Montag, 20. September 2010

Poonal Nr. 913, 17. September 2010

Paramiliärischer Angriff und Entführung von Víctor Ayala überschatten
Unabhängigkeitsfeiern
von Philipp Gerber, Oaxaca

(Berlin, 17. September 2010, npl).- Die groß angelegte
Unabhängigkeitsfeier des so genannten „Bicentenario“ diente in den
südlichen Bundesstaaten offensichtlich zum Übertünchen von Angriffen auf
soziale Bewegungen. Während die Scheinwerfer auf die Festlichkeiten zum
200. Jahrestag der Unabhängigkeit gerichtet waren, haben in den
Unruheregionen Oaxaca und Guerrero schwere Übergriffe auf soziale
Bewegungen stattgefunden.

In Oaxaca eskalierte der Konflikt um San Juan Copala, wo sich drei
indigene Organisationen um die Vorherrschaft der symbolträchtigen Gemeinde
der Triqui-Indigenen streiten. Unabhängige Quellen über die Situation
liegen nicht vor, da die Gemeinde seit November 2009 von Bewaffneten der
Nachbardörfer El Rastrojo und La Sabana belagert wird.

Laut Jorge Albino, dem Vertreter des autonomen Bezirks, drangen in der
Nacht zum 13. September rund 500 Bewaffnete der Organisationen Vereinigung
für das Gemeinwohl der Region Triqui UBISORT (Unión de Bienestar Social de
la Región Triqui) und Bewegung zur Vereinigung des Kampfes der Triqui MULT
(Movimiento de Unificación de Lucha Triqui) nach einer zweistündigen
Schießerei bis zum Gemeindesitz vor und konnten ihn einnehmen. Die beiden
Organisationen stehen der Partei der Institutionellen Revolution PRI
(Partido Revolucionario Institucional) nahe. Die wenigen Familien, je nach
Quellen sollen es zwischen 20 und 50 sein, die nach der monatelangen
Belagerung der Gemeinde noch zum Projekt des autonomen Bezirks halten,
wurden aufgefordert, sich innerhalb von 24 Stunden zu ergeben, sonst
würden sie niedergemetzelt. Drei Frauen wurden in den letzten Tagen durch
Schüsse verletzt: María Rosa Francisco (35), María Rosa López (55) und
Macaria Merino Martínez (85). Diese können nicht medizinisch versorgt
werden.

Störfaktor Mahnwache

Erst zu Wochenbeginn hatte die Regierung von Oaxaca den im Exil mit einer
Mahnwache demonstrierenden Triqui-Frauen versprochen, dass ein
Krankenwagen nach San Juan Copala entsandt werde und dort
Polizeipatrouillen stattfinden sollten. Doch diese Versprechen erwiesen
sich, ebenso wie die Zusage, dass die hungernden Familien zehn Tonnen Mais
geliefert bekämen, als Finte. Denn die kleine Gruppe von rund zwei Dutzend
Indigenas hatte sich auf dem Hauptplatz in Oaxaca-Stadt dauerhaft
installiert und war dadurch ein Störfaktor für die Feierlichkeiten zum
Unabhängigkeitstag. Nach einer polizeilichen Räumungsdrohung und mit den
ausgehandelten Versprechen hatten sich die Triqui darauf eingelassen, für
die Dauer der Feiern auf einen alternativen Platz zu gehen.

Nicht viel besser erging es protestierenden Triqui auf dem Hauptplatz in
Mexiko-Stadt: Die Stadtregierung der Partei der Demokratischen Revolution
PRD (Partido de la Revolución Democrática) entsandte Polizisten, die den
dortigen Protest während der Feierlichkeiten hermetisch abriegelten –
stundenlang wurde niemand herein und niemand herausgelassen. Während also
die MestizInnen ihre 200-jährige Unabhängigkeit von Spanien feiern, sind
die Indigenen im Land immer noch in Repression und Armut gefangen.

„Es gibt nichts zu feiern“

„Es gibt nichts zu feiern, wir sind immer noch eine Kolonie“, fasste ein
Demonstrant in Chilpancingo, Guerrero, diese Stimmung zusammen. In
Guerreros Hauptstadt versuchte der Gouverneur Zeferino Torreblanca (PRD),
die nächtliche Unabhängigkeitsfeier anzuführen. Doch kaum auf der Bühne,
wurde er von einem Großteil des Publikums lautstark niedergeschrien. Nach
erstem Zögern verkündete er dann doch die Worte des Priesters Hidalgo, mit
denen der Kampf gegen die Spanier vor 200 Jahren begonnen hatte. Das
anschließende Glockengeläut, Teil des Rituals, wurde dann aber wegen der
allgemeinen Verwirrung über den Volkszorn vergessen.

Bauern-Aktivist Víctor Ayala Tapia entführt

Schon tagsüber hatten am 15. September 17 Organisationen gegen die
Kriminalisierung des sozialen Protests im Bundesstaat Guerrero
protestiert. Jüngstes Beispiel ist das Verhaften und Verschwindenlassen
des Aktivisten Víctor Ayala Tapia am 14. September. Der Anführer der
Bauernorganisation „Frente Libre Hermenegildo Galeana“ wurde nach längerer
polizeilicher Überwachung seines Hauses just nach dem Abzug der
Patrouillen von bewaffneten Männern in einen Wagen ohne Nummernschild
gezerrt und gilt seither als verschwunden. Seine Ehefrau bekam in der
Nacht nach der Tat ein Dutzend Drohanrufe der Entführer und am Morgen
darauf Besuch von der Polizei, die sie zu der Aussage zwingen wollte, dass
die Polizei nichts mit dem Verschwinden ihres Ehemannes zu tun habe.

Weitere Informationen:

* Radio-Interview mit Jorge Albino:
http://www.chiapas.indymedia.org/article_176434

* Eilaktion des Kollektivs gegen Folter wg. des Verschwindenlassens von
Víctor Ayala de Guerrero:
http://enlacezapatista.ezln.org.mx/2010/09/16/el-colectivo-contra-la-tortura-llama-a-una-accion-urgente-por-el-companero-victor-ayala-de-guerrero/

URL:
http://www.npla.de/de/poonal/3001-paramiliaerischer-angriff-und-entfuehrung-von-victor-ayala-ueberschatten-unabhaengigkeitsfeiern

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