Freitag, 18. Mai 2012

Augenzeugenbericht über den Polizeinsatz in Moskau im Mai 2012

(Übergeben von Genossin Rostowzewa) Auf Kommunisten-online 15. Mai 2012 – Ich gestehe, ich habe sofort nach den bekannten Ereignissen am 6. Mai begonnen, diesen Artikel zu schreiben. Der Anfang war gemacht, doch ich konnte es einfach nicht beenden. Wenn man sich von den ganzen Erlebnissen noch nicht abgekühlt hat, wenn in der Erinnerung noch die eine oder andere Episode des vergangenen Tages aufflammt, so ist es schwierig, den Artikel wie eine erledigte Sache herunterzuschreiben. Und ich will hier nicht so sehr den Emotionen nachgeben, mein Ziel ist ein anderes: Ich will meine Eindrücke, meine Gedanken darzulegen, und nicht die Emotionen, die den Ereignissen folgen und die dann unvermeidlich durch andere Emotionen ersetzt werden. Viele fragen mich: Warum sind eigentlich die Bolschewiki[1] überhaupt dorthin gegangen? Denn ganz offensichtlich war diese Aktion von – gelinde gesagt zweifelhaften – Führern organisiert worden, die bei weitem nicht unsere Position vertreten. Diejenigen, die eine solche Frage stellen, haben wahrscheinlich einfach vergessen, daß es die Pflicht eines Kommunisten ist, jeden derartigen Massenprotest zu unterstützen, wobei man natürlich die Masse der Protestierenden trennen muß von diesen zweifelhaften Führern, die den Massen Orientierungspunkte gegeben und Propaganda gemacht hatten. Wenn wir schon nicht mit den Massen arbeiten... Doch ich wollte wenigstens mit dem Notizblock dabeisein und selbstbewußt darüber reden, daß ich neben meinem Studium der Mathematik und der Pädagogik dazu beitrage, um den Menschen eine wissenschaftliche Weltanschauung zu vermitteln! Ich liebe meinen Beruf, die Mathematik, sehr, aber ich bin nicht in die WKPB eingetreten, um in der Küche scholastische Überlegungen über Politik oder über die Bereitschaft der Massen, über die Reife oder Unreife unseres Volkes anzustellen. Wir haben kein anderes Volk, und gerade darum besteht unsere Aufgabe darin, es zu bilden, zu „bolschewisieren“. Gerade deshalb waren ich und unsere Genossen der Moskauer Organisation der WKPB am 6. Mai bei dieser Protestaktion dabei. Ich komme also aus der Metrostation „Oktjabrskaja“ heraus. Wie viele Male bin ich schon zu Demonstrationen diesen Ausgang herausgegangen! Aber diesmal ist von Anfang an alles irgendwie ungewöhnlich. Ich bemerke die Metalldetektoren, die länger werdende Warteschlange davor. Nun gut, ich will mich nicht aufhalten, will keine Zeit verlieren! Ich nehme die Flugblätter der WKPB heraus, verteile sie, und endlich bin ich dran. Eine Routineprüfung – und schon befinde ich mich unter den Teilnehmern des Protestmarsches. Ich höre Gespräche über alle möglichen Provokationen, viele Teilnehmer erzählen, wie sie aus anderen Städten mit dem Zug herkamen, um an diesem Marsch teilzunehmen. Aber in bezug auf mögliche Provokationen beruhigen sie einander damit, daß der Fallschirmjägerverband Rußlands eine Erklärung abgegeben hat, daß er bereit sei, das Volk zu schützen, daß sich Teilnehmer an die Verantwortlichen gewandt hätten, mit der Warnung, an den „Brennpunkten“ der Konflikte keine Gewalt gegen das Volk zuzulassen usw.. Freilich sehe ich unter den Versammelten keinen Fallschirmjäger! Dann geschieht etwas Seltsames... Naja, eigentlich nichts Seltsames, sondern eine gut durchdachte Taktik der Staatsmacht. Offenbar um die Menschen in Spannung zu halten – oder warum wurde ihnen befohlen, fünfzehn Schritte nach links, und dann zehn der Schritte nach rechts zu gehen? Doch in Wirklichkeit ist das schon eine der Provokationen. Aus der Pädagogik ist bekannt, daß die beste Methode ist, Kinder dazu zu bringen, daß sie etwas hassen, indem man sie zuerst zwingt, es zu tun und es dann abbricht. Man kann sicher sein, daß nach einer mehrmaligen Wiederholung solcher sinnloser Aktionen keiner mehr mitmachen will, weil nur ein Idiot etwas tut, um es danach wieder sein zu lassen. Die Sinnlosigkeit solcher Bewegungen bewirkt auch, daß natürlich man den Wunsch hat, seine Teilnahme an der Demonstration sofort zu beenden, und sie ruft den Protest gegen diejenigen hervor, die solche Befehle erteilen. Ich werde den Gedanken nicht los, daß die Herren des Kremls zuvor einen befähigten Pädagogen konsultiert haben müssen. Einer von denen ist mir sogar bekannt – es ist der Vorsitzende der Organisation „Gefährten Putins“, er gehört in der jetzigen Zusammensetzung der Staatsduma zur Liste der KPRF, es ist ein Herr Berulawa, der Präsident der Akademie für Bildung. Als wir zur Großen Steinbrücke kommen, wächst der Protest an. Die Menschen sehen die dreifachen Reihen der Umzingelung, Gefangenentransporter, die Absperranlagen und die „Astronauten“ in ihrer Kampfausrüstung. Plötzlich merken die Leute, daß das hier eine Falle ist, eine Umzingelung, von allen Seiten die Kette dieser OMON-Schlägertruppen – einer Mausefalle sehr ähnlich. Von weitem sehe ich die Anarchisten, die einen Durchbruch versuchen, ich höre die Schreie und plötzlich geht es los… Zuerst rücken kleine Trupps der OMON-Leute gegen die Menschenmenge vor, und als die Menschen sehen, daß Dutzende kräftiger Kerle mit Schlagstöcken auf sie zukommen, rennen sie davon, wie die Schafe vor den Wölfen. Das Menschenmeer gerät in Bewegung, die „heldenhaften“ Verteidiger fliehen und reißen andere mit, die OMON-Truppen gehen zur bekannten Methode der Trennung über, sie ziehen die Aktivisten heraus, diejenigen mit den Fahnen, reißen die Transparente herunter, werfen die Menschen auf den Asphalt und verprügeln sie mit der Professionalität von Banditen, aus irgendeinem Grunde jagen sie vor allem junge Leuten und die Mädchen … die Menschen versuchen, aus den Plasttoiletten Barrikaden zu bauen. Irgendwo sehe ich eine Gaswolke … Knüppelschläge, Schreie, Flüche … aus irgendeinem Grunde erinnere ich mich an eine Strophe aus Wyssotzkis „Wolfsjagd“: „Da ist der, den wir suchen, grinst er und hebt das Gewehr...“ Und da kommen auch schon die OMON-Schläger auf unsere Gruppe zu, wo ich mich befinde, zwei dieser Herkulese packen ein neben mit stehendes Mädchen und schleifen sie über den Asphalt zu ihrem Fahrzeug. Seltsamerweise verspürte ich in diesen Augenblick überhaupt keine Angst. Ich gehe zu denen hin und sage mit fester Stimme: „Was machen Sie da? Sie leistet keinen Widerstand! Sie verletzen das Polizeigesetz!“ Daraufhin lassen sie das Mädchen los, und sie bleibt auf dem Asphalt liegen, während der eine Kerl mir ins Gesicht schreit. „Wir werden dir gleich das Gesetz zeigen, du Streichholz! Wir werden dir gleich beibringen, den Präsidenten zu lieben, du amerikanische Matratze!“ Ich denke, jetzt bist du an der Reihe, und ich erwidere: „Erstens – hier ist mein Universitätsausweis“, dem Ausweis des Innenministeriums sehr ähnlich, genauso rot und mit dem Doppeladler – und dann sage ich sehr laut: „Und für Sie bin ich kein ‚Streichholz’, sondern die Dozentin der Höheren Mathematik, bei mir lernen viele Ihrer Mitarbeiter, und in unserer Aspirantur befinden sich auch Generäle des Innenministeriums. Wollen Sie Unannehmlichkeiten? Wenn Sie hier jemand festnehmen, sind Sie verpflichtet, sich auszuweisen. Zweitens, sind Sie nicht berechtigt, jemanden zu verletzen – lesen Sie die Instruktionen. Und drittens – wenn Sie hier jemanden festnehmen, sind Sie verpflichtet, sich auszuweisen.“ Es ist ein Bluff, aber er funktioniert! Der „Held“ ruft den anderen zu: „Laß sie! Wir wollen keinen Ärger kriegen! Und wir greifen oder schlagen nicht jeden, den wir müssen!“ In diesem Moment stößt mich irgendein Mann an und ruft mir ins Ohr: „Hau ab! Die Gassen kennst du? Hier ist nicht der Platz für Frauen – verdrück dich!“ Ich verstehe selbst, daß ich die OMON gegen mich aufgebracht habe, und beim nächsten Mal wird der Trick nicht funktionieren. Ich ziehe mich zurück. In relativ sicherer Entfernung nehme ich meinen Kosmetikspiegel heraus und blicke rückwärts – der Typ ist weg. Mir ist klar, daß es jetzt gefährlich ist, in die Metro zu gehen. Denn ich habe noch die Flugblätter. Wegwerfen kann ich sie nicht, ich habe sie selbst ausgedruckt. Und in der Metro können sie unter dem Vorwand der Ausweiskontrolle eine Durchsuchung vornehmen und dann … Da fällt mir ein, daß bei der Universität für Design und Technologie (beim ehemaligen Institut für Leichtindustrie) ein Café ist, über das man mir erzählt hat, daß es bis zwei Uhr nachts geöffnet ist. Doch ich gehe besser nicht dorthin, denn dort gibt es Alkoholiker. Aber nach alledem kann ich noch nicht nach Hause gehen. Ich entscheide mich, dennoch ins Cafe zu gehen und dort ab drei Uhr eine Weile zu sitzen. Von unterwegs rufe ich zu Hause an, beruhige meinen Mann, daß mit mir alles in Ordnung ist, daß ich um Vier zu Hause sein werde. Ich komme ins Cafe. Dort ist kein Mensch! Ich bestelle Kaffee mit Zitrone. Die Kellnerin sieht mich ein paar Minuten erstaunt an, dann höre ich: „Wir sind nicht das Restaurant, wo man Kaffee mit Zitrone trinkt! Kaffee können Sie sich selbst machen. Hier ist eine Dose löslicher Kaffee, da sind zwei Stück Zucker, und das heiße Wasser bringe ich Ihnen noch!“ Ich bezahle, setze mich und rühre in diesem Instantkaffee aus dem Glas, aber plötzlich – nach einiger Zeit, nach etwa fünfzehn Minuten bemerke ich, wie drei Männer mit frischen blutigen Verletzungen ins Café kommen. Einer von denen, ruft als er mich sieht, fast hysterisch: „Dort verprügelt die unsere Polizei mit Knüppeln die Menschen, und an unserem Platz sitzt eine feine Dame! Vielleicht kommt die von…!“ (anstelle der Auslassungspunkte kann man selbst erraten, welche Charakteristik er mir gab – wenn man es nach der Fünfpunktskala bewertet, so irgendwo auf dem Niveau von minus Zehn. Das höre ich nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag!). Ehrlich gesagt, dachte ich nicht, daß diese Leute zu protestieren verstehen. Aber der zweite Mann schaut mich unvermittelt an und sagt – wie man es oft in alten Filmen sieht: „Keep cool, Serjoga! Ich kenne sie! Sie war auch dort, ich habe sie gesehen. Bist du von den Bolschewiki?“ Erstaunt über das plötzliche „Du“ von einem mir unbekannten Menschen (sonst reagiere ich nicht so schnell), antworte ich automatisch: „Ja, aus WKPB.“ (und sogleich mache ich mir innerlich Vorwürfe wegen dieses Verstoßes gegen die Konspiration). Er hatte mich erkannt. Und an seine Genossen gewandt, sagte er: „Da siehst du, und du schreist hier rum. Die Sjuganow-‚Kommunisten’, die mögen wir nicht, aber WKPB respektieren wir. Komm, setzen wir uns jetzt, laßt uns zusammen was trinken.“ Und schon ruft er der Kellnerin zu: „Nastja, wie immer, bring uns noch vier Gläser. Und, Nastja – auch wenn sie gut gekleidet ist, sie gehört zu uns. Und wenn welche kommen, um die Ausweise, zu kontrollieren, dann führe sie in die Küche.“ – „Geht klar, verstehe. Das hätte sie doch gleich sagen können! Sie kam nur her und verlangte einen Kaffee mit Zitrone, wie irgend so eine aus dem Büro oder von den Blauen! Ich weiß, was dort abgelaufen ist, die ganze Polizei hat gewütet!“ (und ich höre noch einiges weitere an die Adresse des Präsidenten, der Machthaber und der Polizei...) Dann frage ich den, der mich erkannt hatte: „Ist es nicht gefährlich, jetzt zu trinken? In dem Aussehen? Können die sich nicht die Betrunkenen greifen!“ Als Antwort kam: „Gerade die Betrunkenen greift die Polizei nicht auf. Aber wenn wir einfach zur Metro gehen, oder wenn sie hierher kommen, und wir sind nüchtern und sie sehen uns mit den Verletzungen – aber so ist klar, daß wir aus dem Sumpf kommen. So sind wir eben einfach Trinker.“ Ich setze hinzu: „Klar Leute verprügeln und nicht Banditen einfangen!“ Als Antwort höre ich: „Wie können sie Banditen fangen, wenn sie selber Banditen mit Schulterstücken sind! Ja, und diese Schlägertypen versprachen, daß sie für uns eintreten, und sie schwafeln nur und drohen uns. Aber wie es aussieht…“ (weiter kommt er nicht). Die Kellnerin bringt zwei Karaffen mit Wodka, saure Gurken, Bärlauch und andere Vorspeisen. Und für mich ist dabei auch eine Zitrone. Ich will natürlich keinen Wodka, aber meine neuen Bekannten bitten mich, das Glas zu erheben. „Also, trinken wir darauf, daß nicht sie uns, sondern wir sie bald schlagen werden!“ Wir sitzen, wir reden, wir tauschen uns aus über die Eindrücke dieses Tages. Und ich gebe ihnen die restlichen Flugblätter. Unmerklich vergeht die Zeit. Es ist so, als ob ich mit nahestehenden Menschen rede, obwohl von Zeit zu Zeit sie solche Ausdrücke kommen – Sie verstehen selbst, welche … Ich denke, daß sie zu Hause auf mich warten werden. Ich verabschiede mich und laufe zur Metro. Zu Hause angekommen, höre ich von meinem Mann: „Da hast Du uns aber einen schönen arbeitsfreien Tag veranstaltet! Hat dich die Mathematik belästigt! Willst du die Kinder zu Waisen machen, oder lieber in der Emigration verhungern, wie deine Sinaida Petrowna – sie war auch Dozentin. Hätte sie sich lieber mit der Wissenschaft befaßt, egal wer an der Macht ist. Mathematische Formeln bleiben Formeln in jeder beliebigen Gesellschaft, wenn man sie nur richtig herleitet!“ Doch innerlich denke ich über mich: „So ist es nun. Es kann wirklich alles geschehen, und ich lasse die Kinder als Waisen zurück!“ Früher wäre mir so etwas niemals in den Kopf gekommen! Und ich denke hier – es ist besser, sie als Waisen zurückzulassen, und sie können stolz auf ihre Mutter sein, als wenn sie von jedem beliebigen Beamten dazu erniedrigt werden, um Almosen zu bitten, sie müssen jedem beliebigen Vertreter der Staatsmacht dafür dankbar sein, daß er ihnen überhaupt die Möglichkeit gibt, zu leben, und sie sehen, daß ihre Mutter denen dient, an deren Adresse mir bis heute noch aus Tausenden von Kehlen die Flüche in den Ohren gellen! Ich will noch etwas über Aufstände nachlesen. Und mir fällt wieder ein, was mir schon auf dem ganzen Nachhauseweg im Kopf herumging. Es ist Geschichte. Doch schon morgen ist die Amtseinführung Putins – das Blutvergießen ist wie ihr Symbol. Vor dem Amtsantritt Nikolai II. war auf dem Chodynsker Feld ebensolch ein Blutvergießen. Ich schlage einen Gedichtband verschiedener Dichter des „Silbernen Jahrhunderts“ auf und finde mühelos, was wie ein Vorzeichen für die heutige Zeit klingt, als man „Seine Heiligkeit“ Nikolai den Blutigen an die Macht brachte. Und ich hoffe, es dient als Analogie für den derzeitigen „nationalen Führer“, da dessen neue Regierung genauso beginnt, wie auch die des letzten russischen Imperators: Wer mit Chodynsk zu herrschen beginnt, der wird auf dem Schafott einst enden! P.S. Die Namen der Leute, mit denen ich mich traf, wurden aus Sicherheitsgründen geändert. [1] Gemeint sind die Mitglieder der WKPB, der Allunions-KP (Bolschewiki)

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