Sonntag, 16. Juni 2013

Brief aus Tunesien (Susanna Böhme-Kuby)

Eine Reise in die tunesische (Zivil-)Gesellschaft eröffnet vielfältige Einblicke in ein arabisches Land, das dank des überall präsenten Französisch unmittelbar zugänglich ist. Unsere kleine Reisegruppe in kundiger Begleitung zweier taz-Journalistinnen erreichte Tunis zeitgleich mit den Teilnehmern des Welt-Sozialforums. Unter dem Motto der Revolution vom Januar 2011: »Würde, Freiheit, Arbeit!« wurde die große bunte Eröffnungsdemo der gut 40.000 Teilnehmer durchs Zentrum von Tunis angeführt von der Witwe Chokri Belaïds, des im Februar auf offener Straße ermordeten Politikers der tunesischen Volksfront (Front Populaire). Er hatte die linke Opposition geeint und wird heute im ganzen Land als Lichtgestalt der Revolution verehrt, sein Tod ist Ansporn, weiterzukämpfen. Die lokale Presse äußerte sich stolz über die Ausrichtung dieses gewichtigen Treffens gerade in dem Land, in dem die sogenannte Arabellion 2011 begonnen hat, aber noch längst nicht vollendet ist. Denn, so eine politische Erkenntnis dieser Reise: Der Diktator wurde verjagt von mündigen Staatsbürgern, die sich nun endlich »frei« fühlen, frei zu demonstrieren, zu protestieren und weitere demokratische Rechte einzufordern. Die Erleichterung darüber, nach Jahrzehnten der Angst, der Verfolgung oder Anpassung, ist spürbar, auch darüber, daß es wenig Blutvergießen gab, denn das Militär hielt sich zurück. Aber die Strukturen der Verwaltung, der Wirtschaft sind noch weitgehend die alten oder werden nun besetzt von Vertretern der stärksten Regierungspartei Ennahda (in einer »Troika«), das heißt von islamistischen Kräften, die das Rad der Geschichte zurückdrehen und den Volkszorn religiös-fundamentalistisch einbinden wollen. Der herrschende wirtschaftliche Neoliberalismus bleibt dabei unangetastet, die meisten Weltfirmen sind längst vor Ort, in den großen Neubauvierteln um den Lac de Tunis. Von dem neuen privilegierten Partnerstatus mit der EU verspricht man sich Aufschwung, immerhin ist Europa mit 80 Prozent des Austauschs der wichtigste Handelspartner und kontrolliert die größte Ressource, die Phosphatvorkommen. Dennoch hoffen die meisten Fraktionen des breiten politischen Spektrums, die tunesische Politik selbst bestimmen und wichtige soziale Einrichtungen vor der Privatisierung bewahren zu können. Daß das schwer werden dürfte, schon angesichts der bestehenden Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU, die schon Ben Ali unterstützt hatten, wird lediglich von der linken Front Populaire thematisiert. Sie fordert zum Beispiel, den hohen Zinsendienst für die Staatsverschuldung einige Jahre lang auszusetzen, und diese immerhin 18 Prozent des tunesischen Staatshaushalts betragende Summe für eine wirksame Arbeitsmarktpolitik einzusetzen. So war denn auch das Fazit eines Seminars über den aktuellen Stand der Revolutionen in Tunesien und speziell in Ägypten, wo der politische Islam bereits die Oberhand hat: »Der Islam ist nicht die Lösung – er ist auch nicht das Problem.« Und doch begleitete uns der komplexe Islambegriff auf der ganzen Reise mit seinen kulturellen und politischen Konnotationen. In der europäisch geprägten Millionenstadt Tunis sind es vor allem hochengagierte emanzipierte Frauen, die zum Ausdruck bringen, daß sie hinter ihren – schon unter Präsident Habib Bourguiba erreichten – zivilen Status nicht zurückgehen, sondern den Staat durch eine fortschreitende Emanzipation weiter liberalisieren werden, zum Beispiel durch Verankerung ihres Erbrechts und anderer Bürger- und Menschenrechte in der neuen Verfassung, auf deren Verabschiedung alle drängen und warten. Wir erfahren von der frühen Entwicklung der Frauen im Lande, die schon vor Jahrtausenden, bei den Berbern und dann im punischen Karthago gleichberechtigte Positionen einnahmen, was noch im Unterbewußtsein vieler Tunesierinnen verankert sein soll. Die junge Bloggerin »Tunesian girl«, namens Lina Mhenni, ist Tochter eines der Begründer von Amnesty International in Tunis, und setzt dessen Kampf seit 2009 auf ihre Art per Internet fort; ihr Bericht darüber liegt auch auf Deutsch vor: »Vernetzt euch!« Die lange verfolgte Menschenrechtsaktivistin Sihem Ben Sedrine gibt uns im neuen Büro ihres widerständigen Radio Kalima Einblick in die großen Probleme der Etablierung freier Medien nach jahrzehntelanger Zensur. Und die kämpferische Theatermacherin Leila Toubel, Dramaturgin am Theater El Hamra, das bereits seit den 1920er Jahren als kritisches Kulturzentrum fungiert, zeigt in ihrem jüngsten satirischen Stück »Monstranum S« ein illusionsloses Bild der Postrevolution – eine Art Monsterparade tunesischer Wendehälse in über die Bühne hin- und herflitzenden Rollstühlen. Toubel warnt uns im Gespräch vor dem taktisch gemäßigten Image der regierenden Ennahda-Partei, von dem uns ein Mitglied des Parteivorstands am nächsten Tag eine Kostprobe gab. Der politische Islamismus unterscheidet sich laut Toubel nur graduell in Gemäßigte und sogenannte Salafisten, er trage faschistoide Züge und sei nicht zu verwechseln mit der moslemischen Kultur, die auch die tunesische Gesellschaft seit Jahrhunderten geprägt hat und in ihr weiterlebt, zum Privatleben eines jeden gehörend oder auch nicht. Dieses – vor allem in den Städten – verbreitete säkulare Verständnis der Religion ist Resultat der forciert religionsneutralen Modernisierung des Landes mit starker West-Orientierung durch Habib Bourguiba, den Sieger im Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich und Staatschef der Republik von 1959 bis 1987. Dessen Erziehungsdiktatur führte die Tunesier aus Analphabetismus und Subalternität heraus und seit den 1970er Jahren zur Entwicklung einer autoritären Marktwirtschaft mit gebildeter Mittelklasse in einer Einparteienrepublik. Die mußte zunächst nicht durch ein Polizeisystem diszipliniert werden, und das Militär spielte kaum eine Rolle. Nachdem ein staatssozialistischer Ansatz zur genossenschaftlichen Umgestaltung der Landwirtschaft in den 1960er Jahren gescheitert war – was kommunistische Perspektiven bis heute desavouiert –, blieb die Entwicklung seit Ende des 19. Jahrhunderts auf wenige Industriezentren im Umfeld des Phosphatabbaus beschränkt, daneben Raffinerien, Maschinenbau und Textilien. In den seit den 1980er Jahren virulenten Krisenerscheinungen (sogenannte Brotunruhen) erhielten linke Kräfte wieder Auftrieb, die dann brutal vom Polizeiapparat unterdrückt wurden, wie auch Islamisten. Die Absetzung Bourguibas durch seinen Minister Ben Ali (1987) und dessen zunehmend korrupte Clanherrschaft führte mit zur Stagnation im Lande und zu dessen Auslieferung an die neoliberalen Kräfte des globalen Marktes. In der seit je kaum entwickelten konservativen Agrargesellschaft des Südens hatte sich Bourguibas Marginalisierung der Religion nicht durchsetzen können. Der Aufschwung der Küstenregionen nach der Unabhängigkeit (mit 65 Prozent der Bevölkerung) erfolgte offensichtlich auf Kosten des Landesinneren. Das heilige Kairouan, ältestes islamisches Zentrum im Maghreb mit seinen 50 Moscheen, war denn auch die erste Stadt, die wir auf der Busfahrt gen Süden erreichten. Längs der Gebirgszüge des Atlas und vorbei an endlosen, überwiegend privaten Kleinbauern gehörenden Olivenplantagen und mit Plastiktütenresten übersäten Kakteenhecken (nach der Revolution kommt es vermehrt zu Streiks im öffentlichen Dienst, auch bei der Müllabfuhr) ging es nach Sidi Bouzid, jenem verschlafenen Landstädtchen, in dem sich der junge Gemüsehändler Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 verbrannt hatte, was als Auftakt der Revolution gilt. Doch er war nicht der erste, wie uns junge Lehrer und Blogger im hellen, modernen Kulturzentrum erzählen. Sie zeichnen ein trostloses Bild der anhaltenden Stagnation nach der Diktatur und der noch immer fehlenden Entwicklungsperspektiven für gut 80 Prozent der lokalen Bevölkerung, die jünger als 30 Jahre sind, schulisch gut gebildet, aber zu 52 Prozent arbeitslos (gegenüber 18 Prozent im Landesdurchschnitt). Von der regierenden Ennahda erwarten sie keine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation mehr, ihr Vertrauen in Parteien ist gering, wie politisches Bewußtsein überhaupt. Auch von den offiziellen Medien fühlen sie sich vernachlässigt. So hoffen die jungen Leute allein auf »die Wirtschaft« im Lande und setzen vorerst auf ihre Internet-Vernetzungen und auf Entwicklungsprojekte nicht nur aus Europa, Deutschland ist mit einem GIZ-Projekt dabei. Legale Ausreisemöglichkeiten haben sie nicht, (Nicht-Geschäfts-)Reisen in die Schengen-Festung erfordern individuelle Einladungen und hohe Bankkautionen – der monatliche Mindestlohn liegt im ganzen Land bei 100 Euro. Die Verschärfung der Wirtschaftskrise im letzten Jahrzehnt hat nicht nur die illegale Emigration übers Mittelmeer befördert, sondern auch sozial-karitative Aktivitäten der bis 2011 nur im Untergrund agierenden Islamisten. Sie wurden inzwischen zu Nutznießern einer Revolution, an der sie selbst kaum Anteil hatten. Doch das Aufbrechen sozialer Strukturen fand in der politischen Leere kein anderes Auffangbecken als eben die Religion. Die hohe Arbeitslosigkeit ermöglicht es aus den Golfstaaten finanzierten Extremisten, zahllose junge Männer zu bewaffnen und sie in den Kampf nach Syrien zu schicken (man schätzt deren Zahl inzwischen auf Tausende) oder in den Grenzschmuggel nach Libyen mit Waffen sowie mit von Tunesien subventionierten Grundgütern. Doch man warnt uns auch vor der Instrumentalisierung dieser Phänomene in westlichen Medien. Vertreter der Einheitsgewerkschaft UGTT berichten in ihrer Zentrale in Gafsa, der Hauptstadt der Phosphatminen, daß nach der Revolution die Förderung um etwa 60 Prozent zurückgegangen ist. Von einst 15.000 Arbeitern (1990) sind heute noch 5.400 beschäftigt. Ab 2008 mehrten sich Unruhen und Streiks, bei denen Aufständische von der Polizei erschossen und Hunderte eingesperrt wurden. In den Chemiefabriken von Redieff loderte seit langem ein Schwelbrand, denn hier ist durch fehlende Umweltschutzmaßnahmen die Gesundheit der Menschen und der umliegenden Landwirtschaft aufs Spiel gesetzt worden. Die Rate der Krebskranken ist hoch; wertvolles Grundwasser wird für die Fabriken entnommen und sogar in die Tourismusgebiete abgeleitet, anstatt moderne, schon entwickelte Wassergewinnungsprojekte aus dem Grenzfluß zu Algerien oder sogar aus dem Meer umzusetzen. Man könne vieles tun, um das Landesinnere zu entwickeln und die Ungleichheiten abzubauen, Tunesien habe viele Möglichkeiten, sagt uns ein Lehrer auf dem Weg zur alten Oase von Gafsa – aber alles erfordere Investitionen und neue, den lokalen Erfordernissen entsprechende Direktiven kompetenter Administrationen. Der junge belesene Betreiber einer Dattelplantage in Douz, dem Tor zur Wüste, wo es seit März 2012 nicht geregnet hat, setzt lieber auf Direktverkauf seiner Ernte übers Internet, und die jungen Leute, die im verfallenen Höhlendorf Douriet ein romantisches Höhlenhotel betreiben, warten auf alternative Touristen, die atemberaubende Ausblicke ins Dahar-Gebirge erleben wollen. Das landschaftlich vielfältige Tunesien mit seinem reichen (Welt-)Kulturerbe und heute oft brachliegender Tourismus-Infrastruktur ist viele Reisen wert, denn in der Tat ist nicht der Islam das Problem, sondern dessen Nährboden: der soziale Sprengstoff Arbeits- und Hoffnungslosigkeit.

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