Mittwoch, 27. Juni 2012

Ernesto Che Guevara: Der neue Mensch

Die Verantwortung des einzelnen, die Aufgaben des Revolutionärs und die Gefahren des Dogmatismus – Ernesto »Che« Guevara über die Entwicklung eines sozialistischen Kuba Es geht nicht darum, wieviel Kilogramm Fleisch man ißt oder wie oft man im Jahr einen Ausflug zum Strand machen kann, und auch nicht darum, wie viele schöne aus dem Ausland importierte Dinge man mit den heutigen Löhnen kaufen kann. Es geht darum, daß das Individuum sich erfüllter fühlt, durch viel größeren inneren Reichtum und viel größere Verantwortung. Der einzelne in unserem Land weiß, daß die glorreiche Zeit, in der zu leben ihm zufiel, eine Zeit des Opfers ist, denn er weiß Opfer zu bringen. Die ersten lernten es in der Sierra Maestra und wo immer auch gekämpft wurde; später lernten wir es in ganz Kuba. Kuba ist die Vorhut Lateinamerikas und muß Opfer bringen, weil es Vorreiter ist, weil es den Massen Lateinamerikas den Weg zur vollständigen Freiheit weist. Im Land selbst muß die Führung ihre Rolle als Vorhut erfüllen, und in aller Offenheit möchte ich sagen, daß in einer wahren Revolution, für die man alles gibt, von der man keinerlei materielle Vergütung erwartet, die Aufgabe des Revolutionärs in der Vorhut sowohl großartig wie zugleich beklemmend ist. Lassen Sie mich sagen, auch auf die Gefahr hin, lächerlich zu erscheinen, daß der wahre Revolutionär von großen Gefühlen der Liebe geleitet wird. Es ist unmöglich, sich einen echten Revolutionär ohne diese Eigenschaft vorzustellen. Vielleicht liegt hierin eines der großen Dramen des Führenden: Er muß eine leidenschaftliche Seele mit einem kühlen Intellekt verbinden und ohne mit der Wimper zu zucken, schmerzliche Entscheidungen treffen. Unsere Revolutionäre der Vorhut müssen diese Liebe zum Volk und zu den heiligsten Anliegen idealisieren und sie einzigartig und unteilbar machen. Sie können nicht mit einer kleinen Portion täglicher Zuneigung zu den Plätzen hinuntersteigen, an denen die gewöhnlichen Menschen ihre Gefühle zeigen. Die Führer der Revolution haben Kinder, die mit ihrem ersten Gestammel nicht den Vater nennen lernen; Frauen, die ein Teil ihres allgemeinen Verzichts auf Leben sein müssen, um die Revolution zu ihrer Bestimmung zu führen; der Kreis der Freunde ist eng begrenzt auf den Kreis der Revolutionsgefährten. Es gibt kein Leben außerhalb der Revolution. Unter derartigen Umständen benötigt man viel Menschlichkeit, ein großes Maß an Gerechtigkeits- und Wahrheitssinn, um nicht in dogmatische Extreme und kalte Scholastik zu verfallen, um sich nicht von den Massen zu isolieren. Jeden Tag müssen wir kämpfen, damit diese Liebe zur Menschheit sich in konkrete Taten umsetzt, in Handlungen, die als Vorbild und zur Mobilisierung dienen. Der Revolutionär, ideologischer Motor der Revolution innerhalb seiner Partei, verbraucht sich in dieser unablässigen Aktivität, die erst mit dem Tod endet, es sei denn, der Aufbau ist weltweit erreicht. Wenn sein revolutionärer Plan nachläßt, sobald die dringlichsten Aufgaben auf örtlicher Ebene verwirklicht sind, und wenn er den proletarischen Internationalismus vergißt, dann hört die Revolution, die er leitet, auf, eine treibende Kraft zu sein und sinkt in bequeme Schläfrigkeit ab, die von unserem unversöhnlichen Feind, dem Imperialismus, ausgenutzt wird, um an Boden zu gewinnen. Der proletarische Internationalismus ist eine Pflicht, aber auch eine revolutionäre Notwendigkeit. So erziehen wir unser Volk. Natürlich bergen die gegenwärtigen Umstände Gefahren in sich. Nicht nur die des Dogmatismus, nicht nur die des Erkaltens der Beziehungen zu den Massen inmitten der großen Aufgabe; es besteht auch die Gefahr von Schwächen, denen man verfallen kann. Wenn ein Mensch glaubt, um sein ganzes Leben der Revolution widmen zu können, dürfe er seinen Geist nicht mit der Sorge belasten, daß einem seiner Kinder etwas Bestimmtes fehlt, daß die Schuhe der Kinder abgetragen sind, daß es seiner Familie an etwas Notwendigem mangelt, dann eröffnet er mit diesem Gedankengang den Weg für die Keime zukünftiger Korruption. In unserem Fall haben wir die Meinung vertreten, daß unsere Kinder dasselbe besitzen und entbehren sollen, was die Kinder eines gewöhnlichen Mitmenschen auch besitzen und entbehren; und unsere Familie muß das verstehen und dafür kämpfen. Die Revolution wird von Menschen gemacht, doch muß der Mensch an seiner revolutionären Einstellung tagtäglich arbeiten. Auszug aus: Ernesto »Che« Guevara: Der Sozialismus und der Mensch in Kuba; verfaßt 1965. Erschienen in: Ernesto »Che« Guevara: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Band 6, Seite 32–34; Pahl-Rugenstein, Bonn 1990 [Junge Welt; 06.10.2007]

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