Samstag, 22. November 2014

Brief aus Havanna (19) (Volker Hermsdorf)

Die Wahlerfolge von Evo Morales in Bolivien und Dilma Rousseff in Brasilien wurden in Havanna mit Genugtuung aufgenommen. Kuba ist mit beiden Ländern wirtschaftlich und politisch eng verbunden und gewinnt Planungssicherheit für die nächsten Jahre, was im gegenwärtigen Prozeß der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umgestaltung auf der sozialistischen Karibikinsel wichtig ist. Über die Erfolge, aber auch die vielen Unsicherheiten und ungelösten Probleme dieses Prozesses unterhalte ich mich mit Jesús Irsula. Er ist einer der 40.000 Kubanerinnen und Kubaner, die in den 1980er Jahren in der DDR ausgebildet wurden. Irsula ist Germanist, hat in der DDR promoviert und war unter anderem viele Jahre als Dolmetscher für Fidel Castro tätig. Anfang August vertrat er sein Land beim XX. Weltkongreß des Internationalen Übersetzerverbandes FIT in Berlin, jetzt sitzen wir in seiner kleinen Wohnung im Stadtteil Vedado. Ich frage ihn nach seiner Einschätzung der aktuellen Situation in Kuba. Die Lage sei schwierig, sagt Irsula. Auf dem 6. Kongreß der Kommunistischen Partei seien im April 2011 zwar die Weichen für die – wie es hier genannt wird – Aktualisierung des sozialistischen Gesellschaftsmodells gestellt worden, doch seitdem seien bereits dreieinhalb Jahre vergangen, ohne daß in der Ökonomie größere Erfolge erkennbar seien. »Es geht voran«, sagt Irsula, »und die Richtung stimmt, aber das Tempo nicht.« Präsident Raúl Castro habe vor einigen Tagen im Ministerrat alle Ressortchefs aufgefordert, dem Rückfall in »alte Gewohnheiten« entgegenzuwirken. »Zur notwendigen Modernisierung von Betrieben, Energieversorgung, Verkehrswesen und nahezu allen anderen Bereichen der Infrastruktur braucht unser Land riesige Investitionen«, erklärt Irsula mir. Die wirtschaftliche Stabilität sei Voraussetzung für Erhalt und Entwicklung des sozialistischen Gesellschaftsmodells. Einen Tag später bin ich im Büro von Zuleica Romay, der Präsidentin des Kubanischen Buchinstituts (Instituto Cubano del Libro, ICL). Der Zugang zur Kultur für alle Schichten der Bevölkerung war – neben der Gesundheitsversorgung und dem Bildungssystem – eines der Revolutionsziele, dessen Umsetzung – trotz aller Schwierigkeiten – bis heute garantiert werden kann. »Das 1967 gegründete ICL ist eine staatliche Kulturinstitution, deren Arbeitsschwerpunkt die Koordinierung des kubanischen Verlagswesens ist«, erklärt mir Zuleica Romay. »In unserem Land gibt es 186 Verlage und Institutionen, die Bücher herausgeben. Das ICL versucht sicherzustellen, daß dabei die Interessen der Leser in Bezug auf Themen, Qualität und Preise berücksichtigt werden. Wir erhalten vom Staat jährlich ein Budget von rund zweieinhalb Millionen US-Dollar (knapp zwei Millionen Euro), mit dem wir in den letzten zehn Jahren zu jeder Buchmesse eine Produktion von rund 340 neuen Titeln zu günstigen Verkaufspreisen sicherstellen konnten.« Für das nächste Jahr seien 400 neue Buchtitel in gedruckter und 250 in digitaler Form geplant, verrät sie mir. Mehr sei leider nicht finanzierbar. Zum Abschied erklärt mir die ICL-Präsidentin: »Für uns sind Bücher in erster Linie ein kulturelles und kein wirtschaftliches Gut. Der kommerzielle Aspekt spielt eine untergeordnete Rolle. Deshalb organisieren wir unsere Buchmesse auch als Volksfest für alle und nicht als Event für eine Bildungselite.« Am 28. Oktober, dem Tag der Abstimmung in der UN-Generalversammlung über Kubas Antrag zur Beendigung der US-Blockade, treffe ich Oscar Martínez Cordovés, den stellvertretenden Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Kubas. Seit 1992 dokumentiert die Abstimmung die Unterstützung der Weltgemeinschaft für die sozialistische Karibikinsel. Oscar Martínez sieht die Chancen für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden Ländern vorsichtig optimistisch. »Von einer Normalisierung sind wir noch weit entfernt«, sagte er mir, »aber die Abstimmung in der UN-Vollversammlung hat erneut gezeigt, daß die USA isoliert sind und der Druck auf Washington, seine Kuba-Politik zu ändern, ständig zunimmt. Innerhalb des Landes entkrampft sich die Haltung zu Kuba in drei Bereichen: in der US-amerikanischen Gesellschaft insgesamt, bei Politikern, Medien und Kulturschaffenden sowie unter den aus Kuba stammenden Einwanderern. Diesen Stimmungswandel kann die Obama-Administration nicht auf Dauer ignorieren.« Allerdings warnt Martínez vor Illusionen: »Trotz aller Veränderungen der Stimmung im Land hat die US-Regierung ihr Ziel eines Systemwechsels in Kuba nicht aufgegeben.« Am Tag meiner Abreise empfängt mich Fernando González. Er wurde Ende Februar als Zweiter der unter dem Namen »Cuban Five« bekannten Kundschaftergruppe aus der US-Haft entlassen. Er ist jetzt Vizepräsident des kubanischen Instituts für Völkerfreundschaft (ICAP) und setzt sich in dieser Funktion unermüdlich für die Freilassung seiner drei noch in den USA inhaftierten Kampfgefährten ein. Ihre Freiheit sieht er als Voraussetzung für eine Normalisierung. Beim Händedruck zum Abschied sagt er mir: »Arbeitet in Europa dafür, daß die Doppelmoral im Kampf gegen den Terrorismus verschwindet. Man kann doch nicht vorgeben, den Terrorismus zu bekämpfen und gleichzeitig zusehen, wie in Miami Gewaltakte und Subversion gegen unser Land vorbereitet werden.« Ein letztes Mal während dieser Reise schlendere ich den Malecón hinunter und wende mich an der Hafeneinfahrt nach rechts, um den Spaziergang auf dem Prado fortzusetzen. Auf dem Boulevard haben Kinder rote Hütchen als Tore aufgestellt, auf die sie mit einem alten Ball schießen. Sie bearbeiten selbstbewußt ihren Fußball, wo sie vor der Revolution nicht hätten spielen dürfen. Ein Stück weiter sehe ich eine Gruppe gestikulierender Menschen. Hier auf dem Prado finden regelmäßig Gesprächskreise statt. Heute tauschen sich Gehörlose und Hörbehinderte darüber aus, welche Möglichkeiten ihnen die Gesellschaft trotz ihrer Einschränkung biete. David, ein fast tauber junger Mann, trainiert in einem Kulturzentrum im Municipio 10 de Octubre eine Kinder-Tanzgruppe. Die etwa fünfjährigen Mädchen führen den begeisterten Zuschauern mit einer Rumba vor, was sie bei David gelernt haben. Der ermutigt die im Kreis sitzenden, seinem Beispiel zu folgen und die Möglichkeiten zur beruflichen, sozialen und kulturellen Integration wahrzunehmen. Mit Unterstützung einer Gebärdendolmetscherin entwickelt sich eine lebhafte Diskussion. Durch Zufall werde ich so Zeuge, daß das Thema von Krieles Film »Die Kraft der Schwachen« in Kuba allgegenwärtig und sein Protagonist Jorgito (s. Ossietzky 22/14) überall ist.

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