Mittwoch, 17. Dezember 2014

Mexiko: "Verschwinde, Peña"

Die ZEIT v. 4.12.2014 Mit Massenprotesten fordern Mexikaner Antworten zum Schicksal der 43 verschwundenen Studenten – und viele auch den Rücktritt von Präsident Enrique Peña Nieto. Die Reformpläne überzeugen nicht, stattdessen setzt der Staat auf Repression. von Sonja Peteranderl, Mexiko-Stadt Demonstranten in in Mexiko-Stadt prangern das unaufgeklärte Verschwinden von 43 Studenten, Gewalt und Korruption an. | © Carlos Jasso Bei einem der letzten Protestzüge durch das Zentrum von Mexiko-Stadt tauchte in der Menschenmenge plötzlich Präsident Enrique Peña Nieto auf. Er riss die Arme hoch, winkte in die Menge, dann verkündete er: "Ich trete zurück, sofort." Jubel von allen Seiten. Ein junger Sunnyboy im Anzug hatte als Peña-Nieto-Double einen Wunsch inszeniert, den gerade Tausende von Mexikanern teilen. Seit genau zwei Jahren ist Mexikos Präsident nun im Amt – doch das Jubiläum am Montag markierte keinen Feiertag, sondern die schwerste politische Krise, der Peña Nieto bisher ausgesetzt war. In mehr als 60 mexikanischen Städten gingen die Menschen auf die Straße, um das unaufgeklärte Verschwinden von 43 Studenten, Gewalt und Korruption anzuprangern – viele forderten Peña Nieto zum Rücktritt auf. "Verschwinde, Peña", skandierten Demonstranten landesweit, in der Grenzstadt Tijuana verbrannten sie sogar eine Peña-Nieto-Puppe. Einer Umfrage der mexikanischen Zeitung Reforma zufolge hat er mit 39 Prozent die niedrigsten Zustimmungswerte eines mexikanischen Präsidenten seit der Wirtschaftskrise Mitte der 1990er Jahre. Staat als Teil des Verbrechens "Es ist pervers, dass Studenten getötet werden und Drogenbosse straffrei bleiben", kritisierte eine junge Frau, die bei dem Protest in Mexiko-Stadt eine Fahne mit roten Farbspritzern schwenkte. Für sie ist Peña Nieto der oberste Vertreter eines Staates, der selbst Teil des organisierten Verbrechens ist. – "Eigentlich müssten alle zurücktreten, nicht nur Peña Nieto." Mehr als zwei Monate liegt die Verschleppung von Studenten aus Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero zurück. Ein Verbrechen, das so grausam wie alltäglich für Mexikos Verhältnisse ist, und die Komplizenschaft zwischen korrupten Politikern, Sicherheitskräften und Drogenkartellen offenbart. Drei Busse voller Studenten, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzten, wurden in Iguala von der Polizei beschossen – sechs starben sofort, 43 junge Männer wurden an das lokale Drogenkartell Guerreros Unidos übergeben, deren Handlanger sie wohl ermordeten. Den Befehl hatten der Bürgermeister und seine Frau gegeben, die inzwischen verhaftet worden sind. Auch den Gouverneur von Guerrero, Ángel Aguirre, zwangen die Proteste zum Rücktritt. Angehörige halten an der Forderung fest, die 43 lebend wiederzusehen – solange es keinen Beweis für ihre Ermordung gibt. In den vergangenen Wochen wurden rund um Iguala zahlreiche Massengräber entdeckt, sowie Plastiktüten mit verbrannten menschlichen Überresten. Ein österreichisches Forensik-Labor arbeitet an der Identifikation der Proben. Studenten, aber auch Senioren, Familien mit Kindern hielten bei den Massenprotesten Fotos der 43 jungen Männer hoch, riefen immer wieder: "Vivos se los llevaron, vivos los queremos" – "Lebend haben sie sie mitgenommen, lebend wollen wir sie wieder." In der Hauptstadt hatten sich Demonstranten in ein riesiges, rotes Tuch eingewickelt, wandelten wie Geister durch die Menschenmasse, die sich zum Protest versammelt hatte. Der Protest vereint Generationen und unterschiedliche gesellschaftliche und politische Lager und Perspektiven – denn von Gewalt und Korruption sind alle betroffen. "Außer Kontrolle" Vor zwei Jahren ist Enrique Peña Nieto mit dem Versprechen angetreten, das Land sicherer zu machen. "Peña Nieto hat zwar wunderbar neue Wirtschaftsmöglichkeiten beworben", bilanziert der Sicherheitsexperte Dr. Edgardo Buscaglia, Präsident des Instituto de Acción Ciudadana para la Justicia y la Democracia. "In Bezug auf Sicherheit hat er nichts erreicht." Der Präsident habe die Chance vertan, eine zentrale Wurzel der Konflikte anzugehen – die lang gewachsene, parteienübergreifende politische Korruption. "Jeder einzelne Bürgermeister in Mexiko verhält sich wie ein Feudalherr, der auf eigene Faust Deals macht, regiert – aber das Problem reicht von der Gemeindeebene bis hoch zur Bundesebene", so Buscaglia. "Die politische Korruption ist außer Kontrolle, weil es keine Kontrollmechanismen gibt." Gewalt und organisiertes Verbrechen profitieren von Komplizenschaft und der Straffreiheit für Verbrechen – bei 100 Verbrechen werden höchstens zwei oder drei Kriminelle verurteilt. Als Konsequenz der Proteste hat Peña Nieto angekündigt, dass es in der Sicherheitspolitik ein "vor und nach Iguala" geben werde, einen 10-Punkte-Plan veröffentlicht und Gesetzesinitiativen in den Kongress eingebracht, geplant ist etwa die Auflösung der als korrupt geltenden städtischen Polizeieinheiten, eine Neuregelung der Zuständigkeiten der Strafverfolgungsbehörden, eine bessere Kontrolle der lokalen Institutionen. Doch wie können korrupte Organe auf Landes- und Bundesebene zu Kontrolleuren werden? "Peña Nieto hat keine Strategie – er hat zehn Punkte aufgeführt, die kosmetische Maßnahmen sind und nicht das Kernproblem berühren", kritisiert Dr. Edgardo Buscaglia. Transparency International zufolge wären etwa landesinterne und externe, unabhängige Anti-Korruptionsgremien notwendig. Seite 2/2: Repression als Antwort Die Demonstranten erzürnt auch das schlechte Krisenmanagement des Präsidenten. Erst Wochen nach der Tat besuchte er die Angehörigen der Studenten. Während die Proteste aufflammten, fuhr er nach China zum Staatsbesuch. Hinzu kam Peña Nietos eigener Korruptionsskandal: Sein sieben Millionen Dollar schweres Luxusanwesen in Mexiko-Stadt hatte ihm eine Baufirma spendiert, mit der er als Gouverneur Deals eingefädelt hatte. Repression als Antwort "Ich wünsche mir eine Regierung, die die Interessen der Menschen vertritt, ein Land, in dem Politiker nicht nur ihren persönlichen Reichtum verfolgen", sagt der Theaterstudent Mario, ein bärtiger junger Mann mit Sommersprossen, der von Anfang an mit protestiert hat und künstlerische Aktionen organisiert. "Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir Verbrechen nicht nur anprangern, sondern auch Strategien entwickeln, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen." Am Wochenende besetzte er mit anderen Kunststudenten den Palacio de Bellas Artes. Sie verwandelten das historische Gebäude in eine Bühne für kreativen Protest, veranstalteten Performances, machten Musik, überall hingen Bilder und Graffitis, die die Gewalt anprangerten. Sie wollten auf das Schicksal der 43 Studenten aufmerksam machen – aber auch der elf Studenten, die bei den Protesten am 20. November festgenommen worden waren, wie den 29-jährigen Atzín Andrade, einen Freund von Mario. "Sie haben ihn grundlos verhaftet", sagt der. Die Anklage: versuchter Totschlag, Vandalismus und Terrorismus. Die, die gegen Gewalt protestieren, werden selbst zur Zielscheibe der Staatsgewalt. Einige der Studenten wurden wie Drogenbosse in Hochsicherheitsgefängnisse überführt. Kurz vor dem zweijährigen Präsidentschaftsjubiläum am Montag wurden sie freigelassen – weil es keine Beweise für die Anklage gab. Manche Studenten erzählten, dass sie gefoltert und geschlagen worden seien, einem 18-Jährigen hatten Polizisten gedroht "wie die Studenten aus Ayotzinapa zu verschwinden". Ein Student war auf offener Straße entführt worden, von bewaffneten Männern, die sich nicht als Sicherheitskräfte auswiesen. Einen chilenischen Anwalt erinnerte das an die Militärdiktatur unter Pinochet. "Wir wissen, dass wir nicht stark genug sind, um der Polizeigewalt entgegenzutreten", sagt der Theaterstudent Mario. "Aber das Wichtige an den Protesten ist, dass wir ohne Angst zusammenkommen können, weil wir nicht alleine sind." Die Proteste in Mexiko wachsen. Mario ist mit der "Soy 132"-Bewegung zum ersten Mal auf die Straße gegangen – 2012 protestierten Studenten gegen den Amtsantritt von Peña Nieto, der für sie ein Symbol der Repression war. Das Bündnis sei durch Polizeigewalt, aber auch interne Streitigkeiten aufgelöst worden – "doch viele vom 132-Protest sind auch jetzt dabei – und Neue, die noch nie protestiert haben", sagt Mario. "Feiglinge brauchen wir nicht" Vor der Demonstration am Montag hatten Mexikaner auf Twitter und Facebook dazu aufgefordert, sich nicht zu vermummen, um Konfrontationen zu vermeiden. "Wenn du dich nicht traust, ohne Maske zu demonstrieren, dann bleib zu Hause – Feiglinge brauchen wir nicht", twitterte eine Aktivistin. "Wenn ihr einen Vermummten seht, dann reißt ihm die Maske vom Gesicht und fotografiert ihn." Viele Studenten fürchten, dass die Regierung die soziale Bewegung infiltriert, Randalierer schickt, die dann einen Polizeieinsatz rechtfertigen sollen. Der Marsch am Montag war ein friedlicher Protestzug, einige Gruppen trommelten und tanzten, in Mexiko-Stadt trugen nur Vereinzelte schwarze Skimasken oder hatten sich Tücher um den Kopf geschlungen. Die Polizei blieb während des Protestes fast unsichtbar, sie hatten Seitenstraßen entlang der Route abgesperrt. Doch als am Abend eine kleine Gruppe Vermummter Scheiben von Bankfilialen und Läden einschlug, rückten sofort Hunderte von Sicherheitskräften an. Sie kesselten eine Gruppe von etwa 200 Demonstranten ein, die nicht zu den Vermummten gehörten, schlugen auch mit Schlagstöcken zu, mindestens drei Menschen wurden verhaftet. Einer älteren Frau hatte eine Platzwunde am Kopf, ihr lief das Blut über das Gesicht, ihr Sohn und Mann waren festgenommen worden – dabei hatte sie am Protest gar nicht teilgenommen. Ein Rücktritt Peña Nietos gilt als Utopie. "Die Regierung wird Gewalt anwenden, wie sie es auch in der Vergangenheit schon getan hat, sie werden weiter Anklagen wegen Terrorismus kreiieren", glaubt der Sicherheitsexperte Buscaglia. "Die mexikanische Regierung wird ihr wahres Gesicht zeigen." Gerade berät die Abgeordnetenkammer erneut darüber, das Recht auf Mobilität in die Verfassung aufzunehmen – das Versammlungsfreiheit und Proteste eindämmen könnte. Als "Bestien" bezeichnete Luis Adrián Ramírez Ortiz, Vorsitzender des Jugendverbandes der Regierungspartei Partido Revolucionario Institucional (PRI) auf seinem Facebook-Profil Demonstranten, die den Rücktritt des Präsidenten fordern: "Sie verdienen es nicht zu leben." URL: http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-12/mexiko-protest-korruption/ _______________________________________________ Chiapas98 Mailingliste JPBerlin - Mailbox und Politischer Provider Chiapas98@listi.jpberlin.de https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/chiapas98

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