Sonntag, 12. Oktober 2014

Eigene Lösungen ausprobieren Aufklären, ohne zu entmutigen: Ulrike Meinhof zum 80. Geburtstag

Anja Röhl, junge Welt 7.10.2014 "Nicht der Wirklichkeit, der Wahrheit nachgehen" - Ulrike Meinhof Viele junge Leute wissen nicht mehr, dass Ulrike Meinhof bis 1970 als Journalistin eine große Breitenwirkung im gesamten deutschsprachigen Raum entfaltet hatte. Ihre Texte wurden von vielen Menschen gelesen, das Spektrum ihrer Leserschaft ging vom wertkonservativen, christlichen Intellektuellen bis zum subproletarischen Jugendlichen. Kaum jemand kritisierte so scharf, pointiert und überzeugend Restauration und Reaktion in der Bundesrepublik. Was auch nicht mehr bekannt ist: Sie war eine wichtige Protagonistin der Heimkinderbefreiungsbewegung in Westdeutschland. Durch ihre Reportagen wurde das Elend der Heimkinder überhaupt erst kenntlich – als ungebrochene faschistische Kontinuität von Zucht, Ordnung und Wahn. Über Mädchen aus einem Westberliner Heim hat sie 1970 mit Eberhard Itzenplitz ein Fernsehspiel gedreht, das erst 24 Jahre später ausgestrahlt wurde. Denn zehn Tage vor dem ursprünglichen Sendetermin in der ARDhatte sich Ulrike Meinhof an der erfolgreichen Gefangenenbefreiung von Andreas Baader beteiligt. Danach war sie in den Untergrund abgetaucht. Sie wurde wegen »Mordversuch« gesucht. Denn bei der Baader-Befreiung, die in einem wissenschaftlichen Institut in Westberlin stattfand, wo sich Ulrike Meinhof zusammen mit dem Häftling Andreas Baader treffen konnte, um über ein gemeinsames Buchprojekt zu reden, war dem Institutsangestellten Georg Linke in die Beine geschossen worden. Und zwar von einem vierten Mann, dessen Identität nie geklärt werden konnte (anders als die der Befreierinnen Ingrid Schubert, Irene Goergens und Gudrun Ensslin). Sie alle waren mit Baader durch ein geöffnetes Fenster gesprungen und dann mit zwei Autos geflüchtet. Diese Gefangenenbefreiung wurde unter vielen Jugendlichen und Intellektuellen bejubelt. Sie sahen darin eine endlich erfolgte Gegenwehr gegen die vom Staat ausgehenden Repressalien. Im Zuge der Proteste Ende der 60er Jahre gab es 20 000 Verfahren gegen junge Menschen wegen vermeintlich staatsfeindliche Handlungen – weil sie Mehl auf Politiker geworfen hatten oder Flugblätter für Arbeiter oder gegen den Krieg in Vietnam oder die Apartheid in Südafrika verteilt hatten. In diesem gesellschaftlichen Klima gründeten Baader, seine Befreier und noch paar andere 1970 die Rote Armee Fraktion mit der Hoffnung auf eine revolutionäre Umwälzung. Sie glaubten, »rote Armee aufbauen« zu können, wie es in ihrem Papier zur Befreiung hieß. Sie wollten die gesellschaftlichen »Konflikte auf die Spitze treiben«. Das Konfliktpotential stellten sie sich so vor: »Hinter den Eltern stehen die Lehrer, das Jugendamt, die Polizei. Hinter dem Vorarbeiter steht der Meister, das Personalbüro, der Werkschutz, die Fürsorge, die Polizei. Hinter dem Hauswart steht der Verwalter, der Hausbesitzer, der Gerichtsvollzieher, die Räumungsklage, die Polizei.« Man positionierte sich gegen den Krieg der USA in Vietnam, dem damals schon zwei Millionen Zivilisten zum Opfer gefallen waren. Die RAF richtete sich gegen den Staat, nicht gegen die Individuen: »Die Frage, ob die Gefangenenbefreiung auch dann gemacht worden wäre, wenn wir gewusst hätten, dass ein Linke dabei angeschossen wird – sie ist uns oft genug gestellt worden – kann nur mit Nein beantwortet werden.« Der westdeutsche Staatsapparat bezeichnete die RAF als »Kriminelle«, verfolgte sie aber als Staatsfeinde mit neuartigen Gesetzen, Fahndungsmethoden und Haftstrafen, die umstandslos auf die gesamte linke Szene ausgeweitet wurden. Und die linke Szene war damals noch sehr stark. Eine heutige Geschichtsschreibung hätte dringend zu klären, inwieweit damals tatsächlich die Gefahr einer realen Refaschisierung drohte, denn zahllose Ämter in Legislative, Exekutive und Judikative waren immer noch mit Funktionären aus der Nazi-Zeit besetzt. Die wenigen verurteilten NS-Täter wurden ab Beginn der 50er Jahre vorzeitig aus den Gefängnissen entlassen worden. Von den 6900 Auschwitz-Beschäftigten wurden beispielsweise nur 29 verurteilt, davon neun in der BRD und 20 in der DDR. Als Mitglied der RAF wurde Ulrike Meinhof am 9. Mai 1976 erhängt in ihrer Zelle im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim gefunden. Die Gruppe hatte für ihre Verteidigung, das grundgesetzlich garantierte Widerstandsrecht, gegen einen ihrer Einschätzung nach erneut faschistisch agierenden Staat in Anspruch genommen. Doch der Staat ließ sich auf eine politische Diskussion nicht ein, gerade weil der politische Charakter seiner Repressionsbemühungen nicht zu leugnen war. Nicht nur von ihren Unterstützern wurden die inhaftierten RAF-Mitglieder Politische Gefangene genannt. Vom Staat wurden sie in Isolationshaft gehalten. Wurde das intellektuelle Wirken Ulrike Meinhofs von den bürgerlichen Medien zunächst aufgespalten in die »bürgerliche« Journalistin und die »verrückt gewordene« RAF-Mitgründerin, so war es in der BRD bald allgemein verdächtig, sich überhaupt mit ihr zu beschäftigen. Ihre journalistischen Texte, die sie bis 1969 für die Zeitschrift Konkretverfasst hatte, verschwanden fast ganz aus dem öffentlichen Gedächtnis. Ihre Veröffentlichungen zur Heimpädagogik werden kaum je erwähnt, ebenso kennt man ihre Texte zur Frauenarbeit nicht, und fast undenkbar erscheint es, sie in Fach- oder Schulbüchern zu zitieren. In der Öffentlichkeit herrschen negative Bewertungen vor. Meist erfährt man nur etwas über sie im Rahmen der Darstellungen des »bewaffneten Kampfes«. Es sind Populär-Biografien, zunächst vor allem mit bibliografischem Anhang, der sich aus Veröffentlichungen ihres Ex-Mannes speiste, über sie gedruckt worden und schließlich die Biographie von Jutta Ditfurth. Die Finnin Katriina Lehto-Bleckert hat eine umfangreiche Doktorarbeit über Meinhof geschrieben, die sich an umfangreichem Quellenmaterial orientierte und eine Fülle von Originalzitaten aus Briefen verarbeitet. Meinhofs Texte hatten auch deshalb einen so großen politischen Einfluss auf das Bewusstsein der neuen und alten Linken, der Linksliberalen und auf einen Teil des evangelisch-wertkonservativen Spektrums, weil sie den Lesern nicht etwas aufgedrängen, sondern etwas aufzeigen. Ihre Kolumnen enthielten als Quintessenz, dass die Menschen im Grunde schon oft dabei sind, eigene Lösungen auszuprobieren. Ulrike Meinhof konnte aufklären, ohne zu entmutigen. Das ist eine ganz besondere Fähigkeit. Denn Aufklären ist oft eine undankbare und mühselige Aufgabe. Die literaturhistorische und ideengeschichtliche Auswertung der Texte von Ulrike Meinhof steht aus. Das Urteil, das im Mai 1970 öffentlich über sie verhängt wurde, sollte nach 44 Jahren endlich einer Analyse weichen.

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