Samstag, 31. Januar 2015

Kommentar: Proteste ohne Ziel

Deutsche Welle v. 25.1.2015 Vier Monate nach dem Verschwinden der 43 Studenten von Iguala sind wieder Proteste in Mexiko angekündigt. Eine ernstzunehmende politische Bewegung ist jedoch nicht entstanden, bedauert Uta Thofern. Das Massaker von Iguala hätte der Anfang für einen echten Wandel in Mexiko sein können. Erstmals wurde eindeutig bewiesen, dass die Polizei mit Drogenkartellen zusammenarbeitete und an Gewalttaten beteiligt war - festgestellt und angeprangert von Mexikos oberster Ermittlungsbehörde. Die ungeteilte Empörung darüber, dass ein Bürgermeister mit Hilfe seiner eigenen Polizeieinheiten eine ganze Gruppe von unbequemen Demonstranten einfach so verschwinden lassen konnte, bot die Chance für einen Aufstand der Zivilgesellschaft. Einen friedlichen Aufstand für den Rechtsstaat, gegen Korruption und Straflosigkeit in einem Land, das nach jahrelangem Drogenkrieg in vielen Regionen von Angst und Gewalt beherrscht wird. Einer solchen Bewegung wären breite Sympathie und internationale Unterstützung sicher. Ein ernsthaftes zivilgesellschaftliches Engagement mit konkreten Aktionen und konkreten Forderungen hätte, wie in Kolumbien, den Anfang vom Ende der Hilflosigkeit bedeuten können. Um die Macht der Korruption zu brechen, braucht es nicht nur staatliche Abwehr, sondern auch eine mündige Öffentlichkeit. Eine Zivilgesellschaft, die Schutz und Unterstützung bietet für Menschen und Institutionen, die sich gegen die Unterwanderung durch Kartelle stemmen. Eine politische Bewegung, die Alternativen formuliert - eine andere Drogenpolitik vielleicht, einen Ehrenkodex für Politiker, eine stärkere internationale Zusammenarbeit… Ideen und Vorbilder gäbe es genug! Irrationale Forderungen Aber was soll man von einem Protest halten, dessen Forderungen sich seit Monaten durchgehend im Bereich des Irrationalen bewegen? Die verschwundenen Studenten lebend wiederzusehen - das ist ein Wunsch, der bei ihren Angehörigen mehr als verständlich ist. Als politisches Anliegen taugt er nicht. Auch nicht als glaubwürdiger Grund, immer neue Einrichtungen des Staates durchsuchen zu wollen. Schon gar nicht als Vorwand für gewalttätige Aktionen. So werden Schmerz und Trauer der Familien instrumentalisiert und entwertet. Sie wollten sich nicht vereinnahmen lassen. Aber die Bilder ihrer verschwundenen Kinder sind längst zum Symbol einer Wut geworden, die sich so allgemein wie diffus gegen "den Staat" richtet und gegen alle seine Institutionen, einschließlich des Präsidenten persönlich. So verständlich Zorn und Misstrauen in diesem Land sind, so paradox sind die Folgen: Politisch profitiert nur die Opposition in Mexiko. Allen voran die Partei, die den beschuldigten Bürgermeister von Iguala stellte und die den Protestlern als genauso korrupt gilt, wie alle anderen. Das Kernanliegen aus dem Blickfeld verloren Schwerwiegender noch sind die Konsequenzen für die Bewegung selbst: Indem ihre Aktionen jegliche staatliche Autorität untergraben und dabei keiner Logik folgen, macht sie sich angreifbar - und verliert Sympathien. Wer soll einen Protest unterstützen, der darin besteht, Gebäude anzuzünden, Verwaltungsbeamte mit Gewalt an der Arbeit zu hindern, Straßen zu blockieren, Examensprüfungen zu stören und sogar demokratische Wahlen verhindern will? Das Anliegen, Korruption und Straflosigkeit in Mexiko ein Ende zu machen und damit allen mehr als hunderttausend Opfern Rechnung zu tragen, gerät dabei vollkommen aus dem Blickfeld. Empörung trägt nicht ewig, und Protest verkommt zum Ritual, wenn er kein Ziel hat. Eine Bewegung, die Mexiko offenbar nichts zu bieten hat als Anarchie, kann weder national noch international auf breite Unterstützung hoffen. URL: http://www.dw.de/kommentar-proteste-ohne-ziel/a-18212143 _______________________________________________ Chiapas98 Mailingliste JPBerlin - Mailbox und Politischer Provider Chiapas98@listi.jpberlin.de https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/chiapas98 Stellvertretend für mehrere Kommentare, die als Reaktion auf den DW-Beitrag hier eingingen und alle den gleichen Tenor hatten, hier die Betrachtungen von Raina Zimmering. -------------------------------------- Ich denke, dass die Sendung zu Protesten ohne Ziel (DW v. 25.1.2015) ziemlich abfällig gegenüber der Protestbewegung um das Verschwinden der 43 Studenten in Ayotzinapa ist. Die Erwartung einer Bewegung mit einem fertigen politischen und sozialen Programm, möglichst noch einem neuen Regierungsprogramm, ist völlig überzogen, denn hier ist Protest als Reaktion auf eine furchtbare Handlung einer korrupten, mit der Drogenmafia verbundenen Regierung entstanden und keine Bewegung mit einem politischen Programm für einen politischen und gesellschaftlichen Wechsel. Dass die Protestaktionen so negativ und illegitim dargestellt werden, ist auch gefährlich, so wird ziviler Widerstand in das Reich des politisch Verpönten geschoben und geht weit hinter das zurück, was in der westlichen Demokratie (Habermas, Rucht usw.) in jahrelanger Auseinandersetzung als legitim betrachtet wurde und mit der 1968er Studentenbewegung seinen Anfang nahm, wodurch Protest und Regelverletzung nicht als legal, aber als legitim betrachtet wird. Wenn jetzt Straßenblockaden als illegitim dargestellt werden, ist das eine gefährliche Einstellung, die Proteste verteufelt und letztendlich Polizeigewalt legitimiert. Dass Proteste viel dazu beitragen können, neue gesellschaftliche Ziele zu entwerfen ist klar, kann aber nicht von einzelnen spontan entstandenen Bewegungen gefordert werden. Dass Kolumbien als Beispiel dafür herhalten soll, ist sehr verwunderlich. In Kolumbien wurden nach der sogen. Neuorientierung der Politik die kapitalistische Gesellschaft und die Beziehungen zu den USA gefestigt. Die Armut und soziale Ungleichheit gingen nicht zurück. Das Leben der Bürger ist sicherer geworden und der Staat verfügt wieder mehr über sein Gewaltmonopol. Allerdings hat sich der Drogenhandel laut wissenschaftlicher Statistiken nicht verringert, sondern ein neues Gesicht aufgesetzt, das durch kleinere Unternehmen und nicht mehr die großen Kartelle geprägt ist. Vielleicht ist auch der Staat nicht mehr so in den Drogenhandel involviert wie früher, aber wenn das die Ziele darstellen sollen, die von solchen Bewegungen wie von Ayotzinapa ausgehen, dann ist das verfehlt. Hier geht es nicht allein um eine Entflechtung der Koaltiion zwischen Politik, Armee und Drogenkartellen, sondern auch und in erster Linie um soziale Gerechtigkeit, darum, dass arme Indigenas studieren, ihr Wissen ohne Behinderung weiter geben und schließlich zur Errichtung einer sozial gerechten Gesellschaft beitragen können. Ich finde also den Beitrag von DW ziemlich daneben, politisch gefährlich und konservativ Wollte ich dir nur mal so schnell schreiben. Liebe Grüße Raina. Univ.-Prof. Dr. habil. Raina Zimmering - Historikerin, Politologin, Soziologin - _______________________________________________ Chiapas98 Mailingliste JPBerlin - Mailbox und Politischer Provider Chiapas98@listi.jpberlin.de https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/chiapas98

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