Mittwoch, 15. August 2012

Martís Versprechen

Kubas Ärzte sind die Guerilleros des 21. Jahrhunderts. ALBA ist ein Schlag gegen die Märkte. Fidel Castro zum 86. Geburtstag Der Bau der Berliner Mauer vor 51 Jahren wird heute wieder Medienthema – wir gratulieren lieber Fidel Castro zum 86. Geburtstag Von Enrique Ubieta Gómez, Havanna jungeWelt vom 13.08.2012 (auf Kommunisten-online am 14. August 2012) – Fidel Castro Ruz – einfach Fidel für sein Volk, das die Revolution in seiner Mehrheit seit mehr als einem halben Jahrhundert unterstützt, und nur Castro für die Opposition und die transnationalen Medienkonzernen – wird 86 Jahre alt. Seit dem Beginn des Unabhängigkeitskampfes 1868 hat die Geschichte Kubas die Revolutionäre, die Anhänger der Unabhängigkeit und der sozialen Gerechtigkeit, den an eine ausländische Macht geklammerten Reformisten unversöhnlich gegenübergestellt. Die kubanischen Autonomieanhänger des 19. Jahrhunderts setzten gegen den Kampf um die Unabhängigkeit ihren angeblichen Verstand, einen am Möglichen orientierten Realismus, ein verlogenes Konzept des Nützlichen. Was bedeutete es für Kuba, Revolutionär zu sein? Es bedeutete, mit der Überzeugung, daß nur das Ethische nützlich sein kann, an die Wurzeln der sozialen Probleme zu gehen, an die Fähigkeiten des Volkes zu glauben, die verborgenen, unsichtbaren Möglichkeiten aufzudecken und möglich zu machen, was undurchführbar schien. Der erste Akt derjenigen, die sich 1868 mit Waffen für die Unabhängigkeit erhoben, war zur Herstellung von Gerechtigkeit unvermeidbar: Die Befreiung der Sklaven. Als es 1895 an José Martí war, den neuen Krieg zu organisieren und die Republik zu entwerfen sprach er nicht von der Nation, weil dieses Konzept von den Metropolen und rassischen Forderungen verdorben war, sondern vom Heimatland, das, wie er sagte, die Menschheit ist. Und er nannte seine Partei revolutionär. Die Intervention der Vereinigten Staaten im Spanisch-Kubanischen Krieg 1898 vereitelte Martís Projekt. Ohne ein Studium des Werks von José Martí kann das 19. Jahrhundert in Kuba nicht verstanden werden. Und das 20. Jahrhundert kann man nicht verstehen, ohne die Bedeutung Fidel Castros zu erkennen. Die Antwort, die Fidel seinen Häschern 1953 im Prozeß um den Angriff auf die Moncada-Kaserne gab, war treffsicher: Der »Auftraggeber« dieser Rebellion war der 1895 im Kampf gefallene José Martí. Der herausragende kubanische Intellektuelle Cintio Vitier (1921–2009) erinnerte in einem Interview, das er mir 1998 gewährte, so an den Einzug der Rebellenarmee in Havanna: »Januar 1959 war die Verzückung der Geschichte, nicht im religiösen Sinne, sondern im Sinne einer Unterdrückung der Zeit. Als damals in Havanna eine Bauernarmee einzog, wurde das Unmögliche plötzlich möglich. Wir waren Zeugen, als sich die Geschichte endlich auf die Seite des Guten geschlagen hat.« Nicolás Guillén greift im Gedicht »Es ist vorbei« (1960) diesen Gedanken auf: Das Seekuhleder (Peitsche der ­Sklavenhalter, Anm. d. Übers.) Mit dem dich der Yankee geschlagen hat, Ist vorbei. Martí hat es dir versprochen, Und Fidel hat es erfüllt. Die Befreiungstat der Bewegung 26. Juli war eine Herausforderung des offensichtlich Unmöglichen. So der Satz Fidels, als er im Angesicht einer gut bewaffneten Armee und der vorhersehbaren Feindseligkeit des mächtigsten Imperialismus der Welt kaum acht Überlebende der Landung der »Granma« mit sieben Gewehren um sich sammelte: »Jetzt werden wir den Krieg gewinnen!« Der »Hurrikan« von 1959 vereinte alle kubanischen Revolutionäre, was zuvor nur José Martí gelungen war. Differenzen und Sektierertum wurden von den Ereignissen hinweggefegt. Männer wie Blas Roca und Raúl Roa – Repräsentanten abweichender Tendenzen der revolutionären Bewegung vor 1959 – saßen einer neben dem anderen im Präsidium der ersten Nationalversammlung der Volksmacht, sie waren Symbol der errungenen Einheit. Eine Revolution, die den Antikolonialismus des 19. Jahrhunderts in den Antiimperialismus des 20. Jahrhunderts überführte, mußte notwendigerweise antikapitalistisch sein. Nach externen Erklärungen für diesen Prozeß zu suchen und darüber zu spekulieren, welche Konsequenzen eine verständnisvollere Reaktion der US-Regierung hätte haben können, bedeutet, die Natur der Ereignisse und ihrer Protagonisten zu ignorieren: Die Revolution mußte antikapitalistisch sein, oder sie wäre keine Revolution gewesen. Die Bärtigen waren respektlose Jugendliche, die die bürgerlichen Verhaltensnormen mißachteten und mit ihren Guerillastiefeln die Salons der Bourgeoisie heimsuchten. Aber sie waren keine politisch unreifen Frauen und Männer. Speziell Fidel hatte bewußt Marx und Lenin, und natürlich Martí, gelesen und kannte zutiefst die sichtbare wie die verborgene Realität seines Landes. Er besaß einen umwerfenden Optimismus und einen ungewöhnlichen politischen Instinkt. Wie alle durchlebte er die tägliche, beschleunigte Lehre, die einer Revolution eigen ist. Fünf Jahrzehnte, von denen keines dem anderen glich. Immer in direktem Kontakt mit dem Volk, in ständigem Suchen und Berichtigen, mit Erfolgen und Irrtümern. Mit einer Wirtschaft, die durch eine in den 90er Jahren, nach dem Ende der Unterstützung durch das frühere sozialistische Lager, noch verschärften Blockade eingeschnürt wurde. Das Ergebnis ist ermutigend: Mehr als eine Millionen Universitätsabsolventen, von denen 31528 Ausländer aus 129 Ländern sind – fast zehn Prozent der kubanischen Gesamtbevölkerung sind Universitätsabsolventen, während der Rest der Bevölkerung mindestens die neunte Schulklasse besucht hat. Eine Kindersterblichkeit, die in den ersten vier Monaten des Jahres 2012 bei 4,5 auf tausend Lebendgeburten lag. Pro Kopf der Bevölkerung mehr Ärzte und mehr klassisches Ballett Lernende als in jedem anderen Land der Welt. 194 olympische Medaillen und 67 Meisterschaften bis zu den Spielen in Peking, zu denen in London zwölf weitere Medaillen hinzukamen – von denen nur zwölf (darunter fünf Goldmedaillen) vor dem Sieg der Revolution errungen wurden. Die Gewißheit, daß jeder Kubaner studieren kann und sein darf, was er möchte: Neurochirurg oder Sportler, Wissenschaftler oder Handwerker. Ein durch das Volk errungenes Gefühl der Würde, neben anderen »kopflosen«, doch teilweise erfüllten Träumen. Da sie eine wirkliche Revolution war, hat sich die kubanische nie als eine interne Angelegenheit verstanden. Und sie hätte dies auch nicht tun können, wenn sie gewollt hätte. Kuba war das erste freie Territorium Amerikas und im Kern ein Kettenglied der Weltrevolution. Zum ersten Mal in der Geschichte ergab sich die internationalistische Bestimmung eines revolutionären Staates nicht aus Haushaltsplänen, Vorurteilen oder den Interessen eines entwickelteren Landes. Kuba hob den Blick zu den unglücklichen Geschwistern als seinesgleichen: Von arm zu arm, von Exkolonie zu Exkolonie. Der kubanische Internationalismus wurde als Verpflichtung, nicht als Almosen begriffen. Kuba teilte seine Ärzte, Lehrer, Soldaten, Guerilleros. Deshalb zeigte Kuba gegenüber der Solidarität, die es selbst erhielt, Dankbarkeit, aber auch die Überzeugung, daß diese kein Gefallen, sondern eine angemessene Behandlung war. Fidel begründete als Staatsmann eine neue Praxis des Internationalismus, weit entfernt von jedem geopolitischen Interesse, gestützt auf den revolutionären Humanismus. Der kubanische Arzt spricht nicht von Politik, er behandelt Reiche und Arme, Neoliberale und Kommunisten, Kinder und Verbrecher. Er kann sogar mit den Gesundheitsbehörden faschistischer Regierungen zusammenarbeiten, wenn es darum geht, Leben zu retten – so geschehen im Nicaragua Somozas in den Tagen nach dem Erdbeben – oder mit Institutionen von Staaten, zu denen keine diplomatischen Beziehungen bestehen und auch nicht angestrebt werden. Sie sind die neuen Guerilleros des 21. Jahrhunderts. Aus der solidarischen Erfahrung Kubas und der revolutionären Begeisterung Venezuelas entstand die ALBA. Jedes solidarische Abkommen zwischen unterentwickelten Staaten ist ein Schlag gegen die unkritische Akzeptanz des unsolidarischen Marktes. Das effektive, friedliche, solidarische Netzwerk von Kuba und Venezuela, Bolivien, Ecuador und Nicaragua hat die Bedeutung eines Guerillakrieges gegen die kapitalistische Globalisierung, in dem sich der Mensch wieder als unersetzbarer Held in den Mittelpunkt des Handelns stellt. Es ist eine Guerilla der Ideen in einem globalen Kampf gegen das Fortschreiten des Individualismus im Inneren unserer Länder (natürlich einschließlich Kubas). Mehr als zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der anderen sozialistischen Staaten, richtet Kuba in einer feindlichen Welt und unter für eine Revolution veränderten Bedingungen seine Wirtschaft neu aus, versucht, seine vor allem menschlichen Kräfte anzupassen. Die Aktualisierung – oder, wenn man dieses Wort lieber mag: Die Reform – seines Wirtschaftsmodells ist kein Reformismus. Wir Revolutionäre können Reformen durchführen, aber wir sind keine Reformisten. Unsere aufgeschriebenen Träume und unsere kolossalen Realisierungen bleiben intakt. Der Autor ist Essayist und Chefredakteur der Zeitschriften La Calle del Medio und Cuba Socialista. 2010 war er Gast bei der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz. Diesen Beitrag schrieb er exklusiv für junge Welt. Übersetzung: André Scheer Fidel Castro: Stationen Fidel Alejandro Castro Ruz wurde am 13. August 1926 im ostkubanischen Birán als Sohn eines Grundbesitzers und einer Bäuerin geboren. Er besuchte Privatschulen der Jesuiten in Santiago de Cuba und schloß diese 1945 mit dem Abitur ab. Anschließend studierte Fidel an der Universität Havanna Jura und Rechnungswesen. Hier entwickelte er sein Interesse für Politik, übernahm Ämter im Studentenverband FEU, beteiligte sich an den Kämpfen der Studentenbewegung und sympathisierte mit der fortschrittlich orientierten Orthodoxen Partei. 1950 schloß er das Stu­dium mit dem Doktortitel ab. Am 10. März 1952 putschte Fulgencio Batista gegen Staatschef Carlos Prío. Der inzwischen als Rechtsanwalt arbeitende Fidel Castro gehörte zu den ersten, die den unrechtmäßigen Charakter des Regimes anprangerten. Im Untergrund sammelte Fidel eine Widerstandsgruppe und griff am 26. Juli 1953 mit 160 Mitstreitern die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba an, um damit das Signal zum Aufstand gegen Batista zu geben. Die Aktion scheiterte, zahlreiche Revolutionäre wurden ermordet und Fidel selbst verhaftet. Im Prozeß verteidigte er sich selbst: »Verurteilen Sie mich, das macht nichts. Die Geschichte wird mich freisprechen.« Nach einer Amnestiekampagne kamen Fidel und seine Mitstreiter bereits im Mai 1955 wieder auf freien Fuß. Da eine Fortsetzung des Kampfs gegen Batista mit legalen Mitteln unmöglich war, verließ Fidel wenige Wochen später Kuba und ging ins Exil nach Mexiko, um von dort aus den bewaffneten Aufstand vorzubereiten. Mit 82 Kämpfern schiffte er sich schließlich Ende November 1956 auf der Yacht »Granma« ein und landete am 2. Dezember in Las Coloradas im Osten Kubas. An seiner Seite kämpften unter anderem sein Bruder Raúl Castro, Camilo Cienfuegos und der Argentinier Ernesto Che Guevara. Die kleine Rebellenarmee wurde von den Truppen Batistas entdeckt und angegriffen, die meisten Mitkämpfer wurden getötet. Doch Fidel gelang es, seine Gruppe wieder zu sammeln und am 17. Januar 1957 den ersten Angriff auf die Armee des Regimes durchzuführen. Es folgten zwei Jahre Krieg, bis zum Sieg der Revolution am 1. Januar 1959. Fidel wurde Premierminister der revolutionären Regierung, ab 1976 Präsident Kubas. Mit der Gründung der Kommunistischen Partei 1965 wurde Fidel deren Generalsekretär und blieb dies, bis er 2006 vorläufig und 2008 endgültig aus gesundheitlichen Gründen auf alle Ämter verzichtete. Seither meldet er sich vor allem mit seinen »Reflexionen des Genossen Fidel« und bei Treffen mit hochrangigen Persönlichkeiten zu Wort. (scha)

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