Freitag, 28. September 2012

Für eine umfassende Freizügigkeit!

Plenarrede von Sevim Dağdelen am 27.09.2012 im Deutschen Bundestag Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/ EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften (BT-Drs. 17/10746) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nimmt die Bundesregierung Änderungen an dem Gesetz vor, das die Freizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union und ihrer Familienangehörigen in Deutschland regelt. Dass nun Lebenspartnerinnen und Lebenspartner von Unionsangehörigen künftig mit Ehegatten gleichgestellt werden, ist gut – auch wenn dies eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Wir begrüßen auch, dass es bald nicht mehr erforderlich sein wird, eine so genannte Freizügigkeitsbescheinigung zu beantragen und vorzuweisen. Diese Bescheinigung hat ohnehin nur deklaratorischen Wert und stellt einen unnötigen bürokratischen Aufwand dar. Aus drei Gründen aber lehnt DIE LINKE diesen Gesetzentwurf ab: Erstens: Dass die Freizügigkeitsbescheinigung abgeschafft werden soll, ist wie gesagt gut und richtig. Dadurch springt aber eine menschenrechtswidrige Praxis in Deutschland umso mehr ins Auge, die spätestens bei dieser Gelegenheit beseitigt werden muss: Ich rede von der massiven Beschränkung der Freizügigkeit von Asylsuchenden und Geduldeten durch die so genannte „Residenzpflicht". Immer mehr Betroffene machen durch Protestaktionen, unter anderem durch einen aktuellen Protestmarsch nach Berlin, den viele Abgeordnete der Linken wie begleitetet Aktionen begleitet haben, auf diesen Skandal aufmerksam. Das Verbot, ein zugewiesenes Gebiet ohne Begründung bzw. ohne behördliche Erlaubnis zu verlassen, und dies auch noch unter Strafe zu stellen, ist diskriminierend und verletzt die Betroffenen in ihrer Menschenwürde und in ihren Persönlichkeitsrechten. Alle vorgeblichen sachlichen Begründungen für die „Residenzpflicht" sind entweder nicht überzeugend oder können jedenfalls nicht diese erhebliche Einschränkung der persönlichen Freiheit rechtfertigen. Wenn das Wort „Freizügigkeit" in einem Gesetzentwurf vorkommt, dann sollte dieser also auch die Freizügigkeit im Land in einem ganz umfassenderen Sinn herstellen! Zweitens ist der Gesetzentwurf unzureichend, weil nicht alle von der EU-Kommission im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens angemahnten Änderungen zur wirksamen Umsetzung der Freizügigkeits-Richtlinie berücksichtigt wurden. So monierte die Kommission eine unzureichende Umsetzung der Vorgabe einer Erleichterung des Familiennachzugs weiterer Familienangehöriger, also Geschwister, Onkel, Tanten, Neffen usw. Die Bundesregierung verwies diesbezüglich zwar auf ein noch ausstehendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Doch selbst wenn dieses Urteil im Sinne der Bundesregierung entscheiden würde, heißt das nicht, dass die Bundesregierung nicht über die darin als absolut einzuhaltenden Minimalstandards liegenden Standards im Sinne der betroffenen Menschen hinausgehen kann und sollte. Davon abgesehen liegt dieses Urteil des EuGH in der Sache „Rahman" inzwischen seit dem 1.9.2012 vor! Nach meiner Einschätzung erfordert dies zwingend eine weitergehende Änderung des Freizügigkeitsgesetzes, wie von der Kommission angemahnt. Ein Nachzug entfernter Verwandter ist nach geltendem Recht nur im außergewöhnlichen Härtefall und nur nach Maßgabe des (§ 36 Abs. 2 Aufenthaltsgesetzes (AufenthaltG) möglich. Dies wird den Vorgaben des EuGH nicht gerecht, wonach Unionsangehörige gegenüber Drittstaatsangehörigen „in gewisser Weise bevorzugt" behandelt werden müssen – wie auch immer man eine solche Ungleichbehandlung politisch bewertet. Und weiterhin fordert der EuGH im Urteil, dass die Einreisebedingungen für diese Gruppe im Wortsinne „erleichtert" werden müssen – und diese Vorgabe in der konkreten Umsetzung nicht ihre „praktische Wirksamkeit" verlieren darf. Die überaus hohen Hürden eines außergewöhnlichen Härtefalls entsprechen dem nicht – das ist keine „Erleichterung", sondern eine Erschwernis! Und da hilft im Übrigen auch kein Hinweis auf die Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz, wo es einen versteckten, aber völlig ungenügenden und unbestimmten Hinweis auf diese Betroffenengruppe gibt in Punkt 36.2.2.9. Schließlich kritisiert DIE LINKE zum Dritten, dass die Bundesregierung eine ausdrückliche Missbrauchsregelung zur Verhinderung so genannter Scheinehen schaffen will. Wir fürchten, dass dies zu einer verschärften Prüfpraxis in den Behörden führen wird und viele binationale Partnerschaften unzulässig verdächtigt werden. Zwar heißt es in der Gesetzesbegründung, dass „systematische oder anlasslose Prüfungen nicht gestattet" sind und „begründete Zweifel" vorliegen müssen. Doch diese allgemeinen Vorgaben gelten auch im Bereich des Aufenthaltsgesetzes und wir wissen ja, in welch breitem und auch willkürlichem Ausmaß binationale Paare dessen ungeachtet in der ausländerbehördlichen Praxis unter Verdacht geraten. In der Gesetzesbegründung wird auch nicht nachvollziehbar dargelegt, wieso eine solche Missbrauchsregelung auf einmal erforderlich sein soll. Lapidar heißt es: „Abfragen unter den Ländern haben eine nicht unerhebliche Zahl von Fällen ergeben". Konkretere Anhaltspunkte oder auch nur ungefähre Zahlenangaben aber fehlen komplett. Solange dies so ist, bestreite ich, dass es den beklagten Missbrauch in bedeutendem Umfang gibt. Zumal die Zahlen, die uns vorliegen, für eine gegenteilige Annahme sprechen. Erst vor kurzem wurde ein working paper, Nr. 43, des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu „Missbrauch des Rechts auf Familiennachzug" vorgestellt. Das Ergebnis auf Seite 5 spricht für sich: „Aufgrund der eingeschränkten Aussagekraft der verfügbaren statistischen Informationen lassen sich weder verlässliche Aussagen zum Umfang des Missbrauchs des Familiennachzugs machen, noch zu erforderlichen Gegenmaßnahmen". Und, auf Seite 26 findet sich auch interessantes: „Den in der PKS registrierten Verdachtsfällen lässt sich entnehmen, dass die Scheinehe offenbar nur in geringem Umfang zur irregulären Einreise genutzt wird. Stattdessen stellt sie in der Regel ein Instrument zur Verfestigung eines prekären, aber dennoch legalen Aufenthalts dar". Vor diesem Hintergrund muss es doch heißen: Abrüsten! Für die viel beschworene Gefahr angeblich verbreiteter Scheinehen und Missbräuche gibt es keine Belege. Was hier produziert und praktiziert befördert rechtspopulistische Stimmungsmache. Und die Folge dieses staatlich gesäten Misstrauens ist eine erhebliche Behinderung des Zusammenkommens und Zusammenlebens vieler binationaler Paare durch vielfach unbegründete ausländerbehördliche Verdächtigungen. Lassen Sie mich deshalb zum Abschluss noch auf einen Vorgang hinweisen, der schon ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Aber fachkundige Abgeordnete werden sich sicherlich noch daran erinnern, zu welchen politischen Auswirkungen das so genannte Metock-Urteil des EuGH vom Juli 2008 geführt hat. Es ging dabei grob gesagt um die Nachzugsrechte drittstaatsangehöriger Ehepartnerinnen und -partner Unionsangehöriger und welche Regeln gelten sollen. Im Innenausschuss des Bundestages war dies Urteil Thema. Und der damalige Innenminister Schäuble persönlich forderte im EU-Rat mehrfach Konsequenzen aus dem Urteil, sogar eine Änderung der Freizügigkeitsrichtlinie wurde ins Spiel gebracht. Er sprach wörtlich von einem „großen Einfallstor für Rechtsmissbrauch". Dabei hatte das Urteil Auswirkungen auf eine nur sehr geringe Personengruppe von vielleicht etwa 3.000 Familiennachzugsfällen im Jahr. Auf parlamentarische Nachfragen von mir musste die Bundesregierung einräumen, dass es „keine Hinweise auf signifikante Änderungen" infolge des Metock-Urteils gab (BT-Drs. 16/13978, Frage 11a). Selbst der Staatssekretär sprach ein Jahr später nur noch von einer „sehr kleinen Personengruppe" – und dies meint wohlgemerkt nicht die vermuteten Missbrauchsfälle, sondern die Gesamtzahl derer, bei denen es vielleicht einen Missbrauch geben könnte. Die Zahl der erteilten Aufenthaltskarten für Ehegatten von Unionsangehörigen aus Drittstaaten, um die ging es bei „Metock", ist nach dem Urteil in etwa gleich geblieben. Von Missbrauch also keine Spur! Die ministerielle Hysterie von damals erwies sich als pure rechtspopulistische Panikmache. Genau so wie vorliegende vorgeschlagene gesetzliche Verschärfung, die wir Linke deshalb ablehnen.

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