Donnerstag, 25. November 2010

(Un)Sicherheitskakophonie: Anmerkungen zur neuen NATO-Strategie

IMI-Analyse 2010/040

http://www.imi-online.de/2010.php?id=2207
20.11.2010, Jürgen Wagner

Am 19. November 2010 unterzeichneten die versammelten Staats- und
Regierungschefs beim NATO-Gipfeltreffen in Lissabon ein neues
Strategisches Konzept, das damit die bisherige Fassung aus dem Jahr 1999
ersetzt. Hochtrabend kündigte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen
einen großen Wurf an, den er griffig auf die Formel brachte, man würde
damit „NATO 3.0“ einläuten und hierdurch die Allianz grundlegend neu
aufstellen. Damit hatte sich der NATO-Chef, der darauf bestand, die
Strategie persönlich abzufassen, ganz offensichtlich aber verhoben. Denn
in dem Dokument bleibt vieles im Vagen, was darauf hindeutet, dass sich
die NATO-Staaten entweder in zahlreichen Kernpunkten nicht auf bindende
Maßnahmen einigen konnten oder bewusst konkrete Pläne schuldig bleiben
wollten, um sich vor allzu großer Kritik zu immunisieren – vermutlich
war es eine Kombination aus beidem.

Dennoch findet sich im Strategischen Konzept genug, um sich Sorgen zu
machen. Zu nennen ist hier vor allem die zahllosen aufgeführten
„Bedrohungen“ gegen die sich das Bündnis künftig buchstäblich zu rüsten
gedenkt sowie der Aufbau NATO-eigener „ziviler“ Planungskapazitäten und
damit die forcierte Instrumentalisierung nicht-militärischer Akteure und
Instrumente. Auch die erhebliche Aufwertung der Europäischen Union als
„strategischer Partner“ der NATO deutet auf eine noch stärkere künftige
Verzahnung beider Organisationen hin, die aus friedenspolitischer Sicht
alles andere als begrüßenswert ist. Demgegenüber wurde und wird viel
Aufhebens um die neue Partnerschaft mit Russland gemacht, von der aber
genauer besehen ebenso wenig übrig bleibt, wie von den Bekenntnissen zur
nuklearen Abrüstung.


Ausufernde Bedrohungsszenarien

Die NATO setzte nun eine schlechte Tradition fort, die bereits mit dem
ersten Strategischen Konzept nach dem Kalten Krieg ihren Anfang nahm,
das seinerzeit 1991 in Rom verabschiedet wurde. Schon damals wurden
hinter jeder Ecke Gefahren entdeckt, „multidirektionale Bedrohungen“ wie
es hieß, die die weitere Existenz des Bündnisses ebenso wie hohe
Rüstungsausgaben rechtfertigen helfen sollten.

Auch im aktuellen Konzept wird betont, man lebe in einer
„unvorhersehbaren Welt“ (para. 1), um gleich darauf ein ganzes Bündel an
Bedrohungen aufzuzählen: die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln,
Terrorismus, „Instabilität und Konflikte außerhalb der NATO-Grenzen“ und
so weiter (para. 9-11). Neu ist die explizite Aufzählung von
Cyberangriffen (para. 12) sowie Klimawandel und Wasserknappheit (para.
15). Darüber hinaus fand die Sicherheit der Energieversorgung sowie von
Handelswegen zwar auch früher bereits Erwähnung, aber bei weitem nicht
so ausführlich wie in der aktuell verabschiedeten Fassung: „Alle Länder
sind zunehmend abhängig von vitalen Kommunikationsmitteln sowie
Transport- und Transitrouten, von denen die internationale Handels- und
Energiesicherheit abhängt. Dies erfordert größere internationale
Anstrengungen, um die Widerstandsfähigkeit gegenüber Attacken oder
Unterbrechungen zu gewährleisten.“ (para. 13) Deshalb müsse die NATO
„die Kapazitäten entwickeln, um zur Energiesicherheit beizutragen,
einschließlich dem Schutz kritischer Infrastrukturen und Transitgebieten
und -Routen.“ (para. 19)

Was gänzlich fehlt, ist eine irgendwie geartete Hierarchisierung dieser
unzähligen Bedrohungen. Während der im Mai 2010 veröffentlichte Bericht
„NATO 2020“ der von Rasmussen beauftragten Hochrangigen Gruppe noch den
Versuch unternommen hatte, einzelne Aspekte Artikel 5 (gleichbedeutend
mit einem militärischen Angriff), andere Artikel 4 (erfordert lediglich
Konsultationen über das weitere Vorgehen) zuzuordnen, entfällt eine
solche Prioritisierung im nun verabschiedeten Konzept. Es bleibt eine
völlige Beliebigkeit, die schließlich auch zur Folge hat, dass das
daraufhin beschriebene Einsatzprofil mit all diesen Bedrohungen
umzugehen gedenkt – ohne dass adressiert würde, woher die hierfür
notwendigen Finanzmittel herkommen sollen, um die fehlenden Kapazitäten
aufzubauen.


Einsätze und der Comprehensive Approach

Ungeachtet (hoffentlich) sinkender Rüstungsausgaben hält die NATO am
bisherigen ambitionierten Ziel fest, die „Fähigkeit zwei andauernde
größere Operationen und mehrere kleinere Operationen zur kollektiven
Verteidigung und Krisenreaktion auch in ferner Distanz aufrecht zu
erhalten.“ (para. 19) Zwar wird die Verpflichtung auf die Verteidigung
des Bündnisgebietes mehrfach als wichtige Aufgabe unterstrichen, dennoch
wird unmissverständlich klar gemacht, dass künftig im Ausland die Musik
spielen wird. „Wir müssen die die Doktrin und militärischen Fähigkeiten
für Auslandseinsätze weiter ausbauen, einschließlich
Aufstandsbekämpfungs- sowie Stabilisierungs- und Wiederaufbaumissionen.“
(para. 25)

Angesichts der gravierenden Probleme in Afghanistan erhofft sich die
NATO von zwei Aspekten künftig „bessere“ Ergebnisse, was den
„erfolgreichen“ Abschluss von Aufstandsbekämpfungsoperationen anbelangt:
Die frühzeitige Einbindung und Instrumentalisierung ziviler Kapazitäten
(„Comprehensive Approach“) soll die Effektivität der Einsätze massiv
erhöhen. Der Aufbau einheimischer Repressionsorgane
(Sicherheitssektorreformen) – also von Armeen und Polizeien – soll das
westliche Militär entlasten und deutlich geringere
Truppenstationierungen erfordern.

Im Konzept finden sich beide Aspekte wieder, die eine der wichtigsten
Neuerungen darstellen: „Die Lehren aus den NATO-Operationen, besonders
auf dem Balkan und in Afghanistan, machen deutlich, dass eine umfassende
politische, zivile und militärische Herangehensweise für ein effektives
Krisenmanagement erforderlich ist.“ (para. 21) Erstmals wird darüber
hinaus im Konzept der Aufbau NATO-eigener ziviler Planungskapazitäten
anvisiert: „Wir werden […] angemesse aber moderate zivile
Krisenmanagementkapazitäten herausbilden, um uns besser an zivile
Partner ankoppeln zu können. […] Diese Kapazitäten können auch dafür
verwendet werden, zivile Aktivitäten einzusetzen oder zu koordinieren.“
(para. 25) Kurz gesagt: ungeachtet der massiven Proteste nahezu
sämtlicher ziviler Organisationen maßt sich die NATO an, diese künftig
nach ihrem Gutdünken für ihre militärischen Kriegsziele wortwörtlich
herumzukommandieren – der Instrumentalisierung ziviler Akteure in
Krisengebieten wird damit Tür und Tor geöffnet.

Afghanistan spielt im Konzept selbst kaum eine Rolle, sondern wurde am
zweiten Tag separat abgehandelt. Kernelement ist derzeit der Versuch,
die Zielgröße der afghanischen Polizei und Armee von ursprünglich einmal
160.000 nun schnellstmöglich auf 400.000 hochzuschrauben. Dies soll es
ermöglichen, ab nächstem Jahr mit der Übergabe der Kriegsführung an die
afghanischen Kräfte beginnen zu können, ein Prozess, der nach
derzeitigen Verlautbarungen 2014/2015 abgeschlossen sein und damit zum
westlichen Abzug führen soll. Allerdings pfeifen es die Spatzen bereits
von den Dächern, dass dieser Plan so nicht aufgehen wird. Ein Bericht
nach dem anderen betont bereits jetzt, dass weder die afghanische Armee
noch die Polizei auf absehbare Zeit auch nur annähernd in der Lage sein
werden, das Land unter Kontrolle zu bringen. Dennoch sollen die
Kapazitäten für Sicherheitssektorreformen, die in Afghanistan eher
ad-hoc zusammengeschustert wurden, künftig systematisch aufgebaut und
auch in anderen Regionen zur Anwendung gebracht werden: „Wir werden
Kapazitäten zum Training und Aufbau lokaler Kräfte in Krisenzonen
entwickeln, damit lokale Autoritäten in der Lage sind, so schnell wie
möglich die Sicherheit auch ohne internationale Hilfe aufrecht zu
erhalten.“ (para. 25)


Transatlantische Treueschwüre

Schon in den letzten Erklärungen der NATO-Gipfeltreffen war die
Bedeutung der Europäischen Union erheblich aufgewertet worden.
Hintergrund sind die immensen wirtschaftlichen und militärischen
Probleme der USA, die Washington wenig andere Optionen lassen, als den
Versuch zu unternehmen, die „Lasten der Weltordnungspolitik“ stärker auf
die europäischen Verbündeten zu verlagern. Im Gegenzug beanspruchen die
EU-Staaten mehr Mitspracherechte im Bündnis, in dem bislang die USA die
erste und nahezu einzige Geige gespielt haben. Ferner erwarten die
EU-Verbündeten, dass Washington seinen Widerstand gegen eine weitere
Militarisierung der Europäischen Union, die auch Kapazitäten
herausbildet, um Kriege notfalls ohne die USA führen zu können, aufgibt.

Dieses Bündel wurde im neuen Strategischen Konzept mehr oder weniger
konkret adressiert, indem es heißt: „Die NATO erkennt die Bedeutung
einer starken und fähigeren europäischen Verteidigungsfähigkeit an.“
Anschließend ist die Rede von einer „strategischen Partnerschaft
zwischen der NATO und der EU“ und – entscheidend – vom „Respekt vor der
Autonomie und institutionellen Integrität beider Operationen.“ (para.
32) Mit anderen Worten, implizit wird hier von Washington akzeptiert,
dass die Europäische Union eigene Wege im Militärbereich gehen kann,
solange sie dieses Zugeständnis mit einer größeren Unterstützung der USA
im Rahmen von NATO-Operationen zurückzahlt. Schon heute arbeiten beide
Organisationen „vor Ort“ teils eng zusammen, etwa bei der
Aufstandbekämpfung im Kosovo oder dem Aufbau von Repressionsorganen in
Afghanistan. Diese Zusammenarbeit soll offenbar systematisch ausgebaut
werden, wenn es im Konzept heißt: „Wir werden […] unsere praktische
Kooperation in Operationen im gesamten Spektrum an Kriseneinsätzen
ausbauen, von der koordinierten Planung bis hin zum Feldeinsatz.“ (para. 32)

Gleichzeitig wird auch ein Kerninteresse der USA angesprochen, nämlich
der Appell an eine „fairere Lastenverteilung“ (para. 3), die dazu führen
soll, dass Washington nicht mehr länger den Großteil der Kosten trägt.
Wie dies allerdings umgesetzt werden soll, bleibt das Konzept schuldig.


Liebesgrüße an Moskau?

Viel Aufhebens wird um die neue Partnerschaft mit Russland gemacht. Und
in der Tat sind die Ausführungen gegenüber dem Bericht „NATO 2020“
deutlich abgemildert worden, wo noch vor einem aggressiven Russland
explizit gewarnt worden war. Allerdings sollte dies nicht darüber
hinwegtäuschen, dass in der Substanz kaum Zugeständnisse an Moskau
gemacht wurden.

Dies betrifft insbesondere eine weitere Expansion der NATO nach Osten.
Hier wird auch im neuen Konzept eindeutig festgehalten, dass „die Tür
für eine NATO-Mitgliedschaft weiter völlig offen bleibt.“ (para. 27)
Zwar wurde es vermieden, im selben Paragrafen die aus Sicht Moskaus zwei
problematischsten Kandidaten – die Ukraine und Georgien - hierbei
explizit zu benennen, dies wird allerdings wenig später nachgeholt: „Wir
werden […] die Partnerschaften mit der Ukraine und Georgien innerhalb
der NATO-Ukraine und NATO-Georgien Kommissionen weiterentwickeln.“
(para. 35) Diese beiden Kommissionen wurden explizit als
Heranführungsmechanismen für beide Länder an eine NATO-Mitgliedschaft
geschaffen, weshalb diese Passage wenig zu Moskaus Beruhigung beitragen
dürfte. Die Äußerungen, eine Partnerschaft mit Russland anstreben zu
wollen, werden dadurch unglaubwürdig. Russland erhält außerdem weiterhin
keinerlei substanzielle Mitentscheidungsrechte an der NATO-Politik. Der
Medwedew-Vorschlag für einen Euro-atlantischen Sicherheitsvertrag, der
dieses ermöglicht hätte, findet keinerlei Erwähnung.


Kostspieliger Raketenschild

Eine der wichtigsten Passagen des neuen Konzeptes bezieht sich auf das
Bekenntnis, einen NATO-Raketenabwehrschild aufzubauen. „Wir werden […]
die Kapazität entwickeln, um unsere Bevölkerung und Territorium gegen
ballistische Raketenangriffe zu schützen.“ (para. 19) Damit scheint
endgültig die Entscheidung gefallen, dass die Teile der
US-Raketenabwehr, die in Osteuropa stationiert werden sollen, in ein
gemeinsames NATO-System überführt werden. Ob und wie russischen
Vorbehalten gegenüber einer Raketenabwehr entsprochen wird, ist bislang
noch offen.

Die Formulierung im Konzept ist insofern wichtig, als bisher die NATO
primär mit einer Regionalen Gefechtsfeldraketenabwehr (Theater Missile
Defence) geliebäugelt hatte, die ausschließlich zum Schutz von im
Ausland stationierten Soldaten in der Lage ist. Die nun gewählte
Formulierung „Schutz der Bevölkerung und des Territoriums“ bedeutet eine
– ungleich kostspieligere – Nationale Raketenabwehr, die das gesamte
Bündnisgebiet abdecken soll.

Insofern sind die von NATO-Generalsekretär Rasmussen ins Spiel
gebrachten Kosten von 147 Mio. Euro bzw. 200 Mio. Euro pure Luftnummern.
Mit diesem Geld ist es lediglich möglich, existierende – und aus den
nationalen Budgets separat zu finanzierende – Kapazitäten miteinander zu
verbinden. Schon vor Jahren hatte die NATO eine Machbarkeitsstudie
anfertigen lassen, in der sie zu dem Ergebnis kam, die nun anvisierte
„High-End-Lösung“ werde Gesamtkosten von etwa 20 Mrd. Euro verursachen
(Raketenabwehr: beschlossen, Geopowers.com, 05.03.2007).


Lippenbekenntnisse zur nuklearen Abrüstung

Auch das Bekenntnis zur nuklearen Abrüstung im neuen Strategischen
Konzept ist ein schlechter Witz. Denn gleich darauf wird betont:
„Solange es Atomwaffen geben wird, wird die NATO eine nukleare Allianz
bleiben.“ (para. 17) Mehr noch, der „Wert“ nicht nur der amerikanischen,
sondern auch der französischen und britischen Atomwaffen wird im selben
Atemzug explizit gewürdigt (para. 18).

Gleichzeitig finden die im Rahmen der nuklearen Teilhabe weiterhin in
fünf NATO-Ländern (darunter Deutschland) stationierten US-Atomwaffen
keinerlei Erwähnung. Auch werden keine bindenden Abrüstungsschritte
vorgeschrieben, die Modernisierung des Atomwaffenarsenals geht also
weiter und die NATO wird ebenfalls nicht von ihrer bisherigen Strategie
abrücken, ggf. Atomwaffen in einem Konflikt als erste einzusetzen
("First-use").


Geheimniskrämerei

Trotz so mancher konkreter Aspekte, das neue Strategische Konzept ist
vor allem ein bunter Strauß an (Un)Sicherheit, aus dem sich jeder mehr
oder weniger beliebig bedienen können wird. Wie – und ob überhaupt - die
NATO diese Kakophonie zu ordnen gedenkt und Prioritäten festlegen will,
bleibt im Dunkeln, obwohl dies schon allein deshalb erforderlich wäre,
da nicht genug Ressourcen für sämtliche anvisierten Aufgaben zur
Verfügung stehen werden.

Aufschlussreich hätte hier das parallel zur NATO-Strategie erarbeitete
mehrere hundert Seiten umfassende geheime Dokument sein können, das dem
Strategischen Konzept angehängt ist. Es enthält einem Bericht der New
York Times (30.09.2010) zufolge, die militärische Feinausplanung auf
Basis der im Strategischen Konzept vorgenommenen Bedrohungsanalyse.
Schon die Ausplanung des Strategischen Konzeptes erfolgte ungeachtet
aller Versprechungen hinter verschlossenen Tüten. Nicht einmal
Parlamentarier, geschweige denn die Zivilgesellschaft wurden in den
Prozess mit einbezogen. In Deutschland bekamen bspws. lediglich die
Obleute des Außen- und Verteidigungs-Ausschusses den Entwurf zu Gesicht,
der erstmals Ende September zirkulierte und danach mehrfach überarbeitet
wurde. Sie wurden jedoch zu Stillschweigen verpflichtet – ein offener
und transparenter Prozess, wie er versprochen wurde, sieht jedenfalls
anders aus. Diese Geheimniskrämerei gilt scheinbar noch stärker für das
dem Konzept angehängten Dokument: "Wenn sie glauben, das Strategische
Konzept sei geheim, dann machen sie sich keinerlei Vorstellungen
darüber, wie geheim das operationelle Papier ist und bleiben wird",
zitiert die New York Times einen ungenannten osteuropäischen Diplomaten.

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