Dienstag, 19. August 2014

Rätselraten um Flug MH17 – langsame Aufklärung befeuert Spekulationen

Dreieinhalb Wochen nach dem Abschuss des Malaysia Airlines Fluges 17 (MH17) gibt es immer noch keine offiziellen Untersuchungsergebnisse, die erklären könnten, was am frühen Nachmittag des 17. Juli im ostukrainischen Bürgerkriegsgebiet geschah. Wie kaum anders zu erwarten, sprießen im Netz nahezu täglich neue Spekulationen – einige davon sind absurd und lächerlich, andere sind jedoch durchaus interessant. Doch nicht nur die Spökenkieker, sondern auch die traditionellen Medien nutzen das Informationsvakuum aus – vor allem um Stimmung gegen Russland zu machen. Das Informationsvakuum nutzt so im Westen wie im Osten vor allem den Falken. Von Jens Berger. Die „offizielle“ Version Bereits kurz nach dem Absturz von MH17 tauchten die ersten Indizien auf, aus denen sich folgende Version der Ereignisse rekonstruieren lässt: Verschiedenen russische Quellen (ITAR-Tass, Rusvesna u.a.) meldeten am 29. Juni, dass Separatisten der „Volksrepublik Donezk“ die ukrainische Luftabwehreinheit A1402 überrannt haben und dabei unter anderem ein Luftabwehrsystem vom Typ Buk (SA-11) erbeutet haben. Eine solche Buk-Einheit wurde auch wenige Stunden vor dem Abschuss von MH17 von mehreren Augenzeugen, darunter einem AP-Reporter, in dem Städtchen Snizhne, das in unmittelbarer Nähe der Absturzstelle liegt, gesehen. In den Wochen vor dem Abschuss von MH17 haben Einheiten der Separatisten bereits mehrere ukrainische Militärflugzeuge abgeschossen – darunter einen Militärtransporter vom Typ Antonov An-26 am 14. Juli in 6.500 Meter Höhe. Kurz nach dem Abschuss von MH17 meldeten russischen Medien den Abschuss „einer weiteren An-26“ durch die Separatisten. Diese Indizien sprechen dafür, dass die Separatisten offenbar die Boeing der Malaysia Airlines mit einer ukrainischen An-26 verwechselt haben – ein Unglück, das selbst von kritischen Experten durchaus für möglich gehalten wird. Diese indizienbasierte Version, die allerdings bis dato ohne echte Beweise auskommen muss, wurde auch relativ schnell von offizieller Seite in Washington und den westeuropäischen Staaten als wahrscheinlichste Variante gesehen und wird auch die wenigen bislang veröffentlichten Aufklärungsdaten bestätigt. Als einzige Version gibt diese Variante auch eine klare Antwort auf die Motivlage der Täter. Doch es gibt auch Zweifel an dieser „offiziellen“ Version: Flugroute/Kurs Zahlreiche Internetseiten und auch einige wenige traditionelle Medien (z.B. das britische Boulevardblatt Daily Mail) berichten, dass MH17 am Abschusstag einen anderen Kurs flog als normal, was die Spekulation aufwirft, MH17 sei mit Absicht in das Separatistengebiet gelenkt und daher auch vorsätzlich von ukrainischen Kräften abgeschossen worden. Doch diese Spekulation hat einen Haken. Die Flugroute wurde nicht geändert, sondern entsprach der normalen Flugroute. Die „Theorie“, dass die Flugroute am Unglückstag eine andere war, stammt aus sozialen Netzwerken und gründet sich auf Daten des Portals Flightaware. Das Problem: Nach Aussagen des konkurrierenden Portals Flightradar24 hat Flightaware gar keinen Zugriff auf die Daten über der Ukraine und interpoliert daher den Kurs. Die Daten sind also nicht brauchbar für Aussagen über den exakten Kurs an bestimmten Tagen. Su-25 Häufig wird auch die Meldung kolportiert, MH17 sei von einem ukrainischen Kampfjet abgeschossen wurden. Die Ursprungsquelle für diese „Story“ ist das russische Verteidigungsministerium. Nachdem auf russischen Blogs bereits am Tag nach dem Abschuss unter Berufung auf „russische Sicherheitskreise“ kolportiert wurde, dass MH17 von einem ukrainischen Kampfjet abgeschossen wurde, legte das Verteidigungsministerium am 21. Juli nach und erklärte, dass sich zum Zeitpunkt des Abschusses eine ukrainische Su-25 in „drei bis fünf“ Kilometer Nähe zu MH17 befunden habe. Dies löste – erwartungsgemäß – in russischen und einigen westlichen Medien eine neue Erklärung aus: Die Su-25 habe MH17 abgeschossen. Untermauert wird dies durch vermeintliche Einschusslöcher (s.u.) im Wrack der Maschine, die – so die Quellen – nur von den Bord-MGs eines Kampfjets stammen können. Doch diese Story hat einen entscheidenden Haken: Die Su-25 ist ein Erdkampfflugzeug mit einer maximalen „Dienstgipfelhöhe“ von 7.000 Metern. Es ist also auszuschließen, dass eine Su-25 MH17 auf mehr als 10.000 Meter mit einem Bord-MG abschoss. Mit diesem Widerspruch wurden auch die Russen konfrontiert und kamen zu einer neuen Variante: Die Su-25 soll die MH 17 mit einer „kleinen“ Luft-Luft-Rakete beschädigt haben, so dass die MH 17 an Höhe verlor und dann von der SU-25 mit dem Bord-MG abgeschossen wurde. Das klingt recht phantasievoll, zumal es bei einem solch lang anhaltenden Luftgefecht doch sicher einen Funkspruch (May Day o.ä.) von MH17 gegeben haben müsste. Die Piloten einer Air-India-Maschine, die nur 25 Kilometer entfernt war, haben jedoch weder Funksprüche noch irgend etwas von einem Luftkampf und einer Su-25 mitbekommen. Ferner stellt sich die Frage, warum die Ukraine MH17 ausgerechnet mit einem Erdkampfflugzeug angreifen sollte, das nicht einmal im Ansatz auf die Höhe der Boeing kommt, wo man doch auch über Kampfjets vom Typ Su-27 verfügt, die über eine Dienstgipfelhöhe von mehr als 17.000 Meter verfügen. Angefeuert wurde die Su-25-Version übrigens bereits am Unglückstag durch skurrile Twitter-Beiträge eines angeblichen spanischen Fluglotsen in Kiew. Seltsam nur, dass „Carlos“ bereits im Mai unter Begleitung der russischen PR-Maschinerie die Ukraine verlassen hat und es auch ansonsten erhebliche Zweifel an „Carlos“ gibt, der in den sozialen Medien vor dem Abschuss offenbar regelmäßig als pro-russischer Hardliner aufgefallen ist. Ukrainische BUK-Einheiten So ganz geheuer war dem russischen Verteidigungsministerium die Geschichte mit der Su-25 wohl ohnehin nicht. Daher veröffentlichte man parallel Satellitenbilder, die beweisen sollen, dass sich eine ukrainische Buk-Einheit zum Tatzeitpunkt in der Nähe des Abschussortes aufgehalten haben soll. Anhand der Aufnahmen ist jedoch nicht zu klären, wer diese Buk-Einheit kommandierte. Wenn die unter anderem von Flightradar24 aufgezeichneten Positionsangaben von MH17 korrekt sind und es sich bei der Tatwaffe um ein Buk-System handelte, ist es ohnehin mehr als zweifelhaft, dass die Rakete von einem Gebiet abgeschossen wurde, das am 17. Juli nicht von der Separatisten kontrolliert wurde. Das Buk-System hat eine Reichweite von etwas mehr als 30 Kilometer, was einen Abschuss aus dem Gebiet, das damals von den Regierungstruppen kontrolliert wurde sehr unwahrscheinlich macht. Anders lautende Berechnungen, wie sie beispielsweise von Willy Wimmer aufgestellt werden, nachdem „mathematische Gesetzmäßigkeiten“ einen Abschussort nahelegen würde, der „fast 100 km westwärts“ von der Unglücksstelle liegen, beruhen offenbar auf einem Rechenfehler. Setzt man die mathematische Formel an, kommt man vielmehr auf eine „Wurfweite“ von rund 11 Kilometern, was sich mit den „offiziellen“ Daten deckt. Angefeuert wurde die Version, nach der MH17 von einer ukrainischen Buk-Einheit abgeschossen wurde, durch den Bericht des Journalisten Robert Parry auf Consortiumsnews.com. Darin zitiert Parry eine nicht genannte Quelle mit der Aussage, den US-Sicherheitsdiensten lägen detaillierte Satellitenbilder vor, die belegen würden, dass die Buk-Einheit von Soldaten bedient wurde, die „mit etwas gekleidet waren, dass nach ukrainischen Uniformen aussieht“. Man könne jedoch nicht ausschließen, „dass es sich vielmehr um ostukrainische Rebellen handelt, die ähnliche Uniformen trugen“. Ferner gäbe es Belege, dass die „beteiligten Soldaten undiszipliniert und vielleicht auch betrunken waren, das die Bilder etwas zeigen, dass so aussieht wie Bierflaschen, die rund um die Abschussplattform verstreut da lagen“. Es ist schwer, die Plausibilität der Story und die Seriosität dieser anonymen Quelle zu bewerten, zumal die nicht eben unerhebliche Zusatzinformation, wo die Buk-Einheit beim Abschuss genau stand, im Artikel nicht erörtert wird. Willkommen im Reich der Spekulationen. Einschusslöcher Bilder des Wracks der zersiebten Boeing „beweisen“ für einige nicht sonderlich zuverlässige Internetportale, dass MH17 nicht von einer Rakete getroffen wurde, sondern von einer Bordkanone (siehe Su-25) abgeschossen wurde. Diese Version beruht auf simpler Unkenntnis, wie eine Boden-Luft-Rakete funktioniert. Das Buk-System arbeitet mit Raketen mit einem sogenannten „Annährungszünder“, dass heißt, die Rakete schlägt nicht ins Ziel ein, wie man es aus Action-Filmen kennt, sondern explodiert in unmittelbarer Nähe des Ziels, das dann von Schrapnells zerfetzt wird. Die „Einschusslöcher“ sind also kein Indiz dafür, dass der Abschuss nicht durch eine Boden-Luft-Rakete erfolgte. Im Gegenteil. Untersuchung/ICAO Von einigen Seiten wird kritisiert, dass die Untersuchung nicht von der Internationale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) durchgeführt wird. Nach ICAO-Regeln ist jedoch stets der Staat, in dem das Unglück geschah, für die Untersuchung verantwortlich. Die Ukraine hat diese Aufgabe an die Niederlande weitergereicht. Die ICAO ist jedoch an den Untersuchungen beteiligt. Beteiligt sind auch die Luftsicherheitsbehörden von Malaysia, Australien, den USA, Russland, der Ukraine, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, und außerdem Vertreter von Boeing, der Europäische Kommission und der ECAC (Europäische Zivilluftfahrt-Konferenz). Satellitenbilder Vielfach wird kritisiert, dass die USA bzw. die NATO immer noch keine Informationen aus ihrer Satelliten- und Luftraumüberwachung veröffentlicht haben. Dieser Vorwurf ist angebracht, wird jedoch oft falsch formuliert. Richtig ist, dass USA und NATO keine Fotos veröffentlicht haben. Die Ergebnisse aus ihrer Überwachung haben die USA jedoch – was im Trubel ein wenig unterging – bereits einen Tag nach dem Abschuss bekanntgegeben. In einer Pressekonferenz sagte Präsident Obama am 18. Juli, dass MH17 nach den Aufklärungsergebnissen der US-Dienste von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde, die von ostukrainischem Territorium aus abgeschossen wurde. Diese Information deckt sich mit den sonstigen Indizien und ist nicht sonderlich spektakulär. Wichtiger ist daran jedoch, dass die häufig von deutschen Leitartiklern kolportierte Story, nach der MH17 von russischem Gebiet aus abgeschossen wurde, noch nicht einmal von den US-Diensten für möglich gehalten wird. Diese Story stammt von der ukrainischen Regierung, die in diesem Konflikt ohnehin komplett unglaubwürdig ist. Verwicklung Russlands Nicht nur die direkte, sondern auch die indirekte Verwicklung Russlands ist weder durch Indizien, noch gar durch Beweise gedeckt. Dass die USA keine derartigen Beweise haben, wird übrigens von offizieller Seite keineswegs bestritten. Lediglich die ukrainische Regierung versucht immer wieder auch über offizielle Kanäle eine Verwicklung Russlands zu konstruieren. Die Quellen dafür sind größtenteils obskure Meldungen, die vom ukrainischen Geheimdienst SBU gestreut werden. Erstaunlicherweise übernehmen vor allem die klassischen deutschen Medien mit Vorliebe die Lesart – inkl. Manipulationen – Kiews und ignorieren dabei sogar die offiziellen Statements Washingtons. Ganz vorne dabei ist übrigens der SPIEGEL, für den klar ist, dass Russland für den Abschuss von MH17 verantwortlich ist. Diese Version ist jedoch durch nichts gedeckt und auf ihre Art kaum besser als die Verschwörungstheorien der Spökenkieker der „anderen Seite“. Spekulationen werden angeheizt Den meisten dieser Spekulationen könnte durch die Veröffentlichung des Untersuchungsberichtes zum Absturz von MH17 der Nährboden entzogen werden. Doch der Bericht lässt noch auf sich warten. Warum dauern die Auswertung der Black Boxes und die Untersuchungen vor Ort eigentlich so lange? Dies mag an dem anfänglichen Zuständigkeitswirrwarr und der hohen Zahl der beteiligten Institutionen liegen. Das zuständige „Dutch Safety Board“ hat erst am 25. Juli begonnen, vor Ort Untersuchungen anzustellen. Die Niederländer wollen sich erst dann öffentlich äußern wenn alle Daten vorliegen und ausgewertet sind und vorab keine Einzelergebnisse (z.B. Auswertung der Black Box) veröffentlichen. Das kann dauern, denn momentan stockt die Arbeit vor Ort einmal mehr aufgrund der ukrainischen Offensive. Einerseits ist ja löblich, dass die zuständigen Ermittler offenbar besondere Sorgfalt walten lassen und Schnellschüsse vermeiden wollen. Andererseits nutzt die Verzögerung natürlich vor allem den Falken auf beiden Seiten, die ihrerseits das Informationsvakuum ausnutzen, um Propaganda zu betreiben. Und dies betrifft die westlichen Falken, für die Putin für den Abschuss verantwortlich ist, genau so wie die östlichen Falken, für die MH17 von der Ukraine abschossen wurde, um Russland in die Enge zu treiben. Diese Falken sitzen – im Westen wie im Osten – vornehmlich in den Redaktionsstuben, während man sich in den offiziellen Regierungsstatements vornehm zurückhält Es sind jedoch auch die westlichen Regierungen, die die Spekulationen munter durch eine Informationsblockade anheizen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die USA und die NATO-Staaten über Aufklärungsdaten (z.B. Satellitenbilder und/oder Fernaufklärungsergebnisse) verfügen, die schon seit Wochen ein wenig Licht ins Dunkel hätten bringen können. Warum werden diese Dokumente nicht veröffentlicht? Jede weitere Verzögerung gießt zusätzlich Öl ins Feuer und nutzt schlussendlich nur den Falken. Bildnachweis (von oben nach unten): Global Securtiy, New Strait Times, US-Verteidigungsministerium

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