Dienstag, 30. September 2014

Türkei: Öl ins Feuer

Quelle: german-foreign-policy vom 25.09.2014 BERLIN/ANKARA Gegen die deutschen Waffenlieferungen in den Nordirak formiert sich zunehmend Protest. Mit dem Transport deutschen Kriegsgeräts in das Kampfgebiet werde „Öl in ein Feuer gegossen“, das der Westen selbst mit entfacht habe, heißt es in einem Aufruf von Leipziger Kriegsgegnern, der am gestrigen Mittwoch anlässlich des geplanten Starts der Lieferungen veröffentlicht worden ist. Tatsächlich ist der Eroberungsfeldzug des IS, gegen den jetzt vor allem irakisch-kurdische Soldaten auch mit deutschen Waffen in Stellung gebracht werden sollen, nur möglich geworden, weil der Irak durch den westlichen Überfall des Jahres 2003 ebenso zerstört wurde wie Syrien durch die westliche, auch deutsche Unterstützung für die Aufständischen im dortigen Bürgerkrieg. Darüber hinaus hat nicht nur Saudi-Arabien, sondern übereinstimmenden Berichten zufolge auch Deutschlands NATO-Verbündeter Türkei den IS gefördert. Westliche Diplomaten haben dies schon vor geraumer Zeit eingeräumt. Solange der IS jedoch im Krieg gegen Assad nützlich war, hat auch Berlin billigend darüber hinweggesehen. Waffen ins Kriegsgebiet Eine technische Panne hat am gestrigen Mittwoch den Start der ersten deutschen Waffenlieferung an die irakisch-kurdischen Streitkräfte verzögert. Ein niederländisches Transportflugzeug, das 50 Panzerfäuste, 520 G3-Sturmgewehre und 20 Maschinengewehre, die zugehörige Munition sowie weitere militärische Ausrüstung über Bagdad nach Erbil bringen sollte, konnte wegen eines technischen Defekts den Flughafen Leipzig/Halle nicht verlassen. Man müsse ein Ersatzteil einfliegen, hieß es bei der Bundeswehr. Der Defekt solle jedoch „zeitnah“ behoben werden.[1] Für die kommenden Wochen sind zehn bis 15 weitere Flüge in den Nordirak geplant; sie sollen insgesamt 600 Tonnen Waffen und Ausrüstung in das Kriegsgebiet bringen. Zudem sind Fallschirmjäger der Bundeswehr auf dem Weg nach Erbil, um irakisch-kurdische Soldaten an der Waffe auszubilden. Sechs von ihnen, die seit Freitag wegen einer technischen Panne in Bulgarien festsaßen, seien am gestrigen Mittwoch in den Nordirak weitergereist, heißt es in Berlin. Erstmals seit 70 Jahren Gegen die geplanten Waffentransporte formiert sich nun Widerstand. Für den gestrigen Mittwoch riefen Kriegsgegner in Leipzig zu einer spontanen Protestkundgebung auf. „Heute werden deutsche Kriegswaffen erstmals seit fast 70 Jahren ihren Weg unmittelbar in einen Krieg antreten“, hieß es in dem Appell aus Leipzig; es sei „ein Hohn, dass diese Waffen gerade aus der ehemaligen ‘Stadt der friedlichen Revolution’ in den Irak geflogen werden“. Mit der Lieferung von Kriegsgerät werde „Öl in ein Feuer gegossen, das mit Hilfe der (westlichen) ‘Weltgemeinschaft’ erst gelegt wurde“. In der Tat ist der Eroberungsfeldzug des IS erst möglich geworden, nachdem die westlichen Staaten den Irak durch den Krieg des Jahres 2003 und Syrien durch Unterstützung für die Aufständischen des dortigen Bürgerkrieges ab 2011 zerstört haben. Im Falle Syriens kommt hinzu, dass ein zentraler Partner des Westens im Mittleren Osten, Saudi-Arabien, mit westlicher Billigung gezielt salafistische Milizen finanziert und aufgerüstet hat, auch den IS (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Darüber hinaus zeichnet sich immer deutlicher ab, dass auch der NATO-Partner Türkei das Erstarken des IS maßgeblich förderte. Türkisch-syrische Netzwerke Die undurchsichtige Rolle der Türkei bei der Unterstützung des IS ist schon lange Gegenstand von Spekulationen, aber auch von systematischen Untersuchungen. So kam beispielsweise das Genfer Forschungsprojekt „Small Arms Survey“ im April dieses Jahres zu dem Schluss, „alle kämpfenden Gruppen“ in Syrien, „insbesondere der ISIS“, könnten sich auf feste Netzwerke stützen, die die Einreise auswärtiger Kämpfer aus der Türkei nach Syrien organisierten. Dies könne je nach Wunsch „legal oder heimlich“ geschehen. Unter Bezug auf einen syrischen Journalisten hieß es etwa, ein „ISIS-Logistiker“ aus dem türkischen Antakya habe im Juli 2013 rund 300 Al Qaida-Kämpfer nach Syrien geschmuggelt. Zuletzt hätten die ISIS-Aktivitäten an der Grenze zu Syrien deutlich zugenommen. Dies deute darauf hin, dass sich der Organisation immer mehr ausländische Freiwillige anschlössen.[3] Letzteres deckt sich mit der Angabe deutscher Inlandsgeheimdienste, denen zufolge deutsche Salafisten zunehmend über die Türkei nach Syrien reisen, um sich dem IS anzuschließen. Offene Grenze Syrisch-kurdische Kämpfer beklagen schon lange, dass der IS auf türkischem Territorium auch Zuflucht findet und Waffen von dort erhält. Westliche Diplomaten räumen einem Bericht zufolge türkische Unterstützung für den IS zumindest für die Vergangenheit offen ein.[4] Selbst in diesen Tagen sei „die türkische Grenze bei Kobani offen für die aus aller Welt zum Morden nach Syrien strömenden Dschihadisten“, heißt es aktuell mit Bezug auf Quellen in der Region: „Verwundete IS-Kämpfer werden in türkischen Krankenhäusern behandelt. Züge und Militär-Lkw bringen Kisten mit Waffen und Munition für den IS an die Grenze.“[5] Das nähre den Verdacht, dass Ankara die seit geraumer Zeit in Nordsyrien etablierte syrisch-kurdische Selbstverwaltung zerschlagen wolle – entweder mit Hilfe des IS oder bei Bedarf durch eigene Truppen; für deren Einmarsch nach Syrien könne die aktuelle Flüchtlingskatastrophe den nötigen Anlass liefern. Rekrutierungszentren In den letzten Tagen ist zudem bekannt geworden, dass der IS Erdöl aus irakischen oder syrischen Quellen in die Türkei liefert – und den Erlös zur Finanzierung seines Eroberungsfeldzuges nutzen kann. US-Regierungsstellen sind überzeugt, der Geldfluss lasse sich prinzipiell weitgehend stoppen; Ankara verweigere dies jedoch.[6] Darüber hinaus stellen Beobachter fest, dass der IS in türkischen Städten Kämpfer rekrutieren kann, ohne dass die Behörden einschreiten. So seien allein aus Ankaras Stadtteil Hacibayram bis zu hundert Bewohner nach Syrien in den Krieg gezogen; von dort stamme ein hochrangiger IS-Kommandeur, der in Raqqa eingesetzt sei, aber regelmäßig zurück nach Ankara reise und dort neue Milizionäre anwerbe. „Es werden Rekrutierungszentren in Ankara und auch woanders in der Türkei eingerichtet, aber die Regierung scheint sich nicht darum zu kümmern“, wird ein Experte des Londoner Royal United Services Institute zitiert.[7] Wie in Afghanistan Erst kürzlich ist bekannt geworden, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) die Türkei systematisch ausspioniert. Dass Berlin nicht schon längst über die türkische Unterstützung für den IS im Bilde gewesen ist, ist deshalb kaum vorstellbar, zumal die deutschen Behörden durchaus in der Lage sind, Syrien-Rückkehrer noch am Flughafen zu identifizieren und gegebenenfalls festzunehmen; dies ist nur mit soliden Kenntnissen über die Reiserouten und das Geschehen vor Ort möglich. Bislang waren die Milizionäre des IS nützlich für den Kampf gegen Assad; man legte ihnen keine Hindernisse in den Weg und duldete billigend die türkische Unterstützung für sie, ganz wie im Fall der afghanischen Mujahedin, die in den 1980er Jahren vor allem von Saudi-Arabien gefördert wurden. Auch gegen den IS schreitet der Westen erst ein, seit dieser begonnen hat, sich – wie einst die afghanischen Mujahedin – gegen westliche Interessen zu wenden. Das Mittel, zu dem auch die Bundesregierung greift, ist dasselbe, mit dem der Westen bereits in Afghanistan gescheitert ist – Krieg. Weitere Berichte und Hintergrundinformationen zum Krieg gegen den IS finden Sie hier:Vormarsch auf Bagdad, Das feine Gespür der Öffentlichkeit, Von Kurdistan nach Alawitestan, Das Ende einer Epoche (I), Waffen für die Peschmerga und Das Ende einer Epoche (II). [1] Waffentransport für Kurden verzögert sich. www.mdr.de 24.09.2014. [2] S. dazu Vom Westen befreit (I). [3] Small Arms Survey: Foreign Jihadism in Syria. Dispatch No. 4, April 2014. [4] Amberin Zaman: Syrian Kurds continue to blame Turkey for backing ISIS militants. www.al-monitor.com 10.06.2014. [5] Ulla Jelpke: Schmutziges Spiel. www.jungewelt.de 23.09.2014. [6] David E. Sanger, Julie Hirschfeld Davis: Struggling to Starve ISIS of Oil Revenue, U.S. Seeks Assistance From Turkey. www.nytimes.com 13.09.2014. [7] Ceylan Yeginsu: ISIS Draws a Steady Stream of Recruits From Turkey. www.nytimes.com 15.09.2014.

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