Montag, 27. Mai 2013

Von der Teilprivatisierung zur Altersarmut (Christoph Butterwegge)

Um die Jahrtausendwende setzte sich mit dem Neoliberalismus auch hierzulande eine Wirtschaftstheorie, Sozialphilosophie und politische Zivilreligion durch, die in allen Lebensbereichen marktradikale Lösungen präferierte, den Wohlfahrtsstaat als bürokratischen Moloch dämonisierte sowie mit Begriffen wie »Privatinitiative«, »Eigenverantwortung« und »Selbstvorsorge« das Modell einer kapitalgedeckten Altersvorsorge propagierte. Der frühere IG-Metall-Funktionär Walter Riester, Arbeits- und Sozialminister im ersten Kabinett von Gerhard Schröder, begründete die Notwendigkeit einer radikalen Strukturreform damit, daß man den drohenden Anstieg des Rentenversicherungsbeitrags als Schlüsselelement der »Lohnnebenkosten« in Deutschland verhindern müsse, sowie mit im Gefolge des demografischen Wandels absehbaren Kostensteigerungen. Mit der »Riester-Reform« nahm die rot-grüne Koalition einen doppelten Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik vor: Zum einen steht jetzt nicht mehr das für den Wohlfahrtsstaat nach 1945 konstitutive Ziel der Lebensstandardsicherung, sondern die angeblich über die Leistungsfähigkeit des »Wirtschaftsstandortes« und damit die Zukunft Deutschlands entscheidende Beitragssatzstabilität im Mittelpunkt der Alterssicherungspolitik. Für prekär Beschäftigte, Geringverdiener/innen, Langzeit- beziehungsweise Mehrfacharbeitslose und Arbeitnehmer/innen mit lückenhaftem Erwerbsverlauf, die sich keine private Altersvorsorge leisten (können), ist mit dem bis zum Jahr 2030 sukzessive sinkenden Rentenniveau das Risiko der Armut im Ruhestand verbunden. Es wurde von den Betreibern und Befürwortern der Riester-Reform billigend in Kauf genommen, um mittels der wachsenden Angst eines Großteils der Bevölkerung vor der Altersarmut Versicherungskonzernen, Großbanken und Fondsgesellschaften ein neues Geschäftsfeld zu erschließen, ihnen die Zahlung von mehr Provisionen an Vermittler zu ermöglichen und ihren Eigentümern höhere Profite zu verschaffen. Zum anderen bricht nach der Pflegeversicherung nun auch ein »klassischer« Versicherungszweig mit dem Prinzip der paritätischen Finanzierung. Da sich die Arbeitgeber nicht an den Kosten der privaten Altersvorsorge beteiligen müssen, fungiert diese in Riesters Konzept keineswegs als Ergänzung der Gesetzlichen Rentenversicherung, vielmehr als teurer Ersatz für die kollektive, sozialpartnerschaftlich organisierte Alterssicherung, der drastische Leistungskürzungen einschließt. Versicherungskonzerne, Großbanken und Kapitalanlagegesellschaften machten sowohl durch Lobbyarbeit im politisch-administrativen Raum als auch durch professionelle Medienkampagnen einerseits Stimmung gegen das umlagefinanzierte Rentensystem und propagierten andererseits die kapitalfundierte Altersvorsorge als einzig mögliche Antwort auf die vermeintlich krisenhafte demografische Entwicklung. Seitens der etablierten Politik scheute man selbst vor statistischen Taschenspielertricks nicht zurück, um das Rentenniveau möglichst von der Öffentlichkeit unbemerkt senken zu können. So fiel der private Vorsorgeanteil (ab 2008: vier Prozent des Bruttoeinkommens) aus dem Nettoeinkommen heraus, zu dem die gesetzliche Rente in Beziehung gesetzt wird, wodurch deren Kürzung, die etwa 25 Prozent bis zum Jahr 2030 beträgt, moderater erscheint. Trotz der gesetzlichen Niveausicherungsklausel, die eine Bundesregierung zum Eingreifen anhält, wenn ein Rentenniveau von 46 Prozent des entsprechenden Einkommens vor Steuern im Jahr 2020 beziehungsweise von 43 Prozent im Jahr 2030 unterschritten wird, nähert sich die Standardrente dem Sozialhilfeniveau immer mehr an. Bei der Riester-Rente handelt es sich nicht zuletzt um eine öffentliche Anschubfinanzierung für die Börse und eine direkte Förderung der Profite auf den Finanzmärkten tätiger Unternehmen und Organisationen. Es war kein Zufall, daß die Einführung der Riester-Rente auf dem Höhepunkt einer Hausse des Aktienmarktes, das heißt eines länger andauernden Börsenbooms erfolgte, der die Idee, das Umlageverfahren durch den Aufbau eines Kapitalstocks zu schwächen, der Öffentlichkeit plausibel und vielen gesetzlich Rentenversicherten attraktiv erscheinen ließ. Durch den 11. September 2001 und seine Folgen für die Aktienmärkte, noch mehr jedoch durch die Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise, deren Verwerfungen fast alle Länder der Welt erfaßten, wandelten sich die Rahmenbedingungen für solche Reformen tiefgreifend. Ausgerechnet zu ihrem zehnjährigen Jubiläum geriet die Riester-Rente wegen enttäuschender Renditen in Verruf. Hatte sie bei der Einführung noch mediale Vorschußlorbeeren geerntet, ließen manche Wissenschaftler/innen und Journalist/innen jetzt kein gutes Haar an ihr, schütteten vielmehr Hohn und Spott über den »Riester-Produkten« aus. Seither befindet sich das Kapitaldeckungsprinzip in einer Akzeptanz- beziehungsweise Legitimationskrise, die alle weiteren Debatten über Reformen der Alterssicherung maßgeblich beeinflussen dürfte. Kapitalmarktrisiken überlagern und verstärken demografische Probleme, lösen oder lindern diese aber nicht. Ähnliches gilt auch für eine staatlich geförderte private Pflegezusatzversicherung (auch »Pflege-Bahr« genannt), mit der die CDU/CSU/FDP-Regierung künftige Beitragssatzsteigerungen in der Sozialen Pflegeversicherung auffangen will. Wenn sich die Turbulenzen im Euro-Raum zuspitzen, könnte das Umlageverfahren der Gesetzlichen Rentenversicherung einen weiteren Vorteil gegenüber der Kapitaldeckung offenbaren, ist diese doch im Unterschied dazu nicht inflationsgeschützt.

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