Freitag, 28. März 2014

Leningrad: Symbol des Leidens im Krieg

Aus drei Tagebüchern, 1941/42 (aus: Ales Adamowitsch, Daniil Granin, Das Blockadebuch. Berlin 1984, S. 109, 133ff., 144f., 155f., 167f., 190f.) Quelle: Red Channel Georgi Alexejewitsch Knjasew, Direktor des Archivs der Akade­mie der Wissenschaften: 21. 10. 1941. Einhundertzweiundzwanzigster Tag. Die Versor­gungslage Leningrads verschlechtert sich. Für die zweite Okto­berdekade haben Familienangehörige eine Brotration von 200 g, 100 g Fleisch, 200 g Graupen, 100 g Fischerzeugnisse, 50 g Zuc­ker, 100 g Süßwaren und 100 g Pflanzenöl erhalten, Angestellte und Kinder etwas mehr; Arbeiter erhalten das Doppelte von Angestellten. Für Geld kann man nichts kaufen, deshalb schätzt man es auch nicht. Wer viel Geld hat, weiß nicht, wohin damit, und kauft entweder allen möglichen Plunder (teure Parfüms u. dgl.) oder hamstert (wer praktischer denkt) in den Geschäften die Reste von Textilien, um etwas zum Tauschen zu haben, wenn das Geld jeden Wert verliert. Von allen bevorstehenden Prüfungen ist der Hunger für die Leningrader wohl das Aller­schlimmste. Der Hunger und die Bombenangriffe! … 12. 11. 1941. Einhundertvierundvierzigster Tag. Jetzt hat er nicht nur mit knöchernen Fingern an die Tür geklopft, sondern ist eingetreten – der Hunger. Die Versorgungslage in Leningrad ist schlecht. Darüber be­richten Rundfunk und Zeitungen. »Die Bolschewiki vertuschen die Wahrheit nicht vor dem Volk.« Die Lage ist schwer. Sie wird auch nicht besser werden, solange die Blockade nicht auf­gehoben wird. Von morgen an wird die Brotration nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für Armeeangehörige verrin­gert. Die Stadt »der Gnade des Feindes« auszuliefern – wie Kleinmütige erwägen – kommt nicht in Frage. Leningrad muß um jeden Preis verteidigt werden. Von einer Kapitulation kann keine Rede sein! Wir müssen alle uns auferlegten Belastungen und Prüfungen durchstehen, darunter auch den Hunger. Gelassen begannen M. F. und ich diese neue Etappe unseres Lebens. Entweder »wir stehen es durch« oder wir sterben. Aber besser nicht an die Zukunft denken. Ist sie Gegenwart, müssen wir auch mit ihr fertig werden. Die Deutschen wollen uns aushungern. Werden die etwa 4 Millionen Leningrader diese schwere Prüfung bestehen? Aber nicht nur aushungern. Heute war Flugwetter, da gab es tagsüber fünfmal Alarm. Beim letzten langen Angriff am Abend spürten wir wieder die Erschütterung des Hauses. Es »hüpfte hoch«. Demnach hatte ganz in der Nähe eine Bombe einge­schlagen. Und offenbar nicht nur eine. M. F. und ich standen auf, als das Haus »hochhüpfte«, setzten uns dann wieder und tranken unseren abendlichen Tee. Morgens gab es Artilleriebe­schuß. Also Hunger, Kälte, Bomben und Artilleriegeschosse, die jaulend über unsere Köpfe fliegen. M. F. sagt: »Wir stehen alles durch. Hauptsache, die Deut­schen werden vertrieben.« 16. 11. 1941. Einhundertachtundvierzigster Tag. Seit dein Morgen haben wir versucht, uns gründlich zu waschen und frische Wäsche anzuziehen – vergebens. Ein Alarm nach dem anderen ließ uns nicht zur Ruhe kommen. Wir haben alle Ge­genstände weggeräumt, die herabfallen könnten – die spanische Wand, Bilder, Vasen, den Spiegel usw. Die Wohnung gleicht jetzt einem Schuppen. Um 4 Uhr begann wie nach Plan der Artilleriebeschuß. Wir haben die Fenster noch zusätzlich mit Lumpen verhängt, damit die Glassplitter bei einer Druckwelle nicht zu weit fliegen. In meinem Arbeitszimmer habe ich die Lampe vom Tisch genom­men und in die Ecke gestellt, die Kaminuhr steht an der Wand. Fast mitten im Zimmer steht eine Kiste mit Sand, am Kamin ein Behälter und ein Eimer mit Wasser. Die Nachbarn haben ungeachtet der Kälte die Fenster geöff­net, im Zimmer liegen Ziegel, Lehm, Zement. Der ganze Fuß­boden ist schmutzig, überall liegt eine Schicht Kalkstaub. Den dritten Tag schon errichten Handwerker in den Fenstern, die auf die Uferstraße gehen, Schießscharten für Maschinengeweh­re. Alle Sachen sind von ihrem Platz gerückt und woanders hingestellt. Natürlich kann man in solchen Zimmern nicht wohnen. Die Bewohner haben sich in der Küche eingerichtet, deren Fenster auf den Hof gehen. Bald werden wohl auch wir unsere Wohnung verlassen müs­sen. Mir tut es eigentlich nur um die Bücher, um diese Auf­zeichnungen hier und um das zusammengetragene Material und die Sammlungen leid. Aber vielleicht werden wir schon vorher ausgebombt, oder das Haus brennt ab … 17. und 18. 12. 1941. Einhundertneunundsiebzigster und ein­hundertachtzigster Kriegstag. An der Front versetzen unsere Truppen den deutschen Okkupanten einen Schlag nach dem anderen. Die vom Feind besetzten Abschnitte der nördlichen Bahnlinie bei Leningrad (von Tichwin bis zum Wolchow) sind frei. Die Oktober-Linie wird freigemacht. Nur die nach Mur­mansk ist noch fest in finnisch-deutscher Hand. Ihre Truppen sitzen in Petrosawodsk. In Murmansk lagert eine Menge Le­bensmittel für Leningrad. Diese Nachricht geht von Mund zu Mund. Die müden, geschwächten Menschen schöpfen neue Kräfte. Viele können sich schon nicht mehr erheben. Gestern starb ein Mann in der Nähe unseres Akademiegebäudes, unweit der schon mehrfach erwähnten Säulen. Unser Hausmeister, Sawtschenko, sah, wie eine Frau ihn am Arm über die Straße führte. Er konnte kaum gehen und fiel neben der Straßenbahn­schiene zu Boden; sie richtete ihn auf, er tat noch wenige Schrit­te, erreichte aber den Gehsteig nicht mehr. Neben einem Schneehaufen fiel er hin. Als Sawtschenko hinzutrat, atmete der Mann schon nicht mehr. Eine Frau, seine Gattin, machte sich an dem Toten zu schaffen. Passanten, die sahen, was sich ereignet hatte, rieten der Frau, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie seine Frau war, sondern sich wie eine Fremde zu verhalten. Dann wäre die Miliz verpflichtet, den Toten abzutransportieren und zu bestatten. Genau so geschah es. Ein hinzutretender Mi­lizionär hielt einen vorbeifahrenden Schlitten an, und der Leichnam wurde zum Abtransport in die Leichenhalle darauf­gelegt. Was aus der Frau geworden ist, die ihren Mann verlor und ihn nicht einmal bestatten konnte, weiß ich nicht … Jura Rjabinkin, ein sechzehnjähriger Schüler: 6., 7. November 1941. Über die Lage an den Fronten ist mir nichts bekannt. Stalin soll eine Rede gehalten und darin die Ursachen unseres Rückzugs erläutert und die USA und England auffal­lend scharf angegriffen haben, weil ihre Unterstützung zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenig effektiv sei und wir praktisch allein gegen Deutschland kämpften. Ich müßte mich eingehen­der mit dieser Rede befassen. Der Schulunterricht geht weiter, gefällt mir aber gar nicht. Wir sitzen in Pelzmänteln auf den Bänken, viele Schüler erledi­gen ihre Aufgaben überhaupt nicht. In Literatur ist bezeich­nend, daß manche nur die im Lehrbuch abgedruckten Aus­schnitte aus den »Toten Seelen< nacherzählen. Einige haben das Buch überhaupt nicht gelesen. Wir haben keinen Reis für Brei mehr. Demnach werde ich drei Tage hungern müssen. Da werde ich mich kaum vom Fleck bewegen können, falls ich überhaupt gesund bleibe. Ich habe wieder Wasser. Werde wieder anschwellen, na und wenn … Mutter ist krank geworden. Es muß ernst sein, da sie keinen Hehl daraus macht. Husten, Schnupfen mit Brechreiz, Heiser­keit, Fieber und Kopfschmerzen. Ich bin bestimmt auch krank geworden, habe gleichfalls Fie­ber, Kopfschmerzen, Schnupfen. Wahrscheinlich alles nur, weil ich während der Luftschutzwache in der Schule ohne Mantel und Mütze drei Höfe überqueren mußte. Und das um Mitter­nacht, bei Frost. Ich kann den Unterrichtsstoff jetzt einfach nicht mehr auf­nehmen und habe gar keine Lust zum Lernen. Ich denke immer nur ans Essen, an die Bombenangriffe und Geschosse. Gestern habe ich den Abfallkorb in den Hof getragen und bin kaum wieder zurück in unseren ersten Stock gekommen. Ich war so schlapp, als hätte ich eine geschlagene halbe Stunde zwei Pud geschleppt, mußte mich hinsetzen und kriegte kaum Luft. Jetzt ist Alarm. Die Flak schießt aus allen Rohren. Auch ein paar Bomben haben eingeschlagen. An unsrer Uhr ist es fünf Minu­ten vor fünf. Mutter kommt kurz nach sechs. 9. und 10. November. Wenn ich einschlafe, träume ich jedes­mal von Brot, Butter, Piroggen und Kartoffeln. Außerdem den­ke ich vor dem Schlafen stets daran, daß die Nacht in zwölf Stunden vorüber ist und ich dann ein Stück Brot essen kann. Mutter erklärt mir jeden Tag, daß sie und Ira täglich nur zwei Glas heißen Tee mit Zucker und einen halben Teller Suppe bekommen. Nicht mehr. Und noch einen Teller Suppe abends. Dennoch scheint mir … Ira lehnt zum Beispiel abends eine zweite Portion Suppe ab. Beide behaupten, ich bekäme so viel wie ein Arbeiter, und verweisen darauf, daß ich in den Gaststät­ten zwei Teller Suppe kriege und mehr Brot als sie. Mein Cha­rakter hat sich stark verändert. Ich bin schlapp und schwach geworden, beim Schreiben zittert mir die Hand, heim Gehen schlottern mir die Knie, mir ist, als müßte ich nach dem näch­sten Schritt umfallen … In der letzten Dekade mußten wir 400 g Graupen, 615 g But­ter, 100 g Mehl verfallen lassen. Diese Dinge waren nirgends zu haben. Wo sie trotzdem verkauft wurden, bildeten sich sofort riesige Schlangen, Hunderte und aber Hunderte standen bei bitterer Kälte auf der Straße, dabei reichte die Lieferung allen­falls für 80 bis 100 Menschen. Die Leute aber blieben, froren und gingen mit leeren Händen weg. Um 4 Uhr morgens stan­den sie auf, warteten bis 21 Uhr vor den Verkaufsstellen und kriegten doch nichts. Das ist schlimm, aber nicht zu ändern. Jetzt ist Alarm. Er dauert schon an die zwei Stunden. Not und Hunger treiben die Leute zu den Läden, in die Kälte und in die langen Menschenschlangen, wo sie sich drängen und stoßen lassen. Und das wochenlang. Danach hat man keine Wünsche mehr. Es bleibt nur stumpfe, kalte Gleichgültigkeit gegenüber allem, was vor sich geht. Du ißt dich nicht satt, schläfst nicht genug, frierst und sollst zu alledem noch lernen. Ich kann nicht. Soll Mutter entscheiden, wie’s weitergeht. Ist sie außerstande, das zu entscheiden, versuche ich es für sie. Und der Abend – was bringt er mir? Mutter kommt mit Ira, hungrig, durchfro­ren, müde. Sie können sich kaum fortbewegen. Zu Hause kein Essen, kein Feuerholz für den Herd. Nur Geschimpfe und Vor­würfe, daß unten jemand wohnt, der Graupen und Fleisch ge­kriegt hat, ich das aber nicht fertiggebracht habe. Auch in den Läden hat es Fleisch gegeben, aber ich habe keines erwischt. Mutter schlägt die Arme über dem Kopf zusammen, setzt eine naive Miene auf und sagt seufzend: »Ich habe auch zu tun, muß arbeiten. Ich kann nichts besorgen.« Und wieder muß ich anste­hen und ohne Ergebnis. Ich sehe ja ein, daß ich allein Essen besorgen und uns alle drei wieder zum Leben erwecken kann, aber mir fehlen die Kräfte, die Energie dazu. Ja, wenn ich Filz­stiefel hätte! Doch ich habe keine. Und jedes Anstehen bringt mich der Pleuritis, der Krankheit näher. Da sage ich mir dann: Besser die Wassersucht! Und trinke lieber, so viel ich kann. Jetzt habe ich aufgedunsene Wangen. Noch eine Woche, zehn Tage, einen Monat, und wenn mich bis zum Neujahr keine Bombe getroffen hat – schwelle ich an. Ich sitze und weine. Ich bin doch erst sechzehn! Die Hunde, die diesen Krieg vom Zaun gebrochen haben! Lebt wohl, ihr Träume der Kindheit! Nie werdet ihr zu mir zurückkehren: Ich werde euch meiden wie Aussätzige, Tollwü­tige. Der Teufel soll alles Vergangene auslöschen, damit ich nicht mehr weiß, was Brot, was Wurst ist! Damit ich nicht mehr ganz benommen werde von den Gedanken an vergangenes Glück! Glück!! So nur kann ich mein früheres Leben bezeich­nen. Ruhe um die Zukunft! Was für ein Gefühl! Nie werde ich es mehr empfinden … Lidija Georgijewna Ochapkina, 28 Jahre: Notizen ohne Datum, hier Winter 1941/42 Insgeheim wünschte ich mir, zusammen mit den Kindern zu sterben, und lebte in panischer Angst, zum Beispiel auf der Straße getötet zu werden. Dann würden die Kinder schrecklich weinen, nach mir rufen und schließlich in dem kalten Zimmer verhungern. Meine Ninotschka weinte ständig, lange und ge­dehnt und konnte nicht einschlafen. Ihr Weinen war wie ein Stöhnen und brachte mich schier um den Verstand. Damit sie einschlief, ließ ich sie mein Blut saugen. Längst hatte ich keine Milch mehr in der Brust, ja, ich hatte überhaupt keine Brüste mehr, sie waren verschwunden. Deshalb stach ich mir mit einer Nadel über dem Ellenbogen in den Arm und legte die Kleine an diese Stelle. Sie saugte leise und schlief ein. Lange konnte ich keinen Schlaf finden, begann zu zählen und verzählte mich dau­ernd. Ich mußte an Tolstois >Krieg und Frieden< denken. Darin zählt Pierre Besuchow auch bis tausend, um einzuschlafen. Ich aber verzählte mich fortwährend und dachte immer nur daran, wie ich Essen auftreiben könnte; irgend etwas. Ständig schweb­ten mir große Brote vor Augen, oder ich las auf dem Feld Kartoffeln. Ich las einen ganzen Sack voll und konnte ihn nicht wegtragen. Einmal bekam ich auf dem Trödelmarkt Tischler­leim, es war ein Gelegenheitskauf. Daraus kochte man damals Sülze. Ich kochte mir auch welche, aß sie und gab auch Tolik davon. Bei Ninotschka hatte ich Angst. Vom Leim bekamen wir jedoch Verstopfung, deshalb kochte ich keinen mehr. Ein andermal konnte ich Schweinsleder kaufen. Es war schmack­hafter, aber man mußte es lange kochen, damit es weich wurde, und mir tat es um das Petroleum leid, ich hatte nur noch wenig. In der Wohnung war es schrecklich kalt, die Wände waren bereift wie die eines Schuppens im Winter. Mußte ich Ni­notschka trocken legen, dann kroch ich zu ihr unter die Decke und schob die trockene Windel unter sie, damit sie sich nicht erkältete, die andere warf ich auf den Fußboden, und sie gefror im Nu, wie nasse Wäsche im Freien gefriert. Ich hatte kein Thermometer, aber die Lufttemperatur lag bestimmt unter Null. Ich war schon so abgemagert, daß meine Beine eigentlich keinen Körper mehr zu tragen hatten. Meine Brust war wie bei einem Mann, nur Warzen. Die Haut spannte sich über meinen Backenknochen, die Augen waren eingefallen. Die Kinder wa­ren gleichfalls sehr mager, mir blieb das Herz stehen, wenn ich ihre dünnen Beinchen und Armchen und die kleinen, durch­sichtigen Gesichter mit den großen Augen sah. Brennholz hat­ten wir überhaupt keins. So konnten wir auch kein Wasser heiß machen oder etwas kochen. Rosa sagte mir, bei ihnen im Keller läge noch etwas Kohle, sie fürchte sich jedoch hinunterzugehen, weil man dort die Toten ablege. Ich sagte: » Das macht nichts, ich muß unbedingt hinunter.« Wir nahmen Eimer und gingen. Tatsächlich lagen einige Leichen dort. Wir vermieden, sie anzu­sehen, packten schnell unsere Eimer voll, gleich mit den Hän­den, und gingen eilends wieder weg.

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