oder aus anderen Gründen für »lebensunwert« angesehen wurden. Hitler hatte nicht erst nach seinem Machtantritt das internationale Judentum zum Hauptfeind erklärt. Der »Judenboykott« (1933), die Nürnberger Rassengesetze (1935) und die sogenannte Reichskristallnacht (1938) waren Meilensteine auf dem Weg der Ausgrenzung, Verfolgung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Mitbürger. Den Höhepunkt bildete die als »Wannsee-Konferenz« in die Geschichte eingegangene Zusammenkunft führender Nazigrößen, die die systematische Ausrottung der jüdischen Bevölkerung ohne jegliche Skrupel beschlossen und das zynisch »Endlösung« nannten. Umgesetzt wurde die Massenvernichtung vor allem in den Konzentrationslagern Auschwitz, Sobibor, Majdanek und Treblinka, wohin der »Spediteur des Todes« Adolf Eichmann die Betroffenen bringen ließ. Vor allem Auschwitz ist zum Synonym des fabrikmäßigen industriellen Massenmordes geworden. Rund 8000 SS-Angehörige versahen dort in unterschiedlichen Funktionen »Dienst« und wirkten so – jeder auf seine Weise – an der Todesmaschinerie mit. Die 1950er Jahre in der jungen Bundesrepublik waren davon geprägt, daß kaum jemand über diese schreckliche Zeit, die Greueltaten und vor allem die daran Beteiligten sprechen wollte. Ein eisiges Schweigen herrschte über dieses Kapitel unendlichen Leids. Bald setzte das sogenannte Wirtschaftswunder ein, viele belastete ehemalige NSDAP-, SA- und SS-Angehörige waren sukzessive wieder in das gesellschaftliche Leben integriert worden und auf unterschiedlichen Ebenen in nahezu allen Bereichen tätig, darunter auch in Politik, Justiz und Verwaltung. Es muß also nicht überraschen, daß vorsichtige einzelne Bestrebungen, das Schweigen zu durchbrechen, auf nachhaltigen Widerstand stießen und nahezu stets im Keim erstickt wurden. Einer, der sich mit dem Schweigen nicht abfinden konnte, war der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der – selbst von den Nazis verfolgt und ins Exil getrieben –, wieder nach Deutschland zurückgekehrt war und am Aufbau einer neuen demokratischen Justiz mitwirken wollte. Als ihm 1958 Unterlagen zugespielt werden, die auf Mordtaten im KZ Auschwitz hinweisen, bieten diese Anlaß für den Beginn von Ermittlungen, die späterhin geradewegs zu dem von 1963 bis 1965 stattgefundenen Frankfurter Auschwitzprozeß führten. Ein Spielfilm, der im Kino zur Zeit gezeigt wird, beschäftigt sich mit jener Periode bis zum Beginn des ersten Prozeßtages. Er erzählt vom zähen Kampf eines Generalstaatsanwalts gegen alle Anfeindungen aus seinem Umfeld und zeigt die Hartnäckigkeit eines jungen Staatsanwalts bei der Verfolgung von Tätern, die in Auschwitz am Tod vieler unzähliger Menschen beteiligt waren. Der Film ist zugleich eine Anklage gegen das Versagen der (bundes-) deutschen Justiz bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Es brauchte nahezu 70 Jahre nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus, daß ein solcher Film in deutschen Kinos gezeigt wird. Das allein macht deutlich, welche Last diese Justiz tragen muß. Der im Dezember 2014 verstorbene Ralph Giordano sprach einst von der »zweiten Schuld« mit der er dieses Versagen, die Verfolgungsunlust, meinte. Ein solcher Mangel läßt sich mit zunehmendem Zeitablauf immer weniger heilen. Unlängst war zu lesen, daß nunmehr noch gegen einige wenige ehemalige SS-Angehörige von Auschwitz ermittelt wird, die inzwischen im Alter um die 90 Jahre sind. Solche Aktivitäten können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, was in Jahrzehnten unterlassen wurde. Auch ist nicht sicher, ob es zu einer Anklageerhebung oder gar Verurteilung kommt. Bei einem 89jährigen, der verdächtig ist, am 10 Juni 1944 an einem Massaker in der französischen Ortschaft Oradour beteiligt gewesen zu sein, hat das Landgericht Köln Anfang Dezember 2014 die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt, weil es die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung aufgrund der Beweislage für gering hält. Der eingangs erwähnte Film »Im Labyrinth des Schweigens« (Regisseur: Giulio Ricciarelli) ist jedenfalls unbedingt – besonders jüngeren Menschen – zu empfehlen, da er mit den Mitteln des Spielfilms ein bedeutsames Kapitel bundesdeutscher Geschichte beleuchtet.

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