Dienstag, 30. September 2014

Brüderliche Zusammenarbeit (Renate Hennecke)

Immer noch gibt es vergessene Gruppen von NS-Opfern. Wer kennt schon die Widerstandsorganisation »Brüderliche Zusammenarbeit der Kriegsgefangenen« (abgekürzt BSW nach dem russischen Namen)? Vor 70 Jahren, am 4. September 1944, wurden im KZ Dachau, wenige Meter vom Krematorium entfernt, 92 Aktivisten dieser Gruppe ermordet. In dem Bericht des Chefs der Münchner Gestapo über die Aufdeckung der BSW (Schäfer-Bericht) wird die Gruppe als »Geheimorganisation, die sicher in naher Zukunft ein für das Deutsche Reich gefährliches Ausmaß angenommen hätte«, eingeschätzt. Die BSW wurde Anfang 1943 gegründet. Millionen von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter/innen befanden sich zu dieser Zeit unfreiwillig im Deutschen Reich. Während ihre Heimatländer von Wehrmacht und SS-Einsatzkommandos verwüstet wurden, mußten sie die deutsche Kriegswirtschaft in Gang halten. Diese Millionen hatten allen Grund, die Nazis zu hassen, und viele unter ihnen waren mutig genug, um selbst unter den unvorstellbaren Bedingungen, unter denen sie leben mußten, Widerstand zu leisten. Andere suchten einen Ausweg, indem sie sich für eine der Kollaborationsarmeen meldeten, die auf der Seite der Nazis gegen das eigene Land kämpften und in den Lagern »Freiwillige« warben wie zum Beispiel die antisowjetische Wlassow-Armee. Die BSW wollte die deutsche Kriegswirtschaft schwächen – beispielsweise durch Arbeitsverweigerung, Langsam-Arbeiten und Sabotageakte – und die Rekrutierung von Kollaborateuren verhindern. Darüber hinaus wurde etlichen Gefangenen die Flucht ermöglicht und für den Zeitpunkt der Eröffnung der zweiten militärischen Front im Westen ein bewaffneter Aufstand geplant. Dabei wurde die Zusammenarbeit mit deutschen Antifaschisten gesucht. Eine solche kam tatsächlich mit der »Antinazistischen Deutschen Volksfront« (ADV) zustande, einer Münchner Gruppe um Karl Zimmet, Georg Jahres, Rupert Huber und das Ehepaar Hans und Emma Hutzelmann. Initiator der BSW war der sowjetische Offizier Josef Feldmann. Im Juni 1941 war Feldmann in der Ukraine in Kriegsgefangenschaft geraten. Er konnte seine Abstammung von deutschen Juden verheimlichen und wenig später fliehen. Zurück in Moskau erhielt er den Auftrag, sich als Freiwilliger für die Arbeit im Reich anwerben zu lassen und dort eine Geheimorganisation unter den Gefangenen und ausländischen Zivilarbeitern aufzubauen. Der Aufbau der BSW begann Anfang 1943 im »Russenlager« an der Münchner Schwanseestraße, wo Feldmann als Dolmetscher Zugang gefunden hatte. Von dort breitete sich die Organisation in kurzer Zeit aus. Der Schäfer-Bericht nennt 13 Lager in München und Umgebung, in denen die BSW im Sommer 1943 aktiv war. Darüber hinaus entstanden Kontakte zu Gefangenen im Stalag VIIA Moosburg sowie in ganz Süddeutschland und sogar bis nach Hamburg, Weimar und Erfurt, nach Österreich, in die besetzte Tschechoslowakei und zu den jugoslawischen Partisanen. Strikte Disziplin und konspiratives Verhalten waren für alle Beteiligten oberstes Gebot. Und doch geschah es: Am 4. Juni 1943 wurde bei der »Ostarbeiterin« Valentina Bondarenko ein Schreiben gefunden, »aus dem hervorging, daß unter den im Reich in Arbeit eingesetzten Ausländern eine Geheimorganisation besteht« (Schäfer-Bericht). Bei den Vernehmungen schwieg Bondarenko eisern. Sie wurde nach Auschwitz deportiert (und dort im Januar 1945 von der Roten Armee befreit). Bis zum November 1943 brauchte die Gestapo, um einen Spitzel in die Organisation einzuschleusen. Im Dezember fanden die ersten Verhaftungen statt. Insgesamt wurden 1943/44 unter der Beschuldigung, sich für die BSW »bolschewistisch betätigt« zu haben, 383 Personen verhaftet, darunter 19 Frauen. Sie wurden in Dachau ermordet, in Mauthausen, in Flossenbürg und an zahlreichen anderen Orten. Der sowjetische Historiker J. A. Brodski hat in seinen beiden Büchern »Die Lebenden kämpfen« (deutsch von Fritz Rehak 1968) und »Im Kampf gegen den Faschismus« (deutsch von Werner Eberlein u. a. 1975) die Geschichte der BSW festgehalten und den BSW-Kämpfern damit ein Denkmal gesetzt. Für die Zerschlagung der Organisation, bevor sie »ein für das Deutsche Reich gefährliches Ausmaß« annehmen konnte, machte er einerseits die verspätete Eröffnung der zweiten Front verantwortlich, die von den westlichen Alliierten bereits für den Herbst 1943 versprochen gewesen war. Außerdem seien viele führende BSW-Kämpfer bei ihren Planungen von der Voraussetzung ausgegangen, »daß in Deutschland in der letzten Phase des Krieges auf jeden Fall – wenn auch vielleicht in einer anderen Form – die gleiche Situation wie am Ende des ersten Weltkrieges entstehen werde«. Das Ausbleiben eines Aufstandes der deutschen Bevölkerung, in welcher Form auch immer, habe die sowjetischen Widerstandskämpfer in eine »für sie unerwartete und schwierige Lage versetzt, da sie sich darauf orientiert hatten, ihre Befreiungsaktionen mit denen des deutschen Volkes zu vereinigen«. An der Stelle, an der die 92 BSW-Kämpfer starben, errichteten Überlebende nach der Befreiung einen Gedenkstein, und am 4. September 1946 gedachten Münchner Antifaschisten dort der ermordeten Kameraden. Der Stein verschwand lange vor der Eröffnung der KZ-Gedenkstätte Dachau (1965) und wurde nie erneuert. Rotarmisten als Widerstandskämpfer zu würdigen, lag außerhalb der bundesdeutschen Vorstellungswelt in einer Zeit, in der selbst die deutschen Antifaschisten weithin noch als Verräter galten. Die Ausstellung in der Gedenkstätte erwähnt immerhin an einer Stelle die Hinrichtung der 92. Ihre Geschichte ist aber bis heute kaum bekannt.

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