Samstag, 3. Dezember 2011

Die Europäische Union 2011 – Imperialismus in der Krise

Von Tibor Zenker

Quelle: Kommunisten.ch

Auf Kommunisten-online am 11. November 2011 – Auf Einladung der Kommunistischen Jugend der Schweiz und der deutschschweizer Sektionen der Partei der Arbeit (PdA) weilte Tibor Zenker in der Zeit vom 26. Oktober bis 1. November in der Schweiz, und referierte am Bildungswochenende der Jungkommunisten in Kandersteg, sowie in einer Vortragsreihe in den Städten St. Gallen, Zürich, Bern und Basel zum Thema «Die Europäische Union 2011 – Imperialismus in der Krise». Der Wiener Genosse Tibor Zenker, bekannt als Autor mehrerer Bücher zum Thema, ist in der Kommunistischen Initiative (KI) aktiv. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers publizieren wir nachstehend den Referatstext in vollem Wortlaut (8.11.2011/mh):

Die Europäische Union 2011 – Imperialismus in der Krise

Von Tibor Zenker

Wir befinden uns mitten in der Krise – und dies umfassend, auch wenn die Verantwortlichen und die Herrschenden dies immer nur in kleinen Scheibchen, peu à peu, zugeben wollen. Zuerst, viel haben das schon wieder vergessen, die US-Immobilienbranche, dann die Finanzmärkte und -institute, dann plötzlich ganze Staaten, Währungen, nicht zuletzt der Euro, dann die Europäische Union, ja ganz Europa und darüber hinaus. Das klingt alles weit reichend und verzweigt, aber das Gute an unserer „globalisierten“ Welt ist, dass immer alles zusammenhängt. Es handelt sich daher um eine Krise des Systems, eine Weltwirtschaftskrise, eine Krise des Kapitalismus, genauer: des Imperialismus, insbesondere der so genannten – und falsch benannten – „neoliberalen“ Ausformung desselben. Wir wollen uns ansehen, welche Funktion die EU in diesem System innehat. Denn sie ist gegenwärtig für manche, wie Griechenland, der Rettungsschirm, für andere, wie Island, der Rettungsanker, wieder für andere, wie die Türkei, der Heilige Gral, und für die Schweiz … werden wir es vielleicht später am heutigen Abend entscheiden können.

Vergessen wir die Krise für ein paar Minuten und wenden wir uns der EU im Allgemeinen zu – wir werden ohnedies und unweigerliche wieder auf die Krise zurückkommen oder vielmehr: sie wird uns einholen. Die EU gibt es unter diesem Namen seit 1992 – mit dem Vertrag von Maastricht –, in der heutigen Form erst seit 2009 – mit dem Vertrag von Lissabon. Die Ursprünge reichen natürlich viel weiter zurück.

1. Ursprünge und Entwicklung der EU

Die Begründung des Gesamtprojekts fällt noch in die Nachkriegszeit und hat auch hier ihre Ursachen. Der Zweite Weltkrieg endete bekanntlich mit der Niederlage der faschistischen Staaten Deutschland und Italien sowie ihrer Verbündeten in Österreich, der Slowakei, Ungarn, Rumänien, Kroatien und andernorts. Der Grossteil der von der Wehrmacht okkupierten Gebiete wurde durch die Rote Armee der Sowjetunion befreit und besetzt, in einigen Ländern hatten auch kommunistische Partisanenbewegungen bedeutenden Anteil am Sieg über den Faschismus, so z.B. in Italien, Jugoslawien, Albanien oder Griechenland. In Westeuropa waren die Westalliierten, d.h. insbesondere die USA und Grossbritannien, letztlich doch noch so weit wie möglich vorgedrungen, allerdings weniger um den deutschen Faschismus möglichst schnell zu besiegen, sondern um den Durchmarsch der Roten Armee bis an die Atlantikküste indirekt zu unterbinden. Dementsprechend war also die politische Situation am Ende des bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg beschaffen, als sich in der östlichen Hälfte Europas Volksdemokratien und sozialistische Staaten bildeten, während der Westen auf den bürgerlich-demokratischen Postfaschismus setzte (Ausnahmen bildeten Spanien und Portugal, wo die faschistischen Diktaturen noch Jahrzehnte überlebten). In wirtschaftlicher Hinsicht waren Betriebe, Infrastruktur und menschliche Arbeitskräfte in grosser Zahl vernichtet. Für den Imperialismus, der aus dem Krieg widersprüchlicher Weise sowohl als militärischer Sieger wie Verlierer hervorgegangen war, waren die Perspektiven alles andere als rosig. In dieser Situation benötigte er einen Plan und eine Strategie, um den Volkdemokratien und dem Sozialismus, die zweifellos in der Offensive waren, etwas Wirkungsvolles entgegenzusetzen, denn natürlich wich mit dem 8./9. Mai 1945 der angebliche Antifaschismus des US-, britischen und französischen Imperialismus schlagartig wieder dem Antikommunismus und Antisozialismus.

Der erste Schritt hierzu war das „European Recovery Program“ 1948-1953, besser bekannt als „Marshall-Plan“, was die direkte und indirekte finanzielle Unterstützung Westeuropas durch die USA bedeutete. Der zweite Schritt bestand in der Gründung der NATO 1949 sowie der Wiederbewaffnung der BRD 1951-1955, womit der US-Imperialismus sich in Europa festgesetzt und ein Bündnissystem etabliert hatte. Diese Massnahmen reichten jedoch nicht aus.

Um tatsächlich in Europa einen starken antisozialistischen und antikommunistischen Westblock zu formen, erfand man die so genannte „europäische Integration“. Es wurden drei westeuropäische Gemeinschaften gegründet, nämlich bereits 1951 die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS) sowie 1957 die „Europäische Atomgemeinschaft“ (Euratom/EAG) und die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG). 1967 wurden die drei zu den „Europäischen Gemeinschaften“ (EG) zusammengefasst, womit die unmittelbare Vorläuferorganisation der heutigen EU vorlag. Seit diesem Jahr gibt es die Kommission, ein „Parlament“, dessen Mandatare allerdings erst seit 1979 auch von der Bevölkerung gewählt werden dürfen, sowie den Ministerrat als eigentliches Entscheidungsgremium.

Die sechs Gründungsmitglieder der EG waren Frankreich, die BRD, Italien sowie Belgien, die Niederlande und Luxemburg. 1973 kam es zur ersten Erweiterung, neue Mitglieder wurden Grossbritannien, Irland und Dänemark. In den 1980er Jahren traten drei Staaten mit jüngerer faschistischer Vergangenheit den EG bei, nämlich 1981 Griechenland sowie 1986 Spanien und Portugal – drei Staaten, die man heute wohl gerne wieder los wäre, zumindest in der Euro-Zone. 1996 wechselten die EFTA-Länder Schweden, Finnland und Österreich in die – zu diesem Zeitpunkt bereits – EU. 2004 kam es zur grössten Erweiterungsrunde, der EU traten damals acht ehemals sozialistische Staaten bzw. Teile solcher Staaten bei, nämlich Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn, ebenfalls aufgenommen wurden Zypern und Malta. Die bislang letzten Neumitglieder sind seit 2007 Bulgarien und Rumänien. Damit hat die EU heute 27 Mitgliedsstaaten. Das bedeutet, nebenbei bemerkt, dass etwa die Hälfte aller europäischen Staaten und der flächenmässig grösserer Teil Europas ausserhalb der EU verbleibt.

Die Umwandlung der EG in die EU erfolgte, wie bereits erwähnt, 1992 mit dem Vertrag von Maastricht, wobei die Tätigkeitsfelder der neuen Struktur um die Bereiche Militär, Polizei und Justiz erweitert wurden. Mit diesem Jahr wurden auch die Einführung der gemeinsamen Währung Euro beschlossen, was später, 1999 als Buchgeld und 2002 als Bargeld, durchgeführt wurde. Damit verbunden war natürlich die Schaffung der Europäischen Zentralbank (EZB). Als Ergänzung zum Vertrag von Maastricht ist der Vertrag von Amsterdam aus dem Jahr 1997 zu sehen. Dieser bedeutete die Etablierung der „Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik“ (GASP), die Integration der „Westeuropäischen Union“ (WEU) – eines Militärbündnisses, wohlgemerkt – in die EU sowie die Schaffung der EADS, also des EU-Rüstungskonzerns, wesentlich als deutsch-französisches Projekt.

Somit können drei Etappen in der Entwicklung der EU markiert werden. Von 1951 bis 1967 ging es vornehmlich um die Bündelung ökonomischer Potenzen im Sinne des „Wiederaufbaus“, das heisst um die Konsolidierung des westeuropäischen Kapitalismus, wobei dies auch als Defensive gegenüber den sozialistischen Staaten in Europa zu sehen war. Von 1967 bis 1992 ging es vermehrt um die politische Zusammenarbeit, verbunden mit einer Offensive gegenüber dem europäischen Sozialismus. Diese Offensive war 1989/90 mit massgeblicher Hilfe des Revisionismus im Inneren der sozialistischen Staaten und in deren kommunistischen Parteien erfolgreich. Seither, oder genauer gesagt seit 1992, befinden wir uns in der dritten Entwicklungsetappe der EU, in der es um die Schaffung eines weitgehend einheitlichen – wir werden noch sehen, welche gravierenden Einschränkungen es hier gibt – imperialistischen Blocks in Europa geht sowie um die Militarisierung desselben.

2. Die EU in ihrer heutigen Verfasstheit

Aufgrund ihrer Geschichte kann über die EU nun gesagt werden, dass sie vier grosse Aufgabenfelder zu bewältigen hat: 1. die optimale Koordinierung der inneren monopolkapitalistischen Ausbeutung, 2. die optimale Koordinierung der imperialistischen Ausbeutung nach aussen, d.h. „kollektiver Imperialismus“ bei 3. gleichzeitiger Abgrenzung zu Konkurrenzimperialismen (vor allem zu den USA), sowie 4. die Koordinierung des Kampfes gegen Emanzipationsbestrebungen der Völker, seien sie antiimperialistisch oder gar revolutionär-sozialistisch.


Offenkundig ist die EU bislang ein imperialistisches Bündnis ist – mehr nicht. Die Frage, die sich zwingend stellt, lautet: Kann sie jedoch mehr sein? Kann die EU, wie manche behaupten oder zumindest hoffen, der Ausgangspunkt für die Überwindung des Nationalstaates unter kapitalistischen Verhältnissen sein? Kann die EU vom Staatenbündnis zum wirklichen Bundesstaat werden? Die Antwort ist meinerseits ein klares Nein. Zu einer solchen Ansicht zu kommen, würde bedeuten, die Leninsche Imperialismustheorie zugunsten eines neokautskyanischen Konzepts zu opfern. Die Behauptung, wir würden nun im Postimperialismus leben, weil sich der Imperialismus (vorerst) gegen den Sozialismus behauptet hat, ist geradezu abwegig. D.h. Ansätze in Richtung „Ultraimperialismus“, „organisierter Kapitalismus“ oder „Empire“ sind zurückzuweisen.

Wenn es so ist, dass wir im Imperialismus leben, dann kann die EU nichts anderes sein und auch nichts anderes werden als ein imperialistisches Bündnis. Der Grund ist recht simpel: Die einzelnen nationalen Imperialismen, die einzelnen imperialistischen Staaten, haben unterschiedliche Interessen, sie stehen in Konkurrenz zueinander. Diese imperialistische Konkurrenz ist nicht aufzuheben, sondern sie kann im Sinne gemeinsamer Ziele für bestimmte Zeiträume zurücktreten. Daher unterliegt das imperialistische Bündnis EU aus Sicht der Mitgliedsstaaten, insbesondere der Grossmächte darunter, dem unbedingten Kriterium der Zweckmässigkeit. Ohne solche Zweckmässigkeit gibt, weil braucht es auch keine EU.

Das bedeutet weiters, dass aufgrund ebendieses Kriteriums die EU nicht „von unten“ in etwas anderes, etwas Positives zu transformieren ist, also in eine „Sozialunion“, ein „solidarisches Europa“ oder sonstige Sozialutopien. Würde es tatsächlich einen Prozess geben, wo in Aussicht stünde, die EU könne „von unten“ im progressiven Sinne verändert werden, so würde sie einfach zuvor „von oben“ aufgelöst.

Wodurch ist nun die gegenwärtige Verfasstheit der EU und wodurch sind ihre Entwicklungsbedingungen und -möglichkeiten bestimmt? Durch die Hauptwidersprüche des Imperialismus, die in ihrer Anwendung auf die EU zu betrachten sind. – Zuvor wurden die vier Hauptfunktionen der EU erwähnt – und diese sind natürlich ganz genau der Gegenpart zu den Hauptwidersprüchen des Imperialismus überhaupt. Das bedeutet Folgendes.

Erstens soll die EU, wie vorher angeführt, die optimale Ausbeutung nach innen gewährleisten. Dies ist nicht nur die Antwort auf den kapitalistischen Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit, sondern, nachdem wir ja von Imperialismus/Monoopolkapitalismus und daher Monopolprofiten sprechen, auf Differenzierungen innerhalb der Bourgeoisie, auf die Ausbeutung aller nichtmonopolistischer Schichten durch das Monopolkapital. Das bedeutet, die EU muss weiterhin Massnahmen setzen, um diese innere Ausbeutung bestmöglich zu gestalten (d.h. gefordert ist Profitmaximierung, was auf dem gesellschaftlichen Gegenpol Verarmung, Verelendung und Ruin bedeuten muss; das bezieht sich nicht nur auf das Verhältnis Kapital und Arbeiterschaft, sondern durchaus auch auf das Verhältnis Grosskonzerne einerseits und kleine und mittlere Unternehmen andererseits). Die EU wird jedoch nicht Herr dieser Gegensätze, sondern sie verschärft sie unweigerlich.

Zweitens soll die EU bestmöglich dem „kollektiven Imperialismus“ dienen, der Ausbeutung nach aussen, der Ausbeutung der abhängigen Länder der so genannten „Dritten Welt“ durch die imperialistischen Staaten. Es ist dies die Antwort – aber natürlich ebenso die sich selbst ständig reproduzierende Ursache – auf den „Nord-Süd-Konflikt“, d.h. auf den Gegensatz zwischen den imperialistischen Zentren und der abhängigen Peripherie in Asien, Afrika und Lateinamerika, im Falle der EU auch einer gewissen osteuropäischen Semiperipherie. Auch dieser Widerspruch ist natürlich ein sich verschärfender.

Drittens, habe ich gesagt, die EU sei ein Mittel der innerimperialistischen Konkurrenz, im Falle der EU ein Mittel der Konkurrenz insbesondere zu den USA, aber auch zu Japan. Dieses Mittel ist die EU zunächst ungeachtet durchaus verschiedener Transatlantik-Strategien der Mitgliedstaaten. Auch wenn z.B. Grossbritannien schon als institutionalisierter Juniorpartner der USA erscheint, so gibt es dennoch klare ökonomische Gegensätze. Offensichtlicher ist der Gegensatz zu den USA freilich im Falle Deutschlands und Frankreichs. Diese unterschiedlichen Strategien bzw. die Tatsache, dass es solche gibt, zeigen bloss, dass die innerimperialistische Konkurrenz eben auch vor der EU nicht halt macht und nicht halt machen kann. Dieser Widerspruch treibt sich global selbst auf die Spitze, denn früher oder später werden Deutschland und Frankreich die Hegemonialposition der USA offen in Frage stellen, auch wenn man zum gegenwärtigen Zeitpunkt v.a. militärisch noch nicht einmal annähernd auf Augenhöhe ist. Im Zuge dessen werden auch die latenten Bruchlinien innerhalb der EU offen zutage treten.

Viertens ist die EU ein Mittel im Kampf gegen revolutionäre oder emanzipatorische Bewegungen innerhalb und ausserhalb Europas. Solche entstehen immer wieder als Reaktionen auf den ersten und zweiten Punkt, nämlich auf die innere monopolistische Ausbeutung und die imperialistische Ausbeutung nach aussen. Es entstehen also einerseits innerhalb der EU unweigerlich antimonopolistische Bestrebungen, deren fortschrittlichster Teil revolutionären, kommunistischen Charakters sind. Derartiges haben wir heute z.B. in Griechenland, nämlich eine starke und gut verankterte kommunistische Bewegung durch KKE und PAME wie auch einen breiter werdenden Volkswiderstand. Und es entstehen andererseits in den abhängigen Ländern unweigerlich antiimperialistische Bestrebungen unterschiedlicher Art, fortschrittliche Varianten finden wir gegenwärtig v.a. in Lateinamerika, nämlich in Venezuela oder auch Bolivien. Solche Bewegungen müssen aus Sicht des Imperialismus zunächst ruhig gestellt und möglichst kanalisiert werden, doch wenn dies nicht klappt, so müssen früher oder später freilich härtere Mittel angewendet werden.


Somit ergeben sich aus allen vier Punkten drei unmittelbare Zielsetzungen, welche die EU nun erfüllen muss. Einerseits muss die stabile ökonomische Entwicklung vorangetrieben werden – diese ist nämlich Voraussetzung jedes erfolgreichen Imperialismus (freilich eine Problemstellung, mit der man gegenwärtig besonders beschäftigt ist). Zweitens müssen politische Entscheidungen tendenziell vereinfacht, letztlich monopolisiert werden, das bedeutet Entdemokratisierung und Schaffung handlungsfähiger EU-Institutionen, die niemandem mehr verpflichtet sind (EZB, EADS, und momentan geplant: die EU-„Wirtschaftsregierung“). Drittens muss die EU einen handlungsfähigen Gewaltapparat haben, insbesondere ein einsatzfähiges Militär. Wozu? Um alle oben genannten Aufgaben im Zweifelsfall mit Gewalt erfüllen zu können, nämlich zunächst die innere Repression und die äussere Aggression, letztlich aber muss die EU (eventuell ein deutsch-französisches „Kerneuropa“) im Kampf um die imperialistische Hegemonie gegen die USA und deren Verbündete reüssieren können – und dieser Kampf wird letztlich ein militärischer sein, wenn er nicht zuvor verhindert wird.

Wir sehen also, die EU hat bezüglich ihrer Weiterentwicklung klare Ziele und Aufgaben, diese sind aber weder innerimperialistisch noch gesamtgesellschaftlich noch global reibungslos, d.h. widerspruchslos umzusetzen. Es gibt Brüche und Risse, es gibt Widerstand und Konkurrenz. Dies sind sodann die Ansatzpunkte einer Bewegung – oder zumindest einmal einer Strategie, denn hier in der Schweiz ist man von einer tatsächlichen Bewegung leider ebenso weit entfernt wie bei uns in Österreich – die gegen die EU und das europäische Monopolkapital, letztlich natürlich überhaupt gegen den Imperialismus als Weltsystem gerichtet ist.

3. Widerstand gegen die EU

Wir wissen über die EU, dass sie ein imperialistisches Bündnis des europäischen Monopolkapitals ist und daher einen bestimmten sozialen Inhalt, einen Klassencharakter hat. Dieser soziale Inhalt ist nicht zu ändern. Die praktische Reformierbarkeit der EU ist, gelinde gesagt, begrenzt. Daher fallen oft gehörte linke Transformationstheorien und reformistische Ansätze weg, denn sie sind Illusionen und Irrwege.

Die EU hat aber ohnedies ein immanentes Ablaufdatum. Sie würde, früher oder später, aufgrund innerer Widersprüche, die der imperialistischen Konkurrenz geschuldet sind, von alleine zerbrechen. Das heisst jedoch nicht, dass wir uns bloss zurücklehnen müssen, um darauf in aller Ruhe zu warten. Denn wenn die EU aufgrund innerer Gegensätze zwischen den einzelnen nationalen Imperialismen zerbricht, so ginge dies mit einer Verschärfung der Konkurrenzmethoden einher, d.h. mit Gewaltmethoden ökonomischer und politischer Natur, in letzter Konsequenz mit dem Mittel des imperialistischen Krieges. Natürlich ist dies keine erfreuliche Perspektive.

Dem imperialistischen Krieg, insbesondere einem neuen Weltkrieg, kommt man nur mit einem nichtimperialistischen Entwicklungsweg bei, d.h. schliesslich mit einem sozialistischen Entwicklungsweg. Um der abermaligen Zuspitzung der innerimperialistischen Gegensätze bis hin zu direkten militärischen Auseinandersetzungen zuvorzukommen, müssen den Imperialisten die Mittel hierzu aus der Hand geschlagen werden. Ein Mittel, das, wie wir gesehen haben, deutlich in eine solche Richtung orientiert, ist die EU.

Wie nimmt man aber den europäischen Imperialisten, dem europäischen Monopolkapital die EU? In Österreich haben die konsequentesten Teile der Linken und der Kommunisten, darunter etwa die Kommunistische Jugend oder die Kommunistische Initiative, in den vergangenen Jahren die Losung „Raus aus der EU!“ propagiert – die logische Fortführung der Losung „Nein zur EU!“ bis 1995/96. Eine solche Losung – für den EU-Austritt oder ein Nein zum Beitritt – ist aber an sich noch nichts genuin Fortschrittliches oder gar Linkes, denn eine solche Forderung kann (und wird aktuell in der Mehrzehal ja auch) seitens rechter, nationalistischer und chauvinistischer Kreise erhoben werden. Hierzu muss es freilich einen Unterschied geben. Und der Unterschied ist, dass für die Linke solche Losungen eingebettet sein müssen in ein strategisches Gesamtkonzept, das eine Gleichsetzung oder Verwechslung nicht zulässt.

Das bedeutet auch, dass diese Losung und Zielsetzung nicht nur mit Fragen der nationalen Selbstbestimmung und der Souveränität zu tun haben sollen – durchaus auch, denn hier geht es ja um zentrale Demokratiefragen und im z.B. österreichischen oder Schweizer Fall ja auch um die Neutralität –, sondern dass bei der EU-Kritik vermehrt andere Fragen im Vordergrund stehen müssen. Die linke EU-Kritik muss im Mittelpunkt den Kampf gegen das Grosskapital, für demokratische und soziale Arbeiterrechte stellen. Wir müssen die EU-Frage vom Standpunkt der sozialen Frage, letztlich der kapitalistischen Eigentumsfrage stellen, sowie – und dies ist wesentlich – solche durchaus klassenkämpferische Positionen mit dem Antiimperialismus verbinden. Es ist dies kein leichtes Unterfangen, aber es ist notwendig, um tatsächlich eine breitere Bewegung gegen die EU mobilisieren zu können.

Offenkundig sind wir nun bei Fragen der antimonopolistischen und antiimperialistischen Bündnispolitik, die im konkreten Fall gegen die EU gerichtet ist, da diese gegenwärtig und auf absehbare Zeit das zentrale Machtmittel des europäischen Monopolkapitals ist. Die objektive Voraussetzung für die Etablierung einer zumindest links inspirierten Anti-EU-Bewegung ist der Gegensatz aller nichtmonopolistischen Schichten zum Monopolkapital. Wenn die EU die Hauptwaffe ist, die das europäische Monopolkapital gegen die Menschheit führt – nach innen wie nach aussen –, dann haben wir hier den Ansatzpunkt antimonopolistischer EU-Strategien: es ist die monopolkapitalistische Existenz der EU, und kein abstrakter Zwang einer Globalisierung oder wessen auch immer, die zur Bedrückung und zur Unsicherheit der Existenz der Menschen führt. Damit sind Menschen ansprechbar, die nicht von vornherein kapitalismuskritisch oder gar antikapitalistisch eingestellt sind, wohl aber die Bedrückung ihrer Lage spüren. Diese Menschen brauchen konkrete Antworten bezüglich der Verantwortlichen. Die Rechten geben solche Antworten, doch lügen sie natürlich oder lenken ab. Die antimonopolistische Methode kann aber ebenfalls erfolgreich sein, doch müssen wir die Wahrheit sagen. Und mit der Wahrheit der Hauptverantwortung der Bündelung der ökonomischen und politischen Potenzen der europäischen Monopole in Industrie, Finanz und Agrarwirtschaft mittels der EU können alle möglichen Gesellschaftsschichten angesprochen werden: nicht nur die Arbeiterklasse, sondern vor allem auch die Bauernschaft, eine in ihren Lebensbedingungen vor einer drohenden faktischen Proletarisierung stehende Intelligenz und nicht zuletzt die umkämpften Mittelschichten in Stadt und Land, das Kleinbürgertum. Der Faschismus hat gezeigt, wie fatal es ist, wenn die Linke diesen keine seriösen Antworten geben und ihnen kein Angebot machen kann.

Wenn wir diesen Schichten, ja diesen einzelnen Menschen konkret, anhand ihrer Lebenssituationen, aufzeigen können, inwiefern es die EU ist, die ihre Lage zusätzlich bedrückt, dann sind sie auch gegen die EU zu mobilisieren – mit realen Begründungen und gegen einen realen Feind, nicht gegen Masseneinwanderung, Asylbetrug oder was auch immer von den Rechten vorgeschoben wird. Auch die Antworten der linken Agitation müssen auf die Realitätsempfindungen der Menschen orientieren und bei ihnen ansetzen, sie müssen „einfach“ sein, denn die Menschen müssen schon dort abgeholt werden, wo sie stehen – und stehen tun sie nun einmal „rechts“ von uns, denn die Menschen kann man nicht auswechseln. Es geht ja immer um die gleiche Bevölkerung, die heute eben in der Mehrheit die Sozialdemokratie oder in Österreich die FPÖ und in der Schweiz die SVP wählt. Diese Menschen müssen angesprochen werden, aber mit Antworten, die in weiterer Folge immer zum Kern der Sache führen.

Für den Widerstand gegen die EU gibt es nun natürlich zwei Varianten, die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen geschuldet sind. Einerseits für Länder, die bereits Mitglied sind (wie Österreich), andererseits für Länder, die keine Mitglieder sind (wie die Schweiz).

a) Die Möglichkeit des EU-Austritts (aus österreichischer Sicht)

Widmen wir uns nun dem möglichen EU-Austritt Österreichs. Bringt der für sich alleine genommen schon etwas? Nein, keineswegs. Aber als Linke betreibt man diesen ja, wie bereits ausgeführt, auf einer bestimmten Grundlage, auf einer antimonopolistischen. Das bedeutet, dass nicht ein sodann „souveräner“ österreichischer Kapitalismus herauskommen soll, der dann auch noch fortfährt, wie bisher Osteuropa auszuplündern – das wäre in der Tat absurd –, sondern mit jenen politischen Ansätzen, die gegen die EU geführt sind, müssen auch Veränderungen im Inneren einhergehen. Käme es zum österreichischen EU-Austritt und im Inneren Österreichs veränderte sich nicht, so wäre das noch kein wirklich signifikanter Fortschritt. Es muss gleichzeitig im Inneren des Landes eine antimonopolistische Entwicklung vorangetrieben werden, auch in Österreich müssen die soziale Frage und die monopolkapitalistische Eigentumsfrage zugespitzt und gestellt werden. Auch hier müssen die ausländischen und eigenen Monopole bekämpft werden, muss ihre Macht zurückgedrängt und gebrochen werden, was umgekehrt wiederum bedeutet, dass es einen radikalen Demokratisierungsprozess geben muss. Beide Entwicklungen bedingen natürlich einander, das eine ist ohne das andere realistisch gesehen kaum zu erreichen. Und auch in einem aus der EU ausgetretenen Österreich muss der Kampf direkt weiter gehen, es muss auch auf dieser Ebene eine grundsätzliche und nachhaltige Neuordnung der Kräfteverhältnisse geschaffen werden, die es ermöglicht, den (noch) bürgerlichen Staat auf eine neue Grundlage zu stellen, neu auszurichten. Gelingt dies nicht, so ist der EU-Austritt zwar nicht wirkungslos, aber bis zu einem gewissen Grad sinnlos, weil ohne Perspektive.

Einige Worte zur internationalen Dimension. Österreich sollte nicht das einzige Land sein, das aus der EU austritt. Es müsste ähnliche Bewegungen in mehreren Ländern geben oder aber zumindest in einem der imperialistischen Hauptländer Europas (Deutschland, Frankreich). Würde nur ein einziger, kleinerer Staat wie Österreich austreten, so würde das die EU noch nicht allzu sehr erschüttern. Treten hingegen mehrere aus oder ein grosses Land, so stellt dies sofort die EU selbst umfassend in Frage. Bei positiver Entwicklung in ausgetretenen Ländern wäre zudem durchaus mit einer Art „Dominoeffekt“ zu rechnen. Und die Austrittsländer müssten der EU ein antiimperialistisches Gegenprojekt, eine Alternative der Völker, entgegenstellen – ähnlich wie in Lateinamerika die von Venezuela und Kuba initiierte ALBA die Antwort auf das neoliberale ALCA-Projekt ist. Die Rest-EU würde wohl zu allen wirtschaftlichen, politischen und schlimmstenfalls sogar militärischen Mitteln greifen, um antimonopolistische Bastionen in Europa zu bekämpfen. Daher muss jedes ehemalige EU-Land mit einem alternativen und progressiven Entwicklungsweg auch neue internationale Bündnisse eingehen: nicht nur mit anderen europäischen Ländern auf einem ähnlichen Weg, sondern auch mit antiimperialistischen Staaten in Lateinamerika, Asien oder Afrika, so weit vorhanden. Die antimonopolistischen Staaten müssen den globalen Block gegen den Imperialismus verstärken – und sie erhalten gleichzeitig umgekehrt Unterstützung durch diesen, mittels ökonomischer, politisch-diplomatischer und auch militärischer Kooperation. – Das sind alles durchwegs Dinge, die in ihrer sinngemässen Ausrichtung von Venezuela heute schon versucht werden.

Generelles, unbedingtes Faktum ist und bleibt: Dem Versuch der imperialistischen Staaten, antiimperialistische oder antimonopolistische Länder auf ihrem revolutionären Weg zu isolieren, ist nur mit alternativen internationalen Beziehungen beizukommen. Und dies ist auch der An- und Verknüpfungspunkt zwischen dem Antimonopolismus in Europa und dem Antiimperialismus, denn dies sind nur zwei Formen desselben Kampfes. Diese Kämpfe müssen sich in der Praxis global verbinden – und sie müssen zuvor bereits ideell, d.h. inhaltlich-politisch verbunden werden. Anders, so viel ist klar, wird der Weltimperialismus nicht zu besiegen sein.

b) Die Möglichkeit des EU-Beitritts (aus türkischer Sicht)

Nun zu jenen Staaten, die nicht oder noch nicht EU-Mitglieder sind. Ich nehme bewusst nicht das Beispiel Schweiz, denn ich bin ja nicht hier, um den Schweizern irgendetwas vorzuschreiben. Wir nehmen das Beispiel der Türkei – und die Schlussfolgerungen für die Schweiz müssen dann hier selbst gezogen werden.

Im Allgemeinen, sehen wir kurz von den aktuellen Krisenproblemen in der EU und in der Euro-Zone ab, wird der türkischen Bevölkerung von der etablierten Politik ein möglicher EU-Beitritt als immenser Fortschritt verkauft – kaum ein Unterschied zwischen konservativ-islamischer Partei einerseits, klassischen Kemalisten bzw. Sozialdemokraten andererseits. Ein Argument sind dabei die EU-Förderungen in der Landwirtschaft, die natürlich ein vergleichsweise weniger entwickeltes und in weiten Teilen agrarisch dominiertes Land wie die Türkei treffen würden. Ein weiteres Argument sind erleichterte Handelsbeziehungen, d.h. Waren-, Kapital- und auch Arbeitskräfteaustausch – letzteres würde es türkischen Arbeitern z.B. ermöglichen, zumindest temporär in europäischen Staaten mit höherem Lohnniveau Arbeit zu suchen. Ein drittes Argument wäre die „solidarische“ europäische Wirtschafts- und Finanzgemeinschaft, die im Zweifelsfall Schutz vor Krisenerscheinungen sei. Weiters geht es – für die Politik – ganz einfach um Macht, d.h. um Mitbestimmung in einem transnational und international wichtigen Konstrukt wie der EU. Und zuletzt sei die EU auch ein kollektives Sicherheitsbündnis.

Die Realität sähe freilich anders aus und brächte wechselseitige Probleme mit sich. Zwar kämen aus den EU-Förderungen natürlich auch ein paar Euro einfachen türkischen Bauern zugute, den Grossteil der EU-Subventionen erhalten aber selbstverständlich die grossen Agrarkonzerne und Grossgrundbesitzer, gegenwärtig kommt z.B. die britische Königin in den Genuss massiver Subvention durch EU-Fördergelder. Das bedeutet, dass das EU-Fördersystem in der Landwirtschaft in Wirklichkeit eine monopolkapitalistische Bereinigung fördert: die kleinen und mittleren Bauern werden ruiniert, da sie mit den paar Almosen, die ihnen zugestanden werden, trotzdem keinerlei Chance gegen die Grossbetriebe, Agrarkonzerne (seien sie auch als Genossenschaften getarnt) und Grossgrundbesitzer haben werden. Das ist seit 1996 auch in Österreich klar zu beobachten, wo das „Bauernsterben“ nach wie vor grassiert: Die Grossen werden noch grösser, die Kleinen werden weniger. Die Abnehmerpreise für landwirtschaftliche Produkte werden angeglichen und nach unten nivelliert, obwohl die Endverbraucherpreise im Supermarkt steigen, und zu diesem Zweck werden jedes Jahr riesige Mengen von Lebensmitteln oder deren Grundlagenprodukten vernichtet oder anderen Zwecken – etwa der Treibstofferzeugung – zugeführt.

Das zweite Argument, die Waren-, Kapital- und Produktionsinteraktion, führt sich auch ad absurdum. Die Produktionsüberschüsse, die es in der EU, v.a. in Deutschland, gibt, brauchen Abnehmer dieser Waren. Das bedeutet, dass zu steigernde Importe in die Türkei natürlich die türkischen Produzenten weiter unter Druck setzen und stetig ruinieren werden. Der „freie“ Kapitalverkehr hat überhaupt nur einen Hauptzweck: Den Ausverkauf türkischer Unternehmen und Betriebe, sowohl staatlicher als auch privater, an westeuropäische Konzerne. Und mit den Arbeitskräften ist es auch so eine Sache: Wird die Türkei noch tiefer in die „Standortlogik“ des internationalen Monopolkapitals gezogen, so müssen zwecks „Wettbewerbsfähigkeit“ in der Türkei möglichst geringe Lohn- und Lohnnebenkosten herrschen sowie ausländische Investoren mit Subventionen beglückt werden. Das Geld fehlt dann natürlich auf der Gegenseite, es kommt zur weiteren Zerstörung des Sozialsystems, zum Kaputtsparen im Bildungs- und Gesundheitssystem sowie zur Ausdünnung und Teilprivatisierung im Pensionssystem. Und zu ganz genau denselben Konsequenzen führt natürlich die EU-Verpflichtung zum Erreichen bestimmter Budgetziele. Dann der Punkt Frage des „Mitredens“ in der EU: Natürlich hätte die Türkei dann auch eine Stimme im Ministerrat – nämlich eine von sodann 28. Doch die gegenwärtige Entwicklung in der EU geht ohnedies in eine andere Richtung als die der Konsensentscheidungen und der Demokratie, nämlich in Richtung von Mehrheitsentscheidungen, machtpolitischer Zentralisierung, verbindlicher EU-Rechtsprechung und der Immunisierung von Institutionen vor demokratischer Kontrolle und Einflussnahme. Es geht um Entdemokratisierung und – noch deutlicher sichtbar – um die Entsouveränisierung der Bevölkerungen, um regelrechte Entmündigung. Dass demgegenüber das EU-Parlament ein bisschen aufgewertet wird, ist nur ein Ablenkungsmanöver. Und abschliessend die Militarisierung der EU: Es werden in der EU Eingreif- und Kampfgruppen aufgestellt, die am Balkan auch schon im Einsatz sind als Okkupationsarmeen. Und es soll verpflichtende Aufrüstungsbestimmungen geben, d.h. im Budget sind ausgabenseitig nicht etwa für Bildung oder Gesundheit bestimmte Prozentsätze zu erreichen, sondern für das Heer und seine Aus- und Aufrüstung. Bei künftigen Militär- und v.a. Kampfeinsätzen der EU wären so erprobte Soldaten, wie jene der türkischen Armee, die ohnedies im Bürgerkrieg gegen kurdische und revolutionäre Organisationen steht, natürlich willkommen. Aber sollen türkische Soldaten wirklich für die Interessen deutscher Konzerne global – vornehmlich dort, wo man die Bundeswehr aus innenpolitischen Gründen nicht sehen möchte – in den Krieg ziehen und sterben?

Vor diesem Hintergrund ist es – euphemistisch gesagt – äusserst fragwürdig, ob ein etwaiger EU-Beitritt der Türkei für die einfachen Menschen, für die Arbeiter und Bauern, wirklich ein Fortschritt wäre – in sozialer, rechtlicher und demokratischer Hinsicht wäre wohl das Gegenteil der Fall. Die Entscheidung, ob die Türkei der EU beitreten soll, kann nur die türkische Bevölkerung treffen, im Rahmen einer Volksabstimmung. Abzulehnen ist übrigens das Ansinnen verschiedener rechter, nationalistischer Parteien in der EU, auf nationalen Ebenen einzelner Mitgliedstaaten, z.B. in Österreich und Deutschland, Abstimmungen über den Beitritt der Türkei durchzuführen. Insofern ist es jetzt auch nicht meine Aufgabe, eine Entscheidung bezüglich der Türkei zu treffen. Aber wenn ein türkischer Staatsbürger es von mir wissen will, dann würde ich ihm von einem Ja bei einer eventuellen türkischen Volksabstimmung selbstverständlich klar abraten.

Wichtig ist jedoch, sich keinen Illusionen hinzugeben. Denn auch wenn man nicht Mitglied in der EU ist, ist von ihren Entscheidungen, von ihrer Politik und ökonomischen Orientierung betroffen, in der Intensität natürlich abhängig von politischem und wirtschaftlichem Standing des jeweiligen Staates.

Das bedeutet, dass die schon früher erwähnten antiimperialistischen und antimonopolistischen Kernaufgaben des EU-Widerstandes bei Nichtmitgliedern schon heute auf die Tagesordnung gehören. Dabei geht es um progressive soziale, wirtschaftliche und demokratiepolitische Massnahmen sowie international um solidarische und gleichberechtigte Beziehungen auf Augenhöhe, die natürlich von keiner normalen bürgerlichen oder sozialdemokratischen Regierung zu verlangen und zu erwarten sind. Von Karl Marx stammt der Satz, der revolutionäre Kampf sei zunächst der Form nach national, dem Inhalt nach international. Das heisst – auf den Antimonopolismus umgelegt –, dass jedes Volk zuerst einmal mit seinem eigenen Monopol- und Finanzkapital zurande kommen muss, es politisch und wirtschaftlich entmachten und eine radikaldemokratische Gegenmacht etablieren muss. Das ist der beste internationalistische Beitrag zum weltweiten Kampf gegen den Imperialismus als Weltsystem. Gelingt dies nicht auf nationalen Ebenen, so kann und darf man sich auch keine anderen internationalen Beziehungen erwarten. Das Fremdwort Internationalismus bedeutet wörtlich und inhaltlich, das es um Dinge geht, die zwischen den Nationen geschehen, und nicht, dass diese einfach wegzudenken sind.

4. Die EU und die Weltwirtschaftskrise

So weit die allgemeinen Betrachtungen zur EU. Nun wieder – wie angekündigt und angedroht – zurück zur Wirtschaftskrise und zum unmittelbaren Zustand der EU und ihren konkreten Problemen. Hier herrschen also Finanz-, Banken-, Schulden- und Eurokrise.

Wir können davon ausgehen, dass die oberste Zielsetzung der EU darin besteht, das System zu retten: das System EU, das System Finanzkapitalismus, das System Imperialismus und das System Kapitalismus. Es geht der EU nicht und niemals darum, den einfachen, arbeitenden oder arbeitslosen Menschen zu helfen. Es geht nicht um die Sicherung von Löhnen, Pensionen und Renten oder der allgemeinen Daseinsvorsorge, des Sozialsystems, des Gesundheitssystems oder des Bildungssystems.

Wir müssen uns vielleicht noch einmal vor Augen führen, was die Ursachen einer kapitalistischen Krise sind. Diese treten im Kapitalismus ja mit einer gewissen Gesetzmässigkeit und daher auch Regelmässigkeit auf. Warum? Sie entspringen dem Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit oder, genauer gesagt, zwischen erweiterter Kapitalakkumulation und einfacher Arbeitskraftreproduktion. Banal gesagt: Der Kapitalist will nicht nur, sondern er muss maximalen Profit realisieren – und hierfür muss er möglichst viele Waren in möglichst kurzer Zeit produzieren lassen, und dies wiederum mit (relativ gesehen) möglichst wenigen Arbeitern, denen er möglichst geringe Löhne bezahlt. Das ist der Inhalt der kapitalistischen Produktionsweise und der kapitalistischen Produktionsweisheit. Aber hier gibt es ein Problem: Der angeeignete Mehrwert wird natürlich erst dann realisiert, wenn der Kapitalist seine Waren auch absetzt. Doch – und hier beisst sich die Katze eben in den Schwanz – die Masse der Konsumenten, die die Waren kaufen sollen, sind genau die gleichen Arbeiter, denen vorher möglichst wenig Lohn bezahlt wurde, in jedem Fall natürlich weniger, als dem Wert der von ihnen selbst produzierten Waren entspricht. Was geschieht? Die Waren können nicht verkauft werden, da sich die Käufer diese nicht leisten können. Es gibt einen Widerspruch zwischen Produktion und Konsum bzw. Produktion und Markt resp. Marktausweitung. Damit tritt die kapitalistische Krise ein, die – so gesehen – eine Überproduktionskrise ist: es gibt zu viele Waren. Aber es sind nicht etwa zu viele für die Bedürfnisse der Menschen, sondern lediglich für ihre „Kaufkraft“. Es folgen daher Waren- und Kapitalvernichtung, Produktionsrückgänge, Entlassungen, Arbeitslosigkeit und noch ärmere Menschen, denen dann auch noch Sozialleistungen gestrichen werden, weil man ja sparen muss. Das ist die Realität auch der gegenwärtigen Krise.

Aber die Krise ist auch – oder angeblich sogar vornehmlich – eine Finanzkrise, wie man uns oft genug sagt. Denn das Kapital weiss natürlich, dass die sinnvolle Investition in der Produktion begrenzt ist. Wir haben es im gegenwärtigen Kapitalismus, d.h. im etablierten staatsmonopolistischen Kapitalismus seit Jahrzehnten mit einer permanenten Überakkumulation zu tun, d.h. es gibt immer einen Kapitalüberschuss, der nicht mehr in der Produktion unterzubringen ist. Das ist ein Problem, denn das Kapital muss der Verwertung zugeführt werden. Dieser Überschuss wird dann vermehrt auf den „Finanzmärkten“ untergebracht, somit der eigentlichen Produktionssphäre entzogen. Aber nur scheinbar, denn die Realität holt einen immer irgendwann ein. Und irgendwann stellt sich heraus, dass die real erwirtschafteten Erträge deutlich hinter den hoch gepushten Erwartungen der Spekulationsobjekte zurückbleiben. Dann tritt die Finanzmarktkrise ein, die aber somit auch nur eine Erscheinung einer ganz materiellen, handfesten Wirtschaftskrise ist, wie zuvor beschrieben.

Und vor einem solchen Hintergrund soll nun in der EU gerettet werden, was zu retten ist. Wir hatten ja zuerst die „faulen Kredite“, die über den Weiterverkauf im bankeninternen Kreditsystem weltweit verteilt wurden. Die Banken verlieren Geld, sie müssen von ihren Staaten abgesichert und aufgefangen werden. Manche Staaten können sich das aber nicht leisten – z.B. Island – und gehen sofort Pleite. Die Abschreibungen der Banken führen wiederum nicht nur zum Stocken der wechselseitigen Kreditvergabe, sondern auch bezüglich der Staaten, die sich ebenfalls über die Finanzmärkte finanzieren: über direkte Kredite, aber auch und insbesondere über die berühmten Staatsanleihen. Ist aber bei einem Staat absehbar, dass er weder seine Schulden zurückbezahlen kann noch – aufgrund der Produktionsrückgänge der Wirtschaftskrise selbst – seine Staatsausgaben aus den Steuereinnahmen wird bestreiten können, dann bekommt er gar kein Geld mehr auf diesen „normalen“ Wegen. Dies ist bei Griechenland der Fall, das langsamer in die Pleite schlitterte. Warum ist das nun für die EU ein Problem? Es ist eines in zweierlei Hinsicht.

Erstens: Die grössten Gläubiger Griechenlands sind westeuropäische Banken, v.a. deutsche und französische. So eigenartig es auch wirkt, so ist es doch schlichtweg so, dass die reicheren EU-Staaten Geld nach Griechenland transferieren, damit Griechenland mit diesem Geld die Schulden (oder wenigstens die Kreditzinsen) bei den westeuropäischen Banken bezahlen kann. Die so genannte „Griechenland-Rettung“ ist also in Wirklichkeit eine indirekte und schlecht versteckte Bankenrettung: Das westeuropäische Monopol- und Finanzkapital und seine Regierungen retten sich bloss selbst. Dass daneben die Menschen in Griechenland dem EU-„Spardiktat“, das der griechischen Regierung im Gegenzug auferlegt wird, hilflos ausgesetzt sind, interessiert niemanden. Aber es ist wieder nur ein Schuss ins eigene Knie, denn auf diese Weise kann man die griechische Wirtschaft natürlich genau nicht „ankurbeln“, im Gegenteil: Die Produktion muss abermals einbrechen, die Arbeitslosigkeit steigt, die Armut steigt – und die Kaufkraft und die Staatseinnahmen sinken.

Zweitens ist Griechenland aber nicht nur einfaches EU-Mitglied, sondern auch Mitglied der Euro-Zone. Zwecks Währungsstabilität gibt es in dieser Zone bekanntlich bestimmte Budgetziele, die nicht verfehlt werden dürfen – wovon Griechenland aber natürlich denn doch ein bisschen entfernt ist. Also steht für die EU grundsätzlich einmal fest, dass Griechenland nicht in den Konkurs geschickt werden darf, solange es in der Euro-Zone ist.

Wie aber weiter? Früher oder später wird es zum radikalen Schuldenschnitt kommen, vermutlich um 50% – so viel ist klar. Das wird die westeuropäischen Banken und Versicherungen hart treffen, einspringen müssen im Zweifelsfall wieder deren Nationalstaaten, also letztlich die Menschen mittels Massensteuern. Aber ausserdem? Zwei Ideen sind im Umlauf: Entweder der „Euro-Rettungsschirm“ (EFSF) gibt eine Teilkaskoversicherung für Staatsanleihen der betroffenen Länder wie Griechenland oder Portugal ab, womit Investoren angelockt werden sollen – hierfür wäre der EFSF massiv zu erhöhen, wir sprechen dann schon von Billionenbeträgen, nicht mehr Milliarden; oder der EFSF finanziert sich über die EZB, was schlichtweg bedeuten würde, dass die Gelddruckmaschine angeworfen wird und quasi permanent in Betrieb bleibt. Der zweite Fall entspricht dem Modell der USA. Die USA aber sind mit ihrer Dollarblase genau deshalb längst de facto Pleite, eine Entwicklung, die bereits mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems und der Goldbindung des Dollars eingesetzt hat. Nur weil jeder weiss, dass hinter den USA die mächtigste Kriegsmaschine der Welt steht und diese auch global nach willkürlichen Kriterien eingesetzt wird, steht (bisher) niemand auf und sagt: „Euer Dollar ist nicht einmal das Papier wert, auf das er gedruckt wird“ – was nämlich stimmen würde. Ironie am Rande: Ausgerechnet die Volksrepublik China verfügt über astronomische Dollar-Devisenreserven, mit denen die USA theoretisch jederzeit in den Abgrund gestürzt werden könnten. Es ist sehr fraglich, ob eine ähnliche Situation eine erfreuliche Option für die Herren in Brüssel, Berlin und Paris ist.

Wohl definitiv vom Tisch ist die Idee der Euro-Bonds, also gemeinsamer Staatsanleihen der Länder der Euro-Zone. Diese hätten es den „Krisen- und Pleitenstaaten“ wie Griechenland, Portugal, Spanien und Italien ermöglicht, leichter und zu besseren Bedinungen, d.h. niedrigeren Zinsen, an Geld zu kommen, denn es ergäben sich dann ja sozusagen ein Durchschnittswert und entsprechender Zinssatz. Das wäre natürlich umgekehrt eine Verschlechterung für die stabileren Staaten mit Top-Ranking, also Deutschland, Frankreich, die Niederlande oder Österreich. Und genau deshalb werden die Euro-Bonds nicht eingeführt. Diese Tatsache zeigt nur abermals, dass die EU eben nicht das ist, wofür sie gerne ausgegeben wird: Sie ist kein solidarisches Integrationsprojekt unter Gleichen und Gleichwertigen, sondern eben ein Bündnis gemäss imperialistischer Machtverhältnisse.

Die EU befindet sich also durchaus in einem Dilemma, verfolgt aber klare Ziele, die ich abschliessend zusammenfassen möchte.

1. In der Vergangenheit wurde oft von einer „EU der verschiedenen Geschwindigkeiten“ und von einem „Kerneuropa“ gesprochen – derartiges ist in Wirklichkeit schon Realität. Es gibt eine Euro-Zone und die Rest-EU. Es gibt in der Euro-Zone die stabilen Staaten wie Deutschland, Frankreich, die Niederlande oder Österreich und es gibt die Krisenstaaten wie Griechenland, Portugal, aber, realistisch gesehen, auch Spanien oder Italien. Und es gibt natürlich immer die imperialistischen Grossmächte neben kleineren Staaten. Es gibt also klare Hierarchien innerhalb des Imperialismus. Diese werden früher oder später politisch institutionalisiert werden. D.h. es wird sich wohl ein Regime unter deutsch-französischer Führung herausbilden – eben eine „EU-Wirtschaftsregierung“ –, das zentralisiert agiert und weitreichende Befugnisse haben wird, in die Budgetpolitik, die Lohnpolitik, die Sozialpolitik etc. der einzelnen Staaten einzugreifen. Dies würde die weitere Entdemokratisierung und Entsouveränisierung der Staaten und Bevölkerungen bedeuten.

2. Zur Absicherung wird die Militarisierung der EU weiter vorangetrieben werden. Denn im Inneren wird man sich, wenn man die Fernsehbilder des letzten Generalstreiks in Griechenland betrachtet, gewiss früher oder später zur „Aufstandsbekämpfung“ genötigt sehen. Anderseits geht es auch darum, wie schon erwähnt, in der zwischenimperialistischen Konkurrenz gegenüber den USA aufzuholen. Diesbezüglich werden sich auch neue Bündnisse ergeben, Deutschland hat ganz offensichtlich Russland im Auge. Darüber hinaus wird in der Gesamtauseinandersetzung bestimmt auch die VR China eine Rolle spielen. In welchem Ausmass diese aktiv oder passiv sein und wo und wie die Positionierung stattfinden wird, darüber könnte man heute bloss spekulieren, was eher unseriös wäre.

3. Ist die Krise durchtaucht – und das wird sie –, dann werden wir wieder „business as usual“ haben. An der wirtschaftlichen und sozialen Ausrichtung der EU wird sich nichts ändern. Sie ist das „Europa“ der Banken, Konzerne und Militärs, der wirtschaftlichen und politischen Eliten. Für die einfachen, arbeitenden Menschen in der EU werden weiterhin nur Butterbrot und Peitsche vorgesehen sein.

Denn: Die Krise ist für den kapitalistischen Imperialismus kein Zusammenbruch, sondern immer nur eine nötige Reinigung – und damit auch ein Neubeginn seiner umfassenden Entfaltung.

Was heisst das für uns? Was tun? – Ich möchte es mit den Worten der Generalsekretärin der KP Griechenlands, Aleka Papariga, sagen:

„Unabhängig von der Form, die die EU annehmen wird, wird es da stets ein Gebiet mit einer gemeinsam entschiedenen Politik ohne Widersprüche und Meinungsverschiedenheiten geben:

- die barbarische Strategie gegen die Arbeiterklasse, gegen das arbeitende Volk in allen Mitgliedsstaaten;

- die Beteiligung an imperialistischen Kriegen, dem ‚imperialistischen Frieden‘.

Dieser Politik gegen die Völker wird durch jede Gestalt des EU-Wirkens und jede gemeinsame Politik, die dort erzielt wird, gedient. Dies ist der Klasseninhalt der europäischen Föderalisierung, die von etlichen Mitgliedsstaaten und politischen Kräften derzeit vorgebracht wird. Der Nationalstaat als ein Organ, welcher die Konzentration und Zentralisation des Kapitals in harter Konkurrenz zwischen den Mitgliedsstaaten gewährleistet, wird nicht überwunden oder ausgelöscht werden.

Die politische Linie des Bruchs und Rückzugs aus der EU ist eine Voraussetzung, damit das Ergebnis des Kampfes zum Nutzen des Volkes, für die Perspektive des Sozialismus, für ein vereintes sozialistisches Europa sein wird. Diese Möglichkeit kann nicht automatisch und gleichzeitig in Europa als Ganzem realisiert werden. Sie wird das Ergebnis von aufeinanderfolgenden und abgestimmten Schlägen auf der Ebene der Nationalstaaten sein.

Die Völker müssen aus ihrem Teil her gegen die bürgerlichen Staaten, die Monopole auf nationalstaatlicher wie europäischer und internationaler Ebene kämpfen. Sie können die Beschlüsse der EU nicht ‚korrigieren‘. Sie können eine vorübergehende Abbremsung durch eine aggressive politische Durchbruchlinie erzielen. Letztlich ebnet der Rückzug jedes Landes durch die Überwindung der bürgerlichen Herrschaft den Weg für das Europa des Sozialismus, der gleichberechtigten Zusammenarbeit im Interesse des Volkes.“

Dem ist von meiner Seite nichts mehr hinzuzufügen – aber man kann und soll natürlich darüber sowie über alles, was ich vorgebracht habe, diskutieren.

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