Mittwoch, 24. Februar 2010

Sahra Wagenknecht: Brutale Einschnitte

Artikel von Sahra Wagenknecht, erschienen in der Tageszeitung junge Welt am 12.02.2010
Analyse. Katastrophale Aussichten für die breite Bevölkerung: Mit Steuergeschenken für Kapital und Besserverdiener sowie mit einer Schuldenbremse für die öffentliche Hand setzt »Schwarz-Gelb« die Umverteilungspolitik der Vorgängerregierung fort

Scheinbar steht alles auf dem Kopf. Während zum wirtschaftspolitischen Credo der Neoliberalen seit jeher nicht nur das Abfeiern von Deregulierung, Privatisierung und Sozialraub gehörte, sondern untrennbar damit verbunden auch das unermüdliche Hohelied auf Haushaltskonsolidierung und Schuldenabbau, treibt jetzt ausgerechnet eine liberal-konservative Koali­tion die öffentliche Hand in die höchste Neuverschuldung der bundesdeutschen Geschichte hinein. Und während die Linke immer schon forderte, der Staat müsse dem wirtschaftlichen Niedergang durch aktive Ausgabenpolitik entgegenwirken und dafür im Notfall auch rote Zahlen in Kauf nehmen, bleiben Beifallsbekundungen für das ungenierte deficit spending à la Merkel, Schäuble & Co. von dieser Seite aus. Und das, obwohl es in Regierungskreisen sogar wieder als schick gilt, sich auf einen Ökonomen zu berufen, dessen Thesen im ökonomischen Mainstream der Bundesrepublik jahrzehntelang geächtet und dessen Anhänger aus der universitären Ökonomie weitgehend verdrängt worden waren: John Maynard Keynes.

Begonnen hatte diese rhetorische Wende noch zu Zeiten der großen Koalition. Eingeleitet wurde sie allerdings nicht von dem damaligen SPD-Finanzminister Peer Steinbrück, der jeder Art von Konjunkturprogrammen lange ausgesprochen feindselig gegenüberstand, sondern von dem heutigen Minister für Finanzen Wolfgang Schäuble, der zu jener Zeit noch im Innenministerium Dienst tat. Mit den Worten »In der Krise muß die CDU keynesianisch denken« forderte Schäuble im Handelsblatt vom 28.11.2008 den wirtschaftspolitischen Tabubruch – zu einer Zeit, als sich abzuzeichnen begann, daß der Bundesrepublik ein konjunktureller Sinkflug bevorstehen könnte, wie es ihn in der gesamten Nachkriegsgeschichte noch nicht gegeben hat. Mit Blick auf diese drohende Gefahr regte Schäuble eine »radikale Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik« und eine »kurzfristige Stärkung der Nachfrage« an.

Verlogene Kritik der SPD
In der Folgezeit schien sich diese Sicht der Dinge in der großen Koalition allmählich durchzusetzen, zag- und stümperhaft zunächst mit dem Mini-Konjunkturpaket I und etwas entschlossener im Konjunkturpaket II. Inzwischen gehört eine nachfrageorientierte Rhetorik zum Standardrepertoire der »schwarz-gelben« Ministerriege. Selbst FDP-Wirtschaftsminister Brüderle brabbelt heute von »Nachfrageschwächen«, und Bundeskanzlerin Merkel läßt den keynesianischen Sound inzwischen in jeder ihrer Reden klingen: Solange die Krise andauere, müsse man »in Wachstum investieren« und also Schulden machen, sparen könne der Staat, wenn es wieder aufwärts gehe. Die SPD profiliert sich im Gegenzug gern als Wächter solider Staatsfinanzen und pflegt der Regierung die roten Zahlen um die Ohren zu hauen.

Verkehrte Welt? Nun ja, daß Sozialdemokraten Konservative in Sachen Neoliberalismus rechts überholen, wäre kein Novum. Wer die Agenda der Regierung Schröder mit der von Helmut Kohl vergleicht, kann gut verstehen, warum der frühere BDI-Chef Hans-Olaf Henkel ersteren sehr viel mehr als letzteren schätzte. Daß der SPD der Schäuble-Merkel-Kurs nicht schmeckt, spricht also nicht unbedingt gegen ihn. Zum anderen ist die sozialdemokratische Aufregung über explodierende Staatsschulden natürlich reichlich verlogen. Immerhin gehen öffentliche Mindereinnahmen im Volumen von 13 Milliarden Euro, die in diesem Jahr wirksam werden, noch auf Entscheidungen der großen Koalition zurück. Dieses Finanzloch hat »Schwarz-Gelb« also geerbt, dafür trifft die liberalen Steuersenkungsfanatiker, so unsympathisch sie uns sein mögen, keine Schuld. Das gleiche gilt übrigens für die endlosen Steuergeschenke der Vorjahre – Geschenke an Konzerne, Banken, Erben, Spitzenverdiener, Vermögensmillionäre – die alle unverändert weiterwirken und die öffentlichen Haushalte belasten. Was die CDU/CSU-FDP-Regierung auf ihre Kappe nehmen muß, ist bisher lediglich die Vergrößerung des Finanzlochs um weitere 8,5 Milliarden Euro durch das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Wenn also die SPD der aktuellen Regierung unsolide Finanzpolitik vorwirft, ist das etwa so glaubwürdig, als wenn ein notorischer Trunkenbold, der gerade sein Jahresgehalt versoffen und sein Haus verpfändet hat, seine Frau verprügeln würde, weil sie sich einen Lippenstift auf Pump gekauft hat. Die Verrenkungen, die die SPD anstellt, um als Opposition wahrgenommen zu werden, müssen uns also nicht interessieren. Aber die Frage bleibt: Ist es richtig, die Regierung für die eskalierende Neuverschuldung zu kritisieren, oder was genau sollte die Stoßrichtung linker Kritik sein?

Wer erhält Steuergeschenke?
Schauen wir uns zunächst einmal die Zahlen an. Das für 2010 von Schäuble eingeplante Defizit liegt bei insgesamt 100 Milliarden Euro, davon 86 Milliarden im regulären Bundeshaushalt und 14 Milliarden in diversen Schattenhaushalten. Zum Vergleich: Im Krisenjahr 2009 lag das Defizit des Bundes bei schätzungsweise 37,5 Milliarden Euro. Den bisherigen bundesdeutschen Neuverschuldungsrekord verantwortet interessanterweise auch ein Minister einer »schwarz-gelben« Regierung, nämlich Kohls langjähriger Finanzminister Theodor Waigel (CSU), der es kurz vor Ende seiner Amtszeit einmal auf eine Neuverschuldung von 40 Milliarden Euro brachte. Das führte damals zu großer Aufregung, war allerdings, wie man sieht, noch nicht einmal die Hälfte dessen, was uns jetzt bevorsteht. Einschließlich der eskalierenden Defizite von Ländern und Kommunen wird sich die öffentliche Hand 2010 voraussichtlich neue Schulden in Höhe von etwa sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes aufhalsen.

Doch zurück zum Bundeshaushalt: Im Detail resultiert das dort erwartete Milliardenloch aus einer Erhöhung der Bundesausgaben um 10,5 Prozent einerseits bei einem prognostizierten Einbruch der öffentlichen Einnahmen um 6,5 Prozent auf der Gegenseite. Diese Kluft ist, für sich genommen, kein Skandal. Wenn der Einnahmeausfall, wie die Regierung es gern darstellt, tatsächlich nichts anderes wäre als die unausweichliche Folge der tiefen Wirtschaftskrise und die Ausgabensteigerung eben staatlichem Gegensteuern zur Stärkung der Nachfrage entspräche, wäre gegen einen solchen Haushalt wenig einzuwenden. Das Problem sind nicht die Schulden, sondern der Quell, aus dem sie sich speisen, anders gesagt: die Taschen, in denen das Geld, das der öffentlichen Hand jetzt fehlt, sich am Ende wiederfinden wird. Und das ist kein moralisches, sondern ein ökonomisches Problem.

Wie erwähnt, bestreitet kaum noch jemand, daß es derzeit im Land an Nachfrage mangelt. Die zwei wichtigsten Gründe für diesen Nachfragemangel liegen auf der Hand: Der Exportmotor lahmt, weil der ökonomische Niedergang in den USA, die Überschuldung der US-Verbraucher, aber auch die Verheerungen, die die Wirtschaftskrise in Süd- und Osteuropa angerichtet hat, dafür sorgen, daß es auf absehbare Zeit im Ausland nicht mehr so viele finanzkräftige Kunden geben wird, die sich um Güter, made in Germany, reißen. Und die inländische Nachfrage liegt am Boden, weil Jahrzehnte rüden Lohndumpings, rücksichtsloser Sozialzerstörung und schrumpfender öffentlicher Investitionen ihr die Grundlage entzogen haben.

Da die Auslandsnachfrage jenseits des Einflusses der Bundesregierung liegt, bestünde die einzig sinnvolle Antikrisenstrategie also darin, die Binnennachfrage zu stärken. Das wäre klassischer Keynesianismus, und genau das gibt die Regierung ja auch zu tun vor. Aber sie tut es nicht. Denn die unters Volk gestreuten Steuergeschenke beglücken in erster Linie Leute, die so schon nicht mehr wissen, wohin mit dem vielen Geld, während jene, die jeden zusätzlichen Euro mit Freude konsumieren würden, bald noch weniger haben werden als heute. Denn nach den Plänen der Regierung werden sie es sein, die die an die noble Gesellschaft verteilten Präsente in den nächsten Jahren bezahlen müssen. Man muß wahrlich kein Anhänger von Keynes sein, um ihn dagegen zu verteidigen, mit seinem Namen für eine solche Politik in Haftung genommen zu werden. Der Keynesianismus ist ganz sicher ein Lehrgebäude mit sehr weiten – rechten wie linken – Interpretationsmöglichkeiten. Aber einfach nur möglichst viele öffentliche Schulden aufzutürmen, hat mit Keynesianismus etwa so viel zu tun wie die Verstaatlichung der Hypo Real Estate mit einer marxistischen Beantwortung der Eigentumsfrage.

Kaum Entlastung
Das gilt im übrigen nicht nur für »Schwarz-Gelb«. Das galt in gleicher Weise schon für die Konjunkturpakete der großen Koalition, die zu wesentlichen Teilen ebenfalls aus Steuersenkungen bestanden. Maßnahmen wie die Erhöhung des Grundfreibetrags und die Verringerung des Eingangssteuersatzes, die die öffentliche Hand 2009 etwa drei Milliarden Euro gekostet haben und 2010 über sechs Milliarden Euro kosten werden, erwecken zwar auf den ersten Blick den Anschein, vor allem Gering- und Mittelverdiener zu entlasten. Aber das stimmt nicht. Viele Billiglohnjobs werden inzwischen so jämmerlich bezahlt, daß die Inhaber ganz aus der Einkommenssteuer herausfallen. Diese Einkommensgruppen haben also keinen müden Euro mehr, wenn die Steuersätze sinken. Wer knapp oberhalb der Grenze verdient, der kann sich über ein kleines Plus freuen. Aber in erster Linie profitieren Bezieher hoher und höchster Einkommen, weil Steuersenkungen am unteren Ende den gesamten Tarifverlauf verschieben und das zahlt sich weit überproportional für die aus, die viel zu versteuern haben. Gleiches gilt natürlich für die ab 2010 mögliche Absetzbarkeit der Krankenkassenbeiträge: Wer mehr zahlt, kann mehr absetzen.

Das Bundesfinanzministerium selbst hatte im letzten Jahr auf eine Anfrage der Linkspartei Zahlen zu den Begünstigten der Steuernachlässe im Rahmen des Konjunkturpakets II veröffentlicht. Danach wird die gesamte Gruppe der Niedrigverdiener, die im Jahr Einkommen von bis zu 10000 Euro nach Hause tragen, um insgesamt 0,15 Milliarden Euro entlastet. Bezieher von Jahreseinkommen jenseits der 53000 Euro dagegen profitieren in fast zehnfacher Höhe, über sie ergießt sich ein Goldregen im Volumen von knapp 1,5 Milliarden Euro.

Diese Verteilung der Finanzamtgaben macht auch gut verständlich, warum der private Konsum 2009 trotz der gepriesenen Steuersenkungen nicht zugenommen hat. Er wäre vielmehr ohne den künstlichen Boom durch die Abwrackprämie um weitere 0,5 Prozent eingebrochen, und das von jenem niedrigen Niveau aus, auf dem er in Deutschland schon seit Jahren dahindümpelt. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie konjunkturpolitisch sinnlos Steuersenkungen sind, dann hat spätestens das Jahr 2009 ihn erbracht.

Angesichts aktueller Diskussionen sollten wir auch nicht vergessen, was für feine Dinge das damalige Konjunkturpaket noch enthielt. Etwa eine Senkung der Krankenversicherungsbeiträge um 0,6 Prozentpunkte. Genau dieses Geld, das Beschäftigten wie Unternehmern paritätisch erlassen wurde und ebenfalls den Konsum erhöhen sollte, holen sich die Kassen jetzt ganz unparitätisch bei den Beschäftigten allein über Zusatzbeiträge zurück. Was für eine konjunkturpolitische Großtat! Bleibt die Unterstützung der Kurzarbeit durch Bundesmittel, die sicher zum Erhalt von Arbeitsplätzen beigetragen hat. Die Frage ist nur, wie lange diese Brücke, die die öffentliche Hand inzwischen 14 Milliarden Euro gekostet hat, noch trägt, wenn kein neues Ufer in Sicht kommt. Und danach sieht es im Moment nicht aus. Denn die von der Regierung für 2010 prognostizierten 1,5 Prozent Wachstum sind nach dem Fünf-Prozent-Einbruch im letzten Jahr nicht viel mehr als Stagnation auf niedrigem Niveau.

Negative wirtschaftliche Wirkung
Fassen wir zusammen: Die großen Posten des Konjunkturpakets II waren keine Stütze des Konsums und auch keine Stütze der Investitionstätigkeit, sondern bedeuteten schlicht eine weitere Plünderung der öffentlichen Kassen. Wie durch die vielen Steuergeschenke der Jahre zuvor, die die Staatsquote bereits in den Jahren 1999 bis 2008 um fast fünf Prozentpunkte absinken ließen, wurde auf diesem Wege nur die Aktionsfähigkeit der öffentlichen Hand weiter untergraben: Ohne positive konjunkturelle Konsequenzen, im Gegenteil.

Genau das setzt »Schwarz-Gelb« mit dem »Wachstumsbeschleunigungsgesetz« nahtlos fort. Natürlich ist nicht auszuschließen, daß mancher Millionenerbe im Wissen um die faktisch abgeschaffte Erbschaftssteuer die Gattin mit einem Diamentengehänge beglückt, sobald der Erbonkel auch nur ernstlich krank wird, oder Baron Finck die Extraprofite, die seine Mövenpick-Kette dank der ermäßigten Mehrwertsteuer für Hoteliers machen wird, mit einigen Flaschen Champagner begießt, aber niemand kann im Ernst erwarten, daß diese Lebensfreuden der oberen Zehntausend in eine spürbare Steigerung der volkswirtschaftlichen Nachfrage umschlagen. Die Kindergelderhöhung, darauf ist oft hingewiesen worden, begünstigt Besserverdienende mit 40 Euro, Normalverdiener nur mit 20 Euro und Hartz-IV-Bezieher mit dem müden Lächeln seines ARGE-Betreuers, der jetzt die versehentlich ausgezahlten 20 Euro mit Druck und Schikane wieder einzutreiben sucht. Daß dies unter Gerechtigkeitsaspekten ein einziger Skandal ist, kann nicht oft genug betont werden. Aber es ist eben auch keine nachfragestimulierende Politik. Von der Erhöhung der steuerabzugsfähigen Zinssumme bei Unternehmen auf drei Millionen Euro dürften ebensowenig die vielen kleinen Gewerbetreibenden profitieren, denen das Wasser in der Krise bis zum Hals steht. Denn die können von Krediten, die derartige Zinszahlungen verursachen würden, in der Regel nur träumen.

Allerdings wäre es falsch, der Politik einfach nur vorzuwerfen, daß ihre Maßnahmen konjunkturpolitisch ohne Effekt sind. Dieser Vorwurf ließe sie sehr viel harmloser erscheinen, als sie in Wahrheit ist. Denn tatsächlich werden all diese Unsinnigkeiten erhebliche wirtschaftliche Folgewirkungen haben, nur eben nicht die gewünschten oder als gewünscht angegebenen. Denn sie alle erodieren die Einnahmebasis des Staates auf Jahre und sorgen so dafür, daß immer weniger Geld für die Dinge vorhanden ist, deren Finanzierung dringend nötig wäre. Nötig aus Gründen des gesellschaftlichen Bedarfs wie zur Überwindung der Krise.

Beispielsweise enthielt das Konjunkturpakt II neben all dem geschilderten Unfug auch eine nützliche Komponente: die Bereitstellung von insgesamt 14 Milliarden Euro für öffentliche Investitionen in den Jahren 2009 und 2010. Das war zwar viel zu wenig, um den wirtschaftlichen Einbruch auszugleichen, aber es hätte immerhin zu einer bescheidenen Stabilisierung beitragen können. Selbst das allerdings kann man sich ab 2010 abschminken. Denn wegen gähnender Kassenleere haben die Kommunen angekündigt, in diesem Jahr ihre Ausgaben drastisch zu beschneiden. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund warnt bereits, das für 2010 erwartete kommunale Haushaltsloch in Höhe von zwölf Milliarden Euro werde »fatale Folgen für die Infrastruktur« haben. Alarmiert titelte die Financial Times Deutschland: »Städte streichen Investitionen zusammen« (FTD, 5.1.2010); trotz – oder, wie man's nimmt: wegen – des Konjunkturpakets. Denn Hauptgrund sind die einbrechenden Steuereinnahmen.

Damit sind wir am entscheidenden Punkt: Wenn die Regierung auf Jahrzehnte immer höhere Schulden machen könnte und damit Wohltaten für die oberen Zehntausend finanzieren würde, wäre das noch vergleichsweise unschädlich. Die Konjunktur würde nicht gefördert, es würde aber auch nicht viel Schaden angerichtet, und irgendwann wäre der Staat eben bankrott und die Besitzer der Staatsanleihen – also zu großen Teilen just jene oberen Zehntausend – wären das viele schöne Geld wieder los. Aber: Genau dahin wird es eine Regierung, der die Wünsche des Geldadels Befehl sind, niemals freiwillig kommen lassen. Wenn man eines Merkel und Schäuble nicht vorwerfen sollte, dann, daß sie den Staat in den Bankrott führen würden. Das werden sie nicht tun. Sie werden vielmehr spätestens ab dem nächsten Jahr alles daran setzen, die roten Zahlen durch brachiale Sparpolitik wieder schrumpfen zu lassen.

Schuldenbremse wirkt verheerend
Mit der von der großen Koalition eingeführten Schuldenbremse ist der dann als Rechtfertigung notwendige »Sparzwang« längst geschaffen. Und niemand aus der derzeit so schuldenfreudigen Regierungsriege hat diese selbstgenähte Zwangsjacke auch nur mit einer Silbe in Frage gestellt. Die Schuldenbremse indessen bedeutet: Es müssen im nächsten Jahr im Bundeshaushalt zehn Milliarden Euro weggekürzt werden, im übernächsten Jahr 20 Milliarden, 2013 30 Milliarden, und so immer weiter, bis die Neuverschuldung 2016 auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes eingedampft ist. Und zu diesem Ziel gibt es im Grunde nur einen Weg: Die Ausgaben müssen rücksichtslos zusammengestrichen werden.

Denn die theoretisch ebenfalls mögliche Alternative, durch Steuererhöhungen die Einnahmen des Staates zu steigern, ist angesichts grassierener Steuersenkungseuphorie tabu. Allenfalls wird man an der Mehrwertsteuerschraube noch einmal drehen, aber von einer Regierung, die ihre Klientel gerade mit Steuermanna überschüttet, ist nicht zu erwarten, daß sie plötzlich dazu übergeht, das Geld da abzuschöpfen, wo es sich überreichlich holen ließe. Auch die SPD hat Vermögenssteuern übrigens bisher immer nur in harten Oppositionsjahren gefordert und die Erbschaftssteuer bereits zu Zeiten der großen Koalition gemeinsam mit der CDU so zerschossen, das auch ohne die Zugabe von »Schwarz-Gelb« kaum noch mit einem Aufkommen zu rechnen wäre.

Also bleibt: brutale Einschnitte überall da, wo nach der sozialen Roßkur von »Rot-Grün« und der großen Koalition überhaupt noch etwas zum Wegschneiden geblieben ist. Beispielsweise hat die CDU angekündigt, Milliarden im Bundeshaushalt für Arbeit einzusparen. Das kann nichts anderes bedeuten als weitere Leistungskürzungen: beim ALG I und bei Hartz IV, womöglich auch noch schlimmere Drangsalierungen und Sanktionen. Der sogenannte Wirtschaftsweise Wolfgang Franz hat mit seiner irren Forderung, die Hartz-IV-Sätze um 30 Prozent zu kürzen, schon mal die Richtung vorgezeichnet. Auch das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts schiebt solchen Vorhaben leider keineswegs einen Riegel vor. Kein Geheimnis ist ebenfalls, daß auch die öffentlichen Investitionen des Bundes in den nächsten Jahren noch weiter zurückgefahren werden sollen. So wird das Verkehrsministerium, wie die FTD am 29. Januar meldete, ab 2011 mehrere Milliarden Euro weniger bekommen und stellt sich bereits auf eine deutliche Kappung der Infrastrukturinvestitionen ein. Wohlgemerkt von einem Level aus, der heute schon im europäischen Vergleich nur kläglich zu nennen ist.

Damoklesschwert Bankenrettung
Der Regierung liebstes Ammenmärchen ist nun, daß die nötigen Einschränkungen der nächsten Jahre gar nicht so dramatisch ausfallen werden, weil wir ja bald wieder Wirtschaftswachstum haben, das auch die öffentlichen Kassen füllen wird. Nur gibt es bedenklicherweise niemanden, der eine Antwort auf die Frage bereithält, wo dieses Wachstum unter solchen Bedingungen herkommen soll. Da mit einer Rückkehr der Exportüberschüsse der Jahre vor 2008 nicht im Ernst zu rechnen ist, ist die anvisierte Sparpolitik geradezu die Garantie dafür, daß die Wirtschaft der Krise auf absehbare Zeit nicht entkommen wird. Eher droht das alte Dilemma, mit dem sich einst Schröders Finanzminister Hans Eichel herumzuschlagen hatte: die Regierung spart und spart – und die Löcher in den Kassen werden größer und größer, weil das Sparen die Wirtschaft immer tiefer in den Abgrund zieht.

Zumal in allen gängigen Berechnungen und Schuldenprognosen ein Posten sträflich unterschätzt wird: die Kosten der Bankenrettung. Ganze 20 Milliarden Euro hat die Bundesregierung dafür bis zum Ende der Legislatur zurückgestellt, ein unscheinbarer Betrag im Vergleich zu der gewaltigen Fäulnis in den Bankbilanzen, die in den zurückliegenden Monaten augenscheinlich geworden ist. Allein zehn Milliarden Euro hatte vor einem guten Jahr die Rettung der IKB verschlungen. Und da soll der endlose Problemberg, der sich in Hilfsanträgen von aktuell über 200 Milliarden Euro beim Finanzmarktstabilisierungsfonds (SoFFin) niederschlägt, mit ganzen 20 Milliarden Euro Kosten erledigt sein? Allein die HRE hat bekanntlich gerade eine Bad Bank gegründet, in die sie fragwürdige Papiere im Volumen von 210 Milliarden Euro auslagern wird. Der Steuerzahler wird für die Bankenrettung also aller Voraussicht nach sehr viel schlimmer bluten müssen, als ihm das derzeit vorgegaukelt wird. Und das alles im Korsett der Schuldenbremse – die am Ende vielleicht auch nur dank kreativer Buchführung eingehalten werden kann. Aber das tut ja nichts, Hauptsache, man hat einen allgegenwärtigen »Sachzwang«, der in Haushaltsfragen jede Brutalität zu rechtfertigen geeignet ist: im Bund, aber auch in den Ländern und Kommunen.

Und gerade deshalb darf sich eine Partei, die für Alternativen steht, auf keiner dieser drei Ebenen für diesen Wahnsinn vereinnahmen lassen. Es gibt nur einen Weg, der aus diesem Dilemma herausführt: das Geld wieder dort abzuschöpfen, wo es in den zurückliegenden Jahrzehnten durch Finanzmarktparty, Enteignung der Beschäftigten, Bankenrettung und Steuerpolitik so ungeniert hingeschaufelt wurde. Eine Millionärssteuer, die wirklich an die Substanz geht, die Verstaatlichung auch der Good Banks und ein Mindestlohn von zehn Euro wären unerläßliche Eckpunkte einer solchen Politik.

Sahra Wagenknecht ist wirtschaftspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag

638 VERSUCHE FIDEL CASTRO ZU ERMORDEN

übersetzt von Jens-Torsten Bohlke, Brüssel

Cubadebate, 22. Februar 2010 – Das kubanische Fernsehen strahlt demnächst eine Serie mit acht Folgen aus, in welcher es einige der vielen hunderte Attentatsversuche aus den letzten Jahrzehnten mit dem Ziel der Ermordung des einstigen kubanischen Präsidenten Fidel Castro zeigen wird, wie heute lokale Medien berichteten.

Die Fernsehdokumentation von Rafael Ruiz Benitez trägt den Titel „Wer leben muss“ und zeigt laut kubanischen Fernseh-Nachrichten „wie das Leben von Fidel immer in Gefahr gewesen ist, bedroht von 638 Attentatsplänen, welche am effektiven Handeln der kubanischen Staatssicherheitsorgane, der Revolutionären Streitkräfte Kubas und des kubanischen Volkes scheiterten.“

Die Fernsehserie wird von Experten des Instituts für Polizeiliche Wissenschaften des kubanischen Innenministeriums begleitet. Ihre erste Folge wird am kommenden 7. März 2010 gesendet werden. Die Einleitung beginnt mit den Vorbereitungen in Mexiko für die Expedition auf dem Schiff „Granma“, welches Fidel und weitere 81 Guerilleros 1956 nach Kuba brachte, und endet mit dem Sieg der kubanischen Volksrevolution.

„In jener Zeit wurden etliche Pläne zur physischen Beseitigung von Fidel ausgearbeitet“, bestätigt das kubanische Fernsehen. Es weist darauf hin, dass „jedes Kapitel eine andere Epoche mit mindestens einem geplanten Attentat widerspiegelt, welches die dramatische Grundlinie verfolgt.“

Die Produktion der Serie erforderte drei Jahre harter Arbeit und die Teilnahme von 243 Schauspielern und 800 Zusatzkräften und Beschäftigten.

„Da es eine historische Serie ist, haben wir zu einem Gemisch verschiedener Genres gegriffen, derer wir uns bedienten, um möglichst viele Informationen zu den Tatsachen zu präsentieren“, so Ruiz Benitez beim Vorstellen der ersten Folge vor kubanischen Persönlichkeiten und Mitgliedern des Produktionskollektives. Laut der Nachrichtenagentur AIN konzentriert sich die letzte Folge der Reihe auf den gescheiterten Versuch der Ermordung von Fidel am 16. November 2000 bei seinem Auftritt an der Universität von Panama auf einer Veranstaltung während des 10.Iberoamerikanischen Gipfels.

Quelle: http://www.cubadebate.cu/

Zeuge im Mordfall Digna Ochoa schwer verletzt

Mexikanische Ökobauern unter Beschuss von Paramilitärs und Militärs

Philipp Gerber, medico international schweiz, 17.02.10.

Eine Militärkolonne überfiel gestern die Gemeinde La Morena, in welcher sich zu dieser Zeit vor allem Frauen und Kinder aufhielten, und eröffnete das Feuer auf die BewohnerInnen. Angeführt wurde der Militärkonvoi von einer Person in Zivil, welche die Dorfbevölkerung als Paramilitär identifizierte, der im Dienst des Lokalfürsten Rogaciano Alba Álvarez steht. In dramatischen Telefongesprächen informierte der Ökobauer Javier Torres Cruz die Menschenrechtsorganisationen: „Mein Onkel, Isaias Torres Quiróz wurde durch Schüsse in den Nacken, in ein Bein sowie einen Durchschuss am Oberkörper schwer verletzt", er sei dringend auf medizinische Hilfe angewiesen. Zudem hätten sich die Militärs in zwei nahe gelegenen Gemeinden stationiert, woher ebenfalls sporadisch Schüsse zu hören seien.

Der Überfall des mexikanischen Militärs ereignet sich zu einem speziellen Zeitpunkt und ganz gezielt gegen La Morena: Am 11. Februar wurde Rogaciano Alba Álvarez in Guadalajara verhaftet. Der ehemalige PRI-Bürgermeister von Petatlán bekannte sich im ersten Verhör sofort zu seiner langen kriminellen Laufbahn, die er mit Marihuana-Lieferungen in den 70er-Jahren begann. Sein Bürgermeisteramt in den Neunziger Jahren nutzte er für die massive Abholzung der Sierra im Auftrag einer US-Firma, was die lokale Bevölkerung auf den Plan brachte, sich gegen die Vernichtung ihrer Lebensgrundlage zu organisieren.

Die als „Ecologistas de la Sierra de Petatlán" bekannten Gemeinden waren denn auch die erklärten Feinde Rogacianos, über 30 Morde an widerständigen Bauern und BäuerInnen sollen auf sein Konto gehen. Als dann unter Präsident Calderón die Auseinandersetzungen zwischen den Drogenmafias eskalierten, musste er im Mai 2008 untertauchen: Gegnerische Mörderbanden hatten eine Sitzung der Viehzüchtervereinigung unter Beschuss genommen (Rogaciano Alba war deren Präsident) und tags darauf seine Familie überfallen, Resultat 17 Tote. Seinen Einfluss in der Region bewahrte er als Statthalter des mächtigen Kartells von Sinaloa dennoch. Im Volksmund war bekannt, dass Rogaciano Alba weiter mit der lokalen Militärführung gute Geschäfte machte. Die Militärs überfallen die Gemeinden regelmässig
(http://www.medicointernational.ch/content/view/183/84/) mit Hurrarufen auf Rogaciano und in Begleitung von Mördern der Drogenmafia.

Die Attacke auf La Morena hat besondere Brisanz, weil sich dort die Leute gesagt haben, sie liessen sich von Rogaciano nicht mehr einschüchtern. So entschlossen sich die mutigen Dorfbewohner Javier Torres Cruz und dessen Onkel Isaias Torres Quiróz zu einer Aussage gegen Rogaciano (http://www.divshare.com/download/10498029-86b). Dieser soll gemäss ihnen der Auftraggeber des Mordes an Digna Ochoa sein. Digna, eine anerkannte Menschenrechtsanwältin, wurde 2001 in ihrem Büro in Mexiko Stadt durch zwei Schüsse ermordet, kurz nachdem sie die Ökobauern von Petatlán besucht hatte und sich in ihrer Verteidigung engagierte. Der Fall wurde von den Behörden von Mexiko Stadt ad acta gelegt mit dem skandalösen Untersuchungsresultat, sie habe Selbstmord begangen. Erst die neuen Zeugenaussagen aus La Morena führen zu einer zögerlichen Wiederaufnahme der Untersuchungen.

Wenig später wurde Javier Torres Cruz im Dezember 2009 von Militärs verhaftet und den Paramilitärs zur Folter übergeben. Er galt 10 Tage lang verschwunden, schaffte es aber auf abenteuerliche Weise, seinen Häschern zu entfliehen. Unsere lokale Partnerorganisation CCTI (Colectivo contra la Tortura y la Impunidad, http://www.medicointernational.ch/content/view/139/83/) hat die Entführung sofort öffentlich gemacht und die Folter dokumentiert. Seither fanden in La Morena mehrere Besuche und Kurse statt, um die Bevölkerung im Umgang mit Repression und Folter möglichst gut zu wappnen.

In den frühen Morgenstunden nach dem Überfall machte sich heute eine ad-hoc gebildete Beobachtungsmission auf den mehrstündigen Weg in die abgelegene Region der Sierra, darunter auch der Arzt und Koordinator des CCTI, Raymundo Díaz Taboada. Sie hoffen, dass die Menschenrechtsmission wie in vergangenen Fällen eine abschreckende Wirkung hat und sich das Militär zurückzieht. Zudem fordern sie vom mexikanischen Staat, dass der Überfall auf La Morena strafrechtliche Konsequenzen hat, sich das Militär aus den Gemeinden Guerreros in die Kasernen zurückzieht und „die vom Interamerikanischen Menschenrechtshof angeordneten Schutzmassnahmen für die Familie Torres endlich effektiv umgesetzt werden."

Notwendig wäre allerdings vor allem ein Ende der Kollaboration von politischen und wirtschaftlichen Interessen mit der organisierten Kriminalität. Dafür scheint jedoch der politische Wille gänzlich zu fehlen. Einzelne, spektakulär inszenierte Verhaftungsaktionen wie diejenige von Rogaciano Alba sollen darüber hinwegtäuschen. Kommt hinzu, dass Rogaciano Alba erst mal „wegen fehlender Beweise" nur in Untersuchungshaft ist, und von Untersuchungen bezüglich der Morde in Guerrero und der Ermordung von Digna Ochoa bisher nicht die Rede ist. Wie wenig sich somit an den mafiösen Regierungsstrukturen Mexikos ändert, zeigt der Überfall auf La Morena.

Weitere Infos unter: www.medicointernational.ch

Mexiko: Jugendlicher von Militärs zu Tode geprügelt

Gewalt nimmt durch Militarisierung der Gesellschaft zu

Von Philipp Gerber, Mexiko
amerika21.de

Guerrero. Der neueste Begriff in der mexikanischen Presse heißt juvenicido, eine Mischung aus den Worten Jugend (juventud) und Massenmord (genocidio) und bezeichnet die ausufernde tödliche Gewalt gegen mexikanische Jugendliche. Der Massenmord auf einem Fest in Ciudad Juárez hat es auch in die deutsche Presse geschafft. Nicht immer ist der body count so hoch und damit die Meldung für die Massenmedien relevant.

Ein Beispiel aus dem Alltag des „Drogenkriegs", der sich immer mehr gegen die Bevölkerung richtet: Am Freitagabend wurde in Tlacotepec im Norden des Bundesstaates Guerrero der 18-jährige Juan Alberto Rodríguez Villa von Militärs zu Tode geprügelt. Er befand sich zusammen mit seinem 16-jährigen Freund Francisco Javier Martínez auf der Dorfstrasse, als ein gepanzertes Militärfahrzeug vorbei fuhr, 15 Soldaten ausstiegen und die Jugendlichen anhielten. Die beiden bekamen es mit der Angst zu tun und rannten zu einem nahe gelegenen Haus einer Freundin. Doch sie wurden eingeholt und mit Gewehrkolben verprügelt. Die Freundin bat um Gnade, doch die Soldaten schleppten die zwei Jugendlichen in ihr Fahrzeug, schlugen weiter auf sie ein und ließen schließlich die Körper zurück. Juan erlag seinen Verletzungen, Francisco überlebte schwer verletzt. „Sie forderten 50'000 pesos (2500 Euros) Lösegeld, damit sie uns leben lassen", gab der Überlebende zu Protokoll.

Der Mord durch die Militärs wird bei der herrschenden Straflosigkeit kaum Konsequenzen haben. Am Sonntag fand das Begräbnis von Juan statt. Seine schwangere Frau stellte an seinem Grab die Frage aller Anwesenden: „Wie viele Menschenleben noch?" Eine Dorfautorität meinte besorgt: „Früher respektierten die Leute die Armee, aber jetzt könnten sie sich bewaffnen und die Dinge könnten schlimm enden". Nicht gerade zur Entspannung trägt die Militärführung bei: Sie versprach, am Sonntag in der Gemeinde über die Schritte gegen die Verantwortlichen zu informieren, tauchte aber nicht auf.

Die Militarisierung des Bundesstaates kennt keinen historischen Vergleich, wie auch der soziale Aktivist Bertoldo Martínez Cruz im Gespräch bestätigt: „Die Militärs sind präsenter als in den Zeiten des schmutzigen Krieges in den 1970er Jahren. Das Hauptproblem für das Militär ist jedoch nicht der Drogenhandel, sondern die soziale Bewegung." Es vergeht keine Woche ohne Klagen über solche Übergriffe. „Ni uno más – keinen einzigen weiteren Mord mehr!" war denn auch die Hauptforderung in Ciudad Juárez in Nordmexiko auf dem „Marsch der Wut, des Schmerzes und der Wiedergutmachung".

URL: http://amerika21.de/nachrichten/inhalt/2010/feb/mexico_203948_juvencidio/

Food Riots

Food Riots sind keine "chaotischen Gewaltausbrüche"
http://www.imi-online.de/2010.php?id=2076
http://imi-online.de/download/KP_FootRiots_AusdruckFeb2010.pdf
16.2.2010, Klaus Pedersen


Die Zukunft verheißt nichts Gutes. Experten rechnen mit einer
Verdopplung der Zahl der chronisch hungernden Menschen bis zum Jahr
2030.1 Das Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen im Dezember 2009 und
das kaum überraschende Beharren auf den bisherigen Positionen der
Landwirtschafts- und Ernährungspolitik seitens der führenden
Industrieländer lassen vermuten, dass die Zuspitzung der
Welternährungskrise noch dramatischer verlaufen wird als bisher
eingestanden -- ein Trend, der Erinnerungen an die Hungerrevolten der
jüngsten Zeit wach ruft. In den Jahren 2007/2008 wurde über "Food Riots"
in 39 Ländern berichtet. Zeitliche Dichte und globale Verbreitung dieser
Ereignisse waren beispiellos und weckten auf unsanfte Weise
entsprechende Sicherheitsbedenken in den Zentren der Macht. Da die
Wiederkehr von Hungerrevolten nur eine Frage der Zeit ist, macht es
Sinn, sich mit diesem Thema auch dann zu beschäftigen, wenn es nicht
unmittelbar die Schlagzeilen der Weltpresse beherrscht.


Die Sorgen der Eliten

"Wenn es zu einem Klassenkampf kommt, dann unterminiert das die
Stabilität der Gesellschaft", konstatierte Ifzal Ali, Chef-Ökonom der
Asiatischen Entwicklungsbank, in Bezug auf die Welle von Food Riots.2
Bettina Rudloff von der Stiftung Wissenschaft und Politik glaubt einen
zweistufigen Prozess zu erkennen: zunächst die Entstehung einer
Versorgungskrise (Versorgungsengpässe, Preisanstieg), gefolgt vom
Ausbruch des Konflikts. Sie ruft nach "umfassenden Maßnahmen zur
politischen Stabilisierung", ohne zu verraten, was sie bei der
Aufzählung der Maßnahmen mit "last but not least stabilen effektiven
Governance-Strukturen" meint.3 Doch das "Modell Haiti", bei dem jetzt
die US-Streitkräfte jene "Stabilisierung" vollenden, die nach den
Hungerprotesten im April 2008 von UNO-Truppen begonnen wurde,4 lässt
erahnen, worum es geht. Das Online-Magazin NATO Brief widmete im Mai
2008 eine komplette Ausgabe diesem Thema.5 Drei Hauptsorgen wurden in
den Beiträgen zum Ausdruck gebracht: Erstens wurde die Zunahme sozialer
und politischer Unruhen in vielen Ländern als die "alarmierendste und
unmittelbare Folge" der Nahrungsmittelkrise bezeichnet.6 "Früher oder
später werden wahrscheinlich zig, wenn nicht hunderte Millionen
reagieren", wenn sie erleben, dass die Lebensmittel für sie aufgrund der
Preisentwicklung außer Reichweite rücken.5 Zweitens wurde die Sorge
artikuliert, dass sich "enttäuschte junge Männer" radikalen Lösungen
zuwenden könnten. "Das würde ... kurzfristig einen Einfluss auf unsere
Soldaten haben und mittel- bis langfristig unsere eigene Sicherheit
beeinflussen."5 Teil dieser radikalen Lösungen seien Überfälle auf
Lebensmitteltransporte, die -- speziell in Afghanistan -- im Rahmen des
"Comprehensive Approach" in die zivil-militärische Zusammenarbeit
integriert sind. Afghanistan ist eines der vom Welternährungsprogramm
(WFP) am stärksten unterstützten Länder. Dort hat es 30 Angriffe auf
Nahrungsmitteltransporte des WFP allein im Jahr 2007 gegeben.7 Drittens
entstanden bei den europäischen Regierungen Ängste vor einem erhöhten
Migrationsdruck nicht nur durch Naturkatastrophen und die allgemeine
soziale Misere in den Ländern des Südens, sondern nunmehr auch durch
Preisexplosionen bei Lebensmitteln.8 Die reflexartige Reaktion der
Institutionen auf solche Szenarien findet in Gebilden wie FRONTEX ihren
Niederschlag.9


Historischer Rückblick

Food Riots hatten in Europa eine lange Tradition, die von der Mitte des
16. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts reichte,
bis sie dann durch die entstehenden Gewerkschaftsbewegungen abgelöst
wurden. Die Food Riots von 2007/2008 bestätigen die von Walton und
Seddon10 beschriebenen Gemeinsamkeiten zwischen den historischen Food
Riots in Europa und den heutigen Hungerrevolten in den Ländern des
Südens. Das vielleicht wichtigste Merkmal ist, dass das
Schlüsselargument westlicher Sicherheitsstrategen, es handele sich um
chaotische Gewaltausbrüche, nicht zutrifft. Mit dieser Behauptung wird
jedoch die gewaltsame Unterdrückung derartiger Proteste gerechtfertigt.
Deshalb soll nachfolgend diese Behauptung ausführlich untersucht und
damit ihre Unhaltbarkeit belegt werden. Denn, was auf die historischen
Brotrevolten zutrifft und für die Food Riots von 2007/2008 belegt werden
kann, darf auch für die Proteste der Zukunft unterstellt werden: Zwar
ist der konkrete Zeitpunkt des Beginns solcher Aktionen oftmals spontan
(der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt). Doch bereits Thompson
erkannte, dass Aktionen dieser Art einen kohärenten politischen Zweck
verfolgen und "eine hoch komplexe Form der direkten Aktion darstellen,
diszipliniert und mit klaren Zielvorstellungen."11

Walton und Seddon, die ihre Analyse der Food Riots aus der Periode der
vom Internationalen Währungsfonds verordneten
Strukturanpassungsprogramme mit einem Rückblick auf die historischen
Brotrevolten verbanden, kamen zu dem Schluss, dass die am besten belegte
Tatsache jene ist, dass es sich bei den Food Riots nicht um "chaotische,
gewalttätige Ausbrüche irrationaler Massen handelt, sondern um
organisierte, zweckbestimmte Aktionen", was sich ihrer Ansicht nach vor
allem anhand der Selektion der Zielobjekte dieser Revolten belegen
lässt.10 Die Protestierenden randalieren nicht wahllos, sondern richten
ihren Zorn gegen bestimmte Personen und Institutionen, denen von den
Massen die Verantwortung für die herrschenden Ungerechtigkeiten
zugeschrieben werden. Organisiertheit und Selektivität der Aktionen sind
auch für 2007/2008 dokumentiert.12


Die Riots von 2007/2008

Die landesweiten Proteste, die am 28. Februar 2008 in Kamerun begannen,
waren ursprünglich von mehreren Transportgewerkschaften ausgerufen
worden, die jedoch einen Tag später ihren Aufruf ängstlich zurücknahmen.
Daraufhin wurden die Proteste von einer weitgehend "anonymen Masse"
Jugendlicher (meist mit Abitur oder Realschulabschluss) getragen, die
sich als Moped-Taxifahrer mehr schlecht als recht durchs Leben
schlagen.13 Allein in der Wirtschaftsmetropole Douala wird ihre Zahl auf
42.000 geschätzt.14 Einerseits über Mobiltelefone gut vernetzt, hatten
sie andererseits weder eine sichtbare Struktur noch erkennbare
Führungspersönlichkeiten, auch keine nach außen vorgetragenen
Forderungen. Doch sie koordinierten die Proteste so effektiv, dass die
Millionenstadt Douala am Morgen des 25. Februars innerhalb einer Stunde
lahm gelegt war. Diese Jugendlichen gehören laut Peltzer nicht zu den
extrem marginalisierten Bevölkerungsteilen, sind aber ohne Perspektive
und "im Übrigen auch diejenigen, die sich am ehesten an die Küsten
Senegals und Mauretaniens aufmachen, um nach Europa zu gelangen."13
Binnen kurzer Zeit breitete sich der Streik auf die zehn größten Städte
aus, es kam zur Blockade der großen Überlandstraßen, und selbst der
internationale Flughafen von Douala war zeitweise geschlossen. Ziel der
Aktionen waren Rathäuser, Polizeikommissariate und Steuerbüros. Es kam
zu zahllosen Attacken gegen französische Firmen und Firmen, die zum Clan
des verhassten Präsidenten Paul Biya gehörten. Die Protestierenden
brachten also ziemlich genau zum Ausdruck, wen sie meinten. Nach vier
Tagen war die Revolte im Blut erstickt. Die mit massiver Gewalt
unterdrückten Proteste kosteten nach Einschätzung der kamerunischen
Menschenrechtsorganisation Maison des Droits de L'Homme 200
Menschenleben. Hinzu kamen Dutzende Schwerverletzte und 1.500 in
Schnellverfahren Verurteilte.

Ende Februar 2008 gab es in Burkina Faso in den Städten Banfora,
Bobo-Dioulasso, Ouhigouya und der Hauptstadt Ouagadougou militante
Proteste gegen die drastisch steigenden Lebensmittelpreise und es wurde
zu einem zweitägigen Generalstreik Anfang April aufgerufen. Während der
Proteste in Bobo-Dioulasso, der zweitgrößten Stadt des Landes, griffen
die DemonstrantInnen Regierungsgebäude an und setzten Geschäfte, Autos
und Tankstellen in Brand. Eine Regierungsdelegation wurde mit Steinen
beworfen und verjagt. Am 15. März 2008 gab es in mehreren Städten große
Kundgebungen, denen am 08. und 09. April der angekündigte Generalstreik
folgte, der von den Organisatoren - einer nationalen Koordination,
bestehend aus Gewerkschaftszentralen, autonomen Gewerkschaften sowie
Gruppierungen sozialer Bewegungen - als enormer Mobilisierungserfolg
gewertet wurde. Während des Generalstreiks kam es laut Polizeiangaben zu
264 Verhaftungen. Zugleich wurden aber dem Regime von Blaise Compaorés
(der 1986 die Volksregierung von Thomas Sankara durch einen Putsch
beseitigt hatte) Preissenkungen bzw. Preisfestschreibungen abgetrotzt,
und die Importzölle für Nahrungsmittel wurden gesenkt. Es gab eine
"informelle" Blockade von Lebensmittelexporten, und ein Teil der
strategischen Notvorräte der Regierung wurde in Umlauf gebracht, um den
Preisdruck auf die Lebensmittel zu verringern.15

Die Demonstrationen in Haiti begannen am 3. April 2008 in Le Cayes,
breiteten sich über andere Städte aus und erreichten am 7. April die
Hauptstadt Port-au-Prince. Seit vielen Monaten war es zu einem Anstieg
der Preise für Grundnahrungsmittel gekommen. Der Anblick von
attackierten Gebäuden und Autos wurde zur Normalität. Die Menschenmengen
machten ihrem Zorn über die Gleichgültigkeit der haitianischen Eliten
Luft. Am 12. April trat Premier Jacques Edouard Alexis zurück, was
allerdings nicht zu einem Politikwechsel führte -- er wurde von den
herrschenden Eliten als Sündenbock geopfert. Als er zuvor in einer Rede
sagte, bei vielen Protestierenden handle es sich nur um Gangster und
Drogendealer (eine Sichtweise, die von den internationalen Medien
allgemein kolportiert wurde), eskalierten die Proteste. Einige
DemonstrantInnen sagten, seit dem Staatsstreich 2004 habe sich ihre
Situation dramatisch verschlechtert. Selbst unter einem nahezu totalen
Embargo habe die damalige Regierung Aristide weiterhin subventionierte
Nahrungsbanken in den ärmsten Slums unterhalten. Unterstützung für die
Fanmi Lavalas, die politische Bewegung unter Führung des heute
exilierten Präsidenten Aristide, schien unter den Demonstranten weit
verbreitet zu sein. Im März, kurz vor den Food Riots, hatten
studentische AktivistInnen dem Landwirtschaftsminister Francois Severin
sieben spezielle Empfehlungen zur Revitalisierung des haitianischen
Landwirtschaft übergeben, die gegen jene ruinöse, von IWF und Weltbank
diktierte Agrarpolitik gerichtet war, die das Land seit 1986 plagt. Die
Einkommen auf dem Land und die Ernten fielen seither in den Keller. Die
Nahrungsversorgung wurde (insbesondere bei Reis) von Billigimporten und
damit von der internationalen Preisfluktuationen abhängig und ließ
Haitis Bauern zu Arbeitslosen werden. Von seiner ursprünglichen Aussage,
dass er die studentischen Empfehlungen akzeptiere, rückte Severin kurze
Zeiter später wieder ab -- ein weiterer Affront im Vorfeld der Food
Riots.16

Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. In Ägypten, das
jährlich 7 Millionen Tonnen Weizen importieren muss, wurde angesichts
steigender Brotpreise und bevorstehender Scheinwahlen für den 06. April
2008 ein Generalstreik ausgerufen, für den im Vorfeld eine Reihe
unabhängiger Organisationen mobilisiert hatte (die offiziellen
Gewerkschaften sind ein Arm der Regierung) -- kaum ein Ausdruck für
chaotische Gewaltausbrüche des "Mobs".17 In Gabun war für den 22. April
2008 eine Demonstration gegen die steigenden Lebensmittelpreise
angemeldet worden, die dann kurz vorher verboten wurde. Die
Mobilisierung dafür erfolgte gemeinsam durch zwei Initiativen, die
"Koalition gegen die Teuerung" und den "Schrei der Frauen". Die
Demonstration fand trotzdem statt und wurde gewaltsam unterdrückt.18
Verschiedene soziale Bewegungen dokumentierten in einer am 29. April
2008 veröffentlichten Preseerklärung ("Répression des organisations de
la société civile") die erlittene Repression und riefen zum Protest
auf.19 In Honduras hatte für den 17. April 2008 die "Koordination des
Volkswiderstands" (der alle Gewerkschaften und alle Bauernvereinigungen
des Landes angehörten) zu einem nationalen Streiktag aufgerufen, um den
Forderungen eines 12-Punkte-Plans Nachdruck zu verleihen. Die
wichtigsten Punkte dieses Forderungsprogramms betrafen die Verteuerung
der Grundnahrungsmittel, die Wasserprivatisierung und die Durchführung
einer wirklichen Landreform. Vergeblich versuchte die damalige Regierung
Zelaya (zu jenem Zeitpunkt noch auf neoliberalem Kurs) mit massiver
Polizeigewalt die zahlreichen Straßenblockaden, die sich quer durchs
Land zogen, zu zerschlagen.20 Am 23. September 2007 demonstrierten in
Sefrou, Marokko, mehrere tausend Menschen wegen der gestiegenen Brot-,
Kaffee-, Tee-, Zucker- und Milchpreise. Mehrheitlich aus Frauen und
Jugendlichen bestehend, versuchte die Menge zum Verwaltungsgebäude der
Stadt zu gelangen. Armee und Polizei blockierten die Straßen, woraufhin
die Demonstration eskalierte und zur Beschädigung öffentlicher Gebäude
führte.21 In Tunesien, einem Land über das in der Weltpresse wenig zu
erfahren ist, gab es seit Januar 2008 immer wieder heftige Proteste in
der Region Gafsa, dem wirtschaftlich wichtigen Phosphatrevier. Die
Proteste richteten sich gegen die auch in Tunesien heftigen
Preissteigerungen für Lebensmittel. Der Gewerkschaftsbund UGTT war ein
maßgeblicher Organisator dieser Proteste.22


"Chaotische Gewaltausbrüche" -- ein mediales Konstrukt

Was mit dieser Aufzählung verdeutlicht werden soll, ist, dass der
tatsächliche Ablauf der Ereignisse in diesen Ländern deutlich von dem
durch die Medien vermittelten Bild abweicht. Es besteht also der
begründete Verdacht, dass die gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung,
Food Riots seien chaotische Gewaltausbrüche, einem bestimmten
politischen Zweck dient, nämlich der Legitimierung des Einsatzes
staatlicher, in manchen Fällen internationaler Repression. Dabei
beeinflusst diese mediale Konstruktion nicht nur die breite öffentliche
Meinung, sondern auch die Ansichten von MeinungsträgerInnen, die es
eigentlich besser wissen müssten. So scheint die Leiterin der Abteilung
für Ökonomische Sicherheit des Internationalen Roten Kreuz Komitees,
Barbara Boyle Saidi, die Akteure verwechselt zu haben, als sie am 27.
Mai 2008 in einem Interview "die Behörden und insbesondere die
Sicherheitskräfte [dazu drängte], die Bevölkerung vor möglichen
Gewaltausbrüchen im Zusammenhang mit hohen Nahrungsmittelpreisen zu
schützen", auch wenn sie zugleich die Sicherheitskräfte aufforderte, vom
Einsatz exzessiver Gewalt abzusehen.23 Äußerungen von J. M. Sumpsi
Viñas, Assistant Director-General der Welternährungsorganisation (FAO),
stellen eine indirekte Diffamierung der sozialen Bewegungen in den
Ländern des Südens dar, wenn er schreibt, dass das "Risiko [sozialer und
politischer Unruhen] besonders hoch in Ländern [ist], die gerade einen
gewalttätigen Konflikt hinter sich haben und in denen die brüchige
Sicherheit und der politische oder wirtschaftliche Fortschritt recht
einfach entgleisen können."6 Wie die oben genannten Beispiele zeigen,
sind es eben nicht die sogenannten "failed states", sondern eher Länder
mit etablierten sozialen Bewegungen, in denen es zu Protesten gegen die
Auswüchse des neoliberalen Wirtschaftssystems kommt. Aus seiner
Perspektive fordert Sumpsi folgerichtig das "Einbeziehen von
ernährungsbezogenen Unruhen in die Konflikt-Frühwarnsysteme" und
"Überlegungen, wie Behörden und Missionen zur Friedensförderung (sprich:
Militäreinsätze, P.C.) besser mit Massenaufständen umgehen können." Zu
den "Überlegungen zur Friedensförderung" dürften auch die Kurse für hohe
Polizeibeamte aus den Ländern des Südens gehören, die im Center of
Excellence for Stability Police Units (COESPU) in Vicenza, Italien,
durchgeführt werden.4 Unter den Kursteilnehmer, waren auch Polizisten
aus Kamerun, Kenia, Pakistan und Senegal, also Ländern, wo
Hungerproteste brutal unterdrückt wurden. Im oben zitierten NATO Brief
klagt die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan
über "praktische Sicherheitsfragen" wie Demonstrationen, die nach ihrer
Ansicht "auf das mangelnde Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit in
Afghanistan zurückzuführen sind, dass die steigenden Lebensmittelpreise
Teil eines globalen Phänomens sind."7 Wollten die Autoren damit sagen,
dass "globale Phänomene" als unabwendbar hinzunehmen sind? Insgesamt ist
zu erkennen, dass in den Zentren der Macht mehr Wert auf die "Kontrolle"
der Ernährungskrise und ihrer Folgen gelegt wird, als auf deren Lösung.

Das Streben nach einer tatsächlichen Lösung würde dringende und
grundlegende Veränderungen in der globalen Landwirtschaftspolitik
bedeuten. Doch diese sind nicht in Sicht. So erinnert das Beharren auf
einer perspektivlosen Welternährungspolitik24 in Kombination mit den
Food Riots an die alte Formel, dass der Kapitalismus seinen eigenen
Totengräber schafft. Die modernen Food Riots spielten sich bislang vor
allem in der Peripherie des globalen Kapitalismus ab, wenngleich in
deren urbanen Zentren. Dabei enthält die Liste der Länder mit Food Riots
der Periode von 1976 bis 1992, die Walton und Seddon10 präsentierten,
ein aus heutiger Sicht interessantes Detail. In ihrer Tabelle der 39
Riot-Länder ist nicht nur das Jahr der ersten (und in etlichen Fällen
einzigen) Hungerrevolte aufgeführt, sondern auch die Summe dieser
Ereignisse in der gesamten Periode. Mit 14 Food Riots nimmt Peru die
Spitzenposition ein. In zwölf Ländern gab es jeweils nur eine
Brotrevolte. Doch unter den sieben Spitzenplätzen (Länder mit 7 Food
Riots und mehr innerhalb der 17jährigen Erfassungperiode) befinden sich
Bolivien (13) und Venezuela (7). Außerdem sind mit Brasilien (11) und
Argentinien (11) zwei weitere Länder unter den Top-Sieben, die in
jüngerer Zeit zumindest ansatzweise eine anti-neoliberale Politik bzw.
eine Politik zu mehr sozialem Ausgleich erkennen ließen. Der Rückblick
auf die vergangenen drei Jahrzehnte liefert also Indizien dafür, dass
Food Riots Teil eines komplexeren Prozesses der Transformation zu mehr
sozialem Ausgleich zu sein scheinen.


Schlussfolgerungen

Betrachtet man die globale Sicherheits-(=Repressions-)Politik des
Westens, die Geschichte der Food Riots und die Sackgasse, in der sich
die globale Landwirtschaft heute befindet, im Zusammenhang, lassen sich
folgende Thesen ableiten: (1) Empirische Befunde weisen darauf hin, dass
Food Riots Teil komplexer gesellschaftlicher Prozesse zur
gesellschaftlichen Veränderung bis hin zu Ansätzen eines Systemwandels
darstellen. (2) Trotz einer sich konsolidierenden landwirtschaftlichen
Alternative,25 ist in näherer Zukunft keine globale Trendwende zu einer
sozial und ökologisch verträglichen Landwirtschaft zu erwarten. Food
Riots finden in urbanen Zentren statt. Mit der zu befürchtenden weiteren
Ausbreitung eines Modells der industriellen Landwirtschaft in den
Ländern des Südens setzt sich die Urbanisierung der Weltbevölkerung
fort, d. h. das Riot-Potenzial in den Ballungsräumen des Südens
verstärkt sich, insbesondere wenn die gravierenden
Verteilungsungerechtigkeiten beibehalten oder gar verstärkt werden.
Parallel dazu lässt sich eine Zunahme von Unruhen in einigen Ländern
West- und Osteuropas prognostizieren, die "eine tiefe Verzweiflung über
die ökonomischen Perspektiven, die selbst für junge Leute mit guter
Ausbildung" und "eine scharfe Kritik am starren Klassensystem und an der
Korruption der politischen Klasse" reflektieren.26 (3) Die herrschenden
Eliten werden auch künftig darauf setzen, Unruhen mit
"Sicherheitspolitik" unter Kontrolle zu bringen, wobei sich die globale
Sicherheitspolitik, ähnlich wie die Landwirtschafts- und Klimapolitik,
in einer Sackgasse befindet.

Die Ereignisse der Jahre 2007/2008 bestätigen und relativieren die
Analyse von Walton und Seddon.10 Einerseits bestätigen sie deren
Erkenntnis, dass in der Regel zwar eine enge allgemeine Beziehung
zwischen Food Riots und Preiserhöhungen bzw. Versorgungsengpässen für
Lebensmittel besteht. Eine unmittelbare zeitliche Verknüpfung zu Hunger
als sozialem Phänomen (Hungersnot) besteht jedoch meistens nicht. In der
Vergangenheit war der fehlende Zugang zu Lebensmitteln meist nur einer
von mehreren Gründen für den Ausbruch von Food Riots. Diese Proteste
begleiten den Neoliberalismus des ausgehenden 20. und beginnenden 21.
Jahrhunderts ähnlich wie sie den Wirtschaftsliberalismus des 18./19.
Jahrhunderts begleiteten. Doch während Food Riots vor 200 Jahren eine
frühe Form des collective bargaining waren, mit dem kurz gesteckte Ziele
gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zur Verhandlung gebracht wurden,
gibt es Indizien dafür, dass die heutigen Proteste in den afrikanischen,
asiatischen und lateinamerikanischen Ländern Teil eines komplexen
gesellschaftlichen Transformationsprozesses sind. Häufig werden sie von
Basisinitiativen, Gewerkschaften und anderen oppositionellen Gruppen
vorbereitet und organisiert. Diese Analyse scheint von den Zentren der
Macht geteilt zu werden, denn die stereotyp wiederholte Behauptung, Food
Riots seien chaotische Gewaltausbrüche (womit der Einsatz staatlicher
bzw. internationaler Repression legitimiert wird), lässt darauf
schließen, dass man die drohende gesellschaftliche Transformation ernst
nimmt. Da "Armutsbekämpfung das heiligste Ziel der internationalen
Rhetorik" ist und der Reflex des herrschenden Systems in technological
fixes besteht, um der "Knappheitsschere" zu begegnen,27 statt tragfähige
gesellschaftliche Lösungen durchzusetzen, scheint das Riot-Potenzial für
die Zukunft gesichert zu sein.


ANMERKUNGEN:

1 De Schutter, O. (2010) : Herausforderungen des Agrarhandels im
Spannungsfeld der Ernährungs-, Klima- und Wirtschaftskrise. Keynote.
Eco-Fair-Trade-Konferenz. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, 12.01.2010.
2 "Biosprit-Anbau lässt Reispreise steigen", 04.04.2008, www.tagesschau.de
3 Rudloff, B.(2009): Aufstand der Ausgehungerten. Internationale Politik
Nr. 11/12, S. 38-44.
4 Marischka, C. (2008): Haiti und der Krieg gegen die Armut, Ausdruck,
Juni 2008, http://www.imi-online.de/download/CM-HaitiHunger-juni-08.pdf
5 NATO Brief 5/2008, http://www.nato.int/docu/review/2008/05/DE/index.htm
6 Sumpsi Viñas, J. M. (2008): Ein hungriger Mann ist ein zorniger Mann,
NATO Brief 5/2008.
7 "Was bedeutet die Nahrungsmittelkrise in Afghanistan?", Interview mit
Vertretern der UNAMA, NATO Brief 5/2008.
8 "Ernährung und Sicherheit -- Fragen und Antworten", NATO Brief 5/2008.
9 Informationsstelle Militarisierung (2009): Frontex -- Widersprüche im
erweiterten Grenzraum,
http://www.imi-online.de/download/frontex2009-web.pdf
10 Walton, J., Seddon, D. (1994): Free markets and food riots. The
politics of global adjustment. Oxford UK & Cambridge USA.
11 Thompson, E.P. (1971): The moral economy of the English crowd in the
eighteenth century. Past and Present 50, S. 76-136.
12 Pedersen, K. (2008): Die weltweiten Hungerrevolten (Food Riots)
2007/2008. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 76, Dez. 2008, S.
42-50.
13 Peltzer, R. (2008): Neue Brotaufstände? Die Proteste in Kamerun. Im
Schatten steigender Lebensmittel- und Ölpreise, in: Informationsbrief
Weltwirtschaft & Entwicklung, 4.3.2008.
14 Wiedemann, C. (2008): Dunkle Krawalle. Freitag Nr. 27, 04.07.2008.
15 "Burkina Faso", 24.10.2008, www.labournet.de.
16 Sprague, J. (2008): Hunger-Proteste auf Haiti,
http://zmag.de/artikel/hunger-proteste-auf-haiti
17 "Brotpreis, Streiks und Staatsgewalt: Ein Regime zittert - und
schlägt um sich...", 11.04.2008, http://www.labournet.de
18 "Gabun", 24.10.2008, www.labournet.de
19 "Communique de Presse des Organisations de la Societe Civil
Gabonaise", 29.04.2008, www.presseafricaine.info
20 "Privatisierung und Widerstand", 21.11.2008, www.labournet.de
21 Schmid, B. (2007): Marokko nach den jüngsten "Brotrevolten",
02.10.2007, www.labournet.de
22 "Gafsa: Ben Alis Polizei kann Proteste nicht stoppen - seine Partei
auch nicht", Interview mit Adnan Birbaoun, 18.04.2008, www.labournet.de
23 Boyle Saidi, B. (2008): Food crisis: the rising human cost.
http://www.icrc.org/web/eng/siteeng0.nsf/html/food-crisis-interview-270508
24 Hoering, U. (2009): Weltgipfel Ernährungssicherheit: Hauen und
Stechen. http://www.globe-spotting.de/comments.html#anker
25 Martínez-Torres, M.E., Rossett, P.M. (2010): La Vía Campesina: the
birth and evolution of a transnational social movement. J. Peasant
Studies 37, S. 149-175.
26 Klare, M.T. (2009): Von Haiti bis Wladiwostok. Eine Weltkarte der
Krise. Le Monde Diplomatique, Ausgabe v. 8.5.2009.
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2009/05/08.mondeText.artikel,a0022.idx,21

27 Sachs, W. (2010) : Von Doha nach Rom, Genf und Kopenhagen -- wie geht
es weiter mit dem internationalen Agrarhandel? Einführung.
Eco-Fair-Trade-Konferenz. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, 12.01.2010.

IMI-List - Der Infoverteiler der
Informationsstelle Militarisierung
Hechingerstr. 203
72072 Tübingen
imi@imi-online.de

Mittwoch, 17. Februar 2010

Menschenrechte in Mexico??

Am 21 und 22 Januar 2010 wurden im Bezirk Ocosingo, in den Gemeinden Laguna El Suspiro bzw. El Semental und Laguna San Pedro bzw. San Pedro Guanil (letztere Gemeinde gehört zur Unterstützungsbasis der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (BAEZLN)), zwei Einsätze durchgeführt, die der Vertreibung der Gemeinden aus dem Biosphärenreservat Montes Azules dienten.

Laut Regierungsquellen handelte es sich bei den Einsätzen um eine koordinierte Aktion unter Beteiligung der Spezialpolizei der Generalstaatsanwaltschaft von Chiapas ((PGJE in spanischer Abkürzung), des Sicherheitsministeriums und Bürgerwehrs, der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft, des Amt für Umweltschutz (PROFEPA in spanischer Abkürzung), der Nationalen Naturschutzbehörde (CONANP in spanischer Abkürzung) und Vertretern der staatlichen Menschenrechtskommission.

Weitere Informationen: http://www.chiapas98.de/news.php?id=5194

Die UA kann gleich online ausgefüllt werden. Wir bitten um aktive Teilnahme.

KADO

Unsere Religionskritik ist Gesellschaftskritik

Quelle: freidenker.org

auf Kommunisten-online am 12. Februar 2010 -

Klaus von Raussendorffs Beitrag stellt 7 Thesen auf, die nicht nur für organisierte Freidenker, sondern auch für jeden Praktiker einer kommunistischen Partei zum Rüstzeug für ideologische und andere Kämpfe gehören. Ohne eine solche geistige Bewaffnung, ohne Übung im Umgang damit, wäre eine Freidenkerbewegung, und genau so eine proletarische Partei allen möglichen Fallen ausgesetzt. Deshalb lohnt es sich, darüber tief genug nachzudenken und Militanz am richtigen Ort zu entfalten.

1.

Marxistische Religionskritik ist wesentlich revolutionär und bildet wie marxistische Theorie überhaupt eine dialektische Einheit mit der Praxis des politischen Kampfes für Demokratie und Sozialismus.
2.

Indem der Mensch sich als Schöpfer seiner Lebensverhältnisse erfährt, wird die Gottesfrage praktisch unmöglich.
3.

Die marxistische Kritik der Religion ist Element der allgemeinen Kritik aller Formen eines „verkehrten“ gesellschaftlichen Bewusstseins.
4.

Religion: „Seufzer“ – „Protestation“ – „Opium“.
5.

Die klassische Methode der materialistischen Religionskritik besteht in der Erklärung der religiösen Erscheinungen aus den jeweils konkreten Lebensverhältnissen.
6.

Die Religion hat Wurzeln im Denken und Wollen des Menschen. Sie „verschwindet“ nicht, sondern wird in anderen Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins „aufgehoben“.
7.

Der politische Kampf für Frieden und Demokratie erfordert das politische Zusammengehen von Materialisten und Glaubenden.

Unsere Religionskritik ist Gesellschaftskritik

Von Klaus von Raussendorff1

Religion ist eine Form des gesellschaftlichen Bewusstseins, die weltweit in einer verwirrenden Vielfalt in Erscheinung tritt. Einerseits suchen Milliarden Gläubige in dieser verkehrten kapitalistischen Welt in religiösen Vorstellungen geistige Orientierung und moralischen Rückhalt. Andererseits ist Religion nicht nur Vertröstungsmittel. Sie motiviert auch fortschrittliche politische Kämpfe. Dies haben in neuerer Zeit Christen beider Konfessionen im Widerstand gegen den Faschismus gezeigt. Auch die christliche Befreiungstheologie wird als emanzipatorische Bewegung gewürdigt. Eine vergleichbare Legitimität wird dem politischen Islam im Westen vielfach verweigert.Die angeblich aufgeklärte, säkulare Welt des Westens sieht sich bedroht. Kritisiert wird angeblich „Fundamentalismus jeglicher Art“. Konkret gemeint ist meist der muslimische Widerstand gegen Invasion und Besatzung durch NATO-Mächte. Deutschland ist ein weitgehend säkulares Land. Ein Viertel der Bevölkerung bezeichnet sich als konfessionslos. Da taugt die früher übliche Verklärung des christlichen Abendlands nur noch wenig zur propagandistischen Überhöhung der „deutschen Verantwortung in der Welt“. Heute soll das Vormachtstreben der hochkapitalistischen Länder mit der weltweiten, auch militärischen, Durchsetzung von „Menschenrechten“ gerechtfertigt werden. Der außenpolitischen Aggressivität entspricht ein krasser Irrationalismus. Neben säkularen Formen der ideologischen Bearbeitung der Massen ist wie zu allen Zeiten Religion immer noch ein massenwirksames Mittel der Entmündigung und Gängelung breiter Bevölkerungsschichten. All diese Erscheinungen, die in den Medien berichtet und durch Religionswissenschaft, Religionsgeschichte und Religionssoziologie wissenschaftlich erforscht werden, sind Gegenstand marxistischer Religionskritik.Religionskritik ist nicht mit Atheismus identisch. Sie gibt es auch innerhalb der religiösen Systeme, z.B. im Judentum, Christentum, Islam etc. Dort tritt sie als „Dissidenz“, „Reformation“, „Erneuerung“ etc. in Erscheinung. Ferner gibt es im Dialog zwischen den religiösen Systemen, der vorgeblich dem „Frieden in der Welt“ dient, ein unvermeidbares Element der kritischen Distanzierung von anderen und der Profilierung der eigenen Gruppenidentität, wie beispielhaft vom Papst in seiner skandalträchtigen Regensburger Rede vorgeführt.Gerade auch diese innerreligiösen Differenzierungen sind Gegenstand marxistischer Religionskritik. Ihre Methode ist konsequent materialistisch. Sie geht von der realen gesellschaftlichen Entwicklung aus und sieht diese als letztlich bestimmend dafür an, wie sich die Formen der Religion entwickeln. Die Herangehensweise an all diese Phänomene auf der Grundlage des Historischen soll in folgenden sieben Thesen beschrieben werden.

1.

Marxistische Religionskritik ist wesentlich revolutionär und bildet wie marxistische Theorie überhaupt eine dialektische Einheit mit der Praxis des politischen Kampfes für Demokratie und Sozialismus.
In der 1843 – 44 entstandenen Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ formuliert der junge Marx die oft zitierte Erkenntnis: „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ (Hegels Rechtsphilosophie, Einleitung MEW 1/385) Religionskritik leitet für Marx also unmittelbar in ein Programm revolutionärer politischer Praxis über und bildet wie alle spätere marxistische Theorie mit der revolutionären Praxis eine dialektische Einheit. In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickeln Marx und Engels ihren philosophisch-materialistische Begriff der Praxis insbesondere in der Auseinandersetzung über die Kritik der Religion mit den Junghegelianern (David Friedrich Strauss, Bruno Bauer, Max Stirner u.a.), die „meinten, dass die christliche Religion und die mit ihr verbundenen Ideen die entscheidende Ursache für die damals in Deutschland herrschenden reaktionären gesellschaftlichen Zustände seien. Sie schlussfolgerten, dass allein oder doch in erster Linie eine Kritik dieser Ideen notwendig sei, um die gegebenen gesellschaftlich-politischen Verhältnisse verändern zu können. (…) Marx und Engels waren durch ihre persönliche Kenntnis des Volkskampfes gegen die feudale und kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung sowie besonders durch ihre Parteinahme für das Proletariat auf die tatsächlichen Ursachen der gesellschaftlichen Entwicklung gestoßen.“ (Dieter Wittich, Art. „Praxis“ in Georg Klaus/Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch , Leipzig, 1969, Bd. 2, 865-866)
2.

Indem der Mensch sich als Schöpfer seiner Lebensverhältnisse erfährt, wird die Gottesfrage praktisch unmöglich.Atheismus hat keinen Sinn mehr.
Sozialismus ist positives, nicht mehr durch Negation der Gottesvorstellung vermitteltes Selbstbewusstsein des Menschen. Bahnbrechend für die Entwicklung des historischen Materialismus waren in jener Zeit Ludwig Feuerbachs Untersuchungen über das Wesen der Religion und das Wesen des Christentums. Feuerbach überwandt die Auffassung des bürgerlichen Rationalismus des 18. Jahrhunderts, der in der Religion nichts als Unwissenheit, Irrtum oder betrügerische Vorspiegelung sah.Für Feuerbach ist Religion eine Projektion des Wesens des Menschen. „Gott, so meint Feuerbach, ist nichts weiter als eine Schöpfung des Menschen selbst, ist Ausdruck seiner Abhängigkeit und seiner Ohnmacht gegenüber den Geschehnissen in der Natur.In der Phantasiegestalt Gottes idealisiert der Mensch sein eigenes Wollen und eigenes Tun und erwartet dann von seiner eigenen Schöpfung Hilfe.“ So der marxistische Religionswissenschaftler Fritz Schiff. Damit habe, so Schiff weiter, Feuerbach „die Frage der Existenz Gottes zum ersten Male dem Streit zwischen gläubigen und ungläubigen Metaphysikern entzogen und ihr in seiner ‚Menschkunde‘, seiner ,Anthropologie‘ eine wissenschaftliche Grundlage gegeben…“ (Fritz Schiff: Die Wandlungen der Gottesvorstellung, Urania-Freidenker-Verlag, Jena, 1931, S. 71) (ebenda) An Feuerbach kritisch anschließend und dessen Erkenntnisse weiterführend, hebt dann Marx den Gedanken hervor, dass die Wirklichkeit nicht wie bei Feuerbach nur „subjektiv“, „unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt“ werden muss, sondern gesellschaftlich „als menschliche sinnliche Tätigkeit“, als gesellschaftliche „Praxis“. (Karl Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3/533 ff. Dietz Verlag Berlin, 1969)
Schon in der Antike gibt es religionskritische Einsichten. Und Gottlosigkeit, also Atheismus, der mit Religionskritik begrifflich nicht identisch ist, ist vermutlich so alt wie Religion selbst. Aber erst mit dem industriellen Kapitalismus reift ein tieferes Verständnis des Wesens des Menschen und der Religion.Über die entscheidende Voraussetzung dafür macht Marx eine wichtige Bemerkung in einer Fußnote im „Kapital“: „Die Technologie“, so Marx, „enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen.“ (Kapital I MEW 23/ 393, Fußn. 89) Erst mit dem Aufkommen des modernen Proletariats, des Betreibers des gigantischen Maschinenwesen des Kapitalismus, reift die volle Erkenntnis, dass die „Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen.“ Durch seinen „Entstehungsprozess“ ist der Mensch sich selbst „als Dasein der Natur… (und)… die Natur für den Menschen als Dasein des Menschen praktisch, sinnlich anschaubar geworden.“ Damit ist „die Frage nach einem fremden Wesen, nach einem Wesen über der Natur und dem Menschen … praktisch unmöglich geworden.“Daraus folgt für Marx: „Der Atheismus… hat keinen Sinn mehr, denn der Atheismus ist eine Negation des Gottes und setzt durch diese Negation das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus … ist positives, nicht mehr durch die Aufhebung der Religion vermitteltes Selbstbewusstsein des Menschen.“ (Philos.-ökonom. Manuskripte MEW 40/546) Später wird Friedrich Engels in einem Brief an Eduard Bernstein vom Juli 1884 schreiben: „….und daß Atheismus nur eine Negation ausdrückt, haben wir selbst schon vor 40 Jahren … gesagt, nur mit dem Zusatz, daß der Atheismus als bloße Negation der Religion und stets sich auf Religion beziehend, ohne sie selbst nichts, und daher selbst noch eine Religion ist.“Und im Jahre 1874 beschreibt Engels die religionslose Mentalität deutscher Arbeiter so:„Von der großen Mehrzahl der deutschen sozialdemokratischen Arbeiter kann man sogar sagen, daß der Atheismus bei ihnen sich schon überlebt hat; dies rein negative Wort hat auf sie keine Anwendung mehr, indem sie nicht mehr in einem theoretischen, sondern nur noch in einem praktischen Gegensatz zum Gottesglauben stehn: Sie sind mit Gott einfach fertig, sie leben und denken in der wirklichen Welt und sind daher Materialisten.“ (Hans Lutter, Warum es keinen „Wissenschaftlichen Atheismus“ geben kann; in: Freidenker 1-08 März 2008, S.17-18)
3.

Die marxistische Kritik der Religion ist Element der allgemeinen Kritik aller Formen eines „verkehrten“ gesellschaftlichen Bewusstseins.
Wenn Marx feststellt: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“ (Hegels Rechtsphilosophie Einleitung MEW 1/378)“, so fordert er damit, das methodische Vorgehen der Religionskritik auf alle Erscheinungen der Ideologie und des gesellschaftlichen Überbaus anzuwenden. Die anthropologische Projektionstheorie Feuerbachs versucht, wie Marx feststellt, „das religiöse Wesen in das menschliche Wesen aufzulösen“.Das Neue bei Marx ist, dass er fordert, die Verdopplung der Welt in eine weltliche und eine religiöse „aus der Selbstzerrissenheit und (dem) Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären“ (Vierte Feuerbach-These MEW 3/6). Für Marx gilt es: „Nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“ (Hegels Rechtsphilosophie Einleitung MEW 1/379) Von der Kritik der Religion ausgehend, gelangt Marx zur Wurzel des Entfremdungsprozesses in der bürgerlichen Ökonomie: „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber.“ (Philos.-ökonom. Manuskripte MEW 40/511) Staat und Gesellschaft „produzieren die Religion“ als „ein verkehrtes Weltbewusstsein“, und zwar weil sie selbst „eine verkehrte Welt sind“. (Hegels Rechtsphilosophie Einleitung MEW 1/378) „Die religiöse Entfremdung als solche geht nur in dem Gebiet des Bewußtseins des menschlichen Innern vor, aber die ökonomische Entfremdung ist die des wirklichen Lebens.“ Die reale Selbstentfremdung betrifft alle Formen der gesellschaftlichen Praxis: „Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc. sind nur besondere Weisen der Produktion und fallen alle unter ihr allgemeines Gesetz.“ (Philos.-ökonom. Manuskripte MEW 40/537) Religion ist für Marx überall, wo „die Anerkennung des Menschen auf einem Umweg, durch einen Mittler“ erfolgt. Selbst wenn der Mensch „durch die Vermittlung des Staates sich als Atheisten erklärt“, (Judenfrage, MEW 1/353) entgeht er nicht der „Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise“, der „ökonomischen Trinität“, bestehend aus den „entfremdeten und irrationalen Formen von Kapital-Zins, Boden-Rente, Arbeit-Arbeitslohn“. Er unterliegt der „Personifizierung der Sachen und der Versachlichung der Produktionsverhältnisse.“ Wo das Kapital herrscht, herrscht die kapitalistische „Religion des Alltagslebens“. (Kapital III MEW 25/838).
4.

Religion: „Seufzer“ – „Protestation“ – „Opium“.
Was also ist Religion? Die Antwort, die die marxistische Religionskritik zu geben vermag, beruht, wie bisher ausgeführt, auf einer Partei ergreifenden, revolutionären Herangehensweise (Ziffer 1), auf der Überwindung des Atheismus als einer von der Leugnung Gottes abhängigen, quasi-religiösen Ideologie (Ziffer 2) und auf der Aufdeckung der Wurzeln religiöser Entfremdung des Menschen in der kapitalistischen Ökonomie (Ziffer 3). Nur auf dieser Grundlage und in diesem Zusammenhang erschließt sich die differenzierte Auffassung der Religion, die der junge Marx in den folgenden oft zitierten Sätzen skizziert hat: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen… Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind…. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1/378)
5.

Die klassische Methode der materialistischen Religionskritik besteht in der Erklärung der religiösen Erscheinungen aus den jeweils konkreten Lebensverhältnissen.
Dass in der Religionskritik eine konsequent materialistische Methode anzuwenden ist, wurde eingangs bereits erwähnt. Marx unterscheidet in der schon erwähnten Fußnote im „Kapital“ zwei Methoden materialistischer Religionsanalyse, von denen er nur die eine als wirklich wissenschaftlich anerkennt. Als „unkritisch“ charakterisiert er eine „Religionsgeschichte“, die von der „materiellen Basis“ vom „unmittelbaren Produktionsprozess“ des menschlichen Lebens abstrahiert. Marx wendet sich gegen die „abstrakten und ideologischen Vorstellungen“ eines ungeschichtlichen „naturwissenschaftlichen Materialismus, der den geschichtlichen Prozess ausschließt“. Statt der Methode, die „durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen“ aufspürt, besteht für Marx „die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode“ darin, „umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln.“ (Kapital I MEW 23/ 393, Fußn. 89) Bei der Anwendung dieser Methode auf die heutige Welt muss berücksichtigt werden, dass sich der Kapitalismus vollständig zu einem Weltsystem entwickelt hat, wie Marx und Engels bereits im Manifest der kommunistischen Partei von 1848 mit den Worten prognostizierten: „Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt. (…) An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“ (MEW 4/ 463, 466). Daher ist heute die Entwicklung der internationalen Politik, die Stellung der Nationen im internationalen Staatensystem und in der Weltwirtschaft in Betracht zu ziehen, wenn man die Kritik der religiösen Erscheinungen nach der Methode von Marx aus den heutigen „wirklichen Lebensverhältnissen“ entwickeln will. Dann erscheinen religiöse Strömungen unter dem Aspekt ihrer politischen Funktion im kapitalistischen Weltsystem: Der evangelikale Fundamentalismus der USA als Ideologie imperialistischer Weltherrschaft, die Politik des Vatikans als ideologische Dienstleistung für die kapitalistische „Globalisierung“, die Klerikalisierung des – aus Sicht des Judaismus als unjüdisch kritisierten – Zionismus als Ideologie des zionistischen Siedlerkolonialismus, der Wahabismus- Salafismus als Ideologie des Vormachtstrebens Saudi Arabiens in der muslimischen Welt, das staatshörige Kirchenwesen Deutschlands als ideologischer Stützpfeiler der „deutschen Verantwortung in der Welt.“In demselben weltpolitischen Zusam-menhang wird auch der ideologische Atheismus zum Gegenstand marxistischer Religionskritik, wenn er „säkularer“ Vorherrschaft des Westens das Wort redet oder gar im „Krieg gegen den Terror“ die anti-islamische Hetze durch „religionskritische“ Beiträge bereichert.
6.

Die Religion hat Wurzeln im Denken und Wollen des Menschen. Sie „verschwindet“ nicht, sondern wird in anderen Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins „aufgehoben“.
Religion hat, wie erwähnt (Ziffer 3) ökonomische Wurzeln in der kapitalistischen Entfremdung der Arbeit. Sie legitimiert Politik der herrschenden Klassen (Ziffer 5). Ist daraus nun zu schließen, dass Religion in dem Maße „verschwindet“, wie das Maschinensystem in Gemeineigentum überführt und die Produktion gesamtwirtschaftlich unter demokratischer Kontrolle geplant wird, d.h. Ausbeutung und Klassenherrschaft überwunden werden? Hier ist zu bedenken, dass Religion nicht ausschließlich auf materiell gesellschaftlichen Ursachen beruht.Die Religion hat, ähnlich dem philosophischen Idealismus, auch erkenntnistheoretische (gnoseologische) Wurzeln, wie der marxistische Philosoph R.O. Gropp anschaulich darstellt: „Da alles, was den Menschen in seinem Verhalten zur Umwelt bestimmt, in irgendeiner Form durch seinen Kopf hindurchgeht und hier als Gefühl, Gedanke und Wille bewusst wird, so liegt schon darin die Möglichkeit, dass er sein Denken und Wollen als den eigentlichen Ausgangspunkt seines Handelns ansieht, und es liegt nahe, dass er dementsprechend auch die Vorgänge in der Natur als Handlungen bzw. Wirkungen irgendwelcher geistiger Wesen oder eines allgemeinen ‚Weltwillens‘ und dergleichen betrachtet.“ (R.O. Gropp, Grundlagen des dialektischen Materialismus, Berlin, 1970, S. 19-20) Insbesondere Lenin hat diese gnoseologischen Wurzeln des philosophischen Idealismus und der Religion betont. Er bemerkt in seinem philosophischen Werk „Empiriokritizismus und Materialismus“: „…Zeichen oder Symbole sind auch in bezug auf eingebildete Gegenstände durchaus möglich, und jeder kennt Beispiele solcher Zeichen und Symbole.“ (LW 14/233) Das bedeutet, dass auch unter ausbeutungsfreien Gesellschaftsverhältnissen die Fähigkeit des Menschen nicht aufhören wird, Zeichen und Symbole im Bezug auf Gegenstände zu schaffen, die mit wirklichen Dingen nur eine eingebildete, fantastische Ähnlichkeit haben. Wie Lenin hervorhebt, sind auch religiöse Vorstellungen von der Erkenntnis der wirklichen Welt nicht völlig losgelöst: „….das Pfaffentum (= philosophischer Idealismus),“ so Lenin, „besitzt natürlich erkenntnistheoretische Wurzeln, ist nicht ohne Boden, es ist zwar unstreitig eine taube Blüte, aber eine taube Blüte, die wächst am lebendigen Baum der lebendigen, fruchtbaren, wahren, machtvollen, allgewaltigen, objektiven, absoluten menschlichen Erkenntnis.“ (LW 38/344)
Auch die sozialistische Arbeiterbewegung und die Befreiungsbewegungen haben sich Symbole kollektiven Bewusstseins geschaffen: „Rote Fahne“, „Roter Stern“, „Hammer und Sichel“, „Personenkult“ (Che Guevara) etc. Niemand würde auf den Gedanken kommen, diese Symbole und den Glauben an eine schon auf Erden befreite Menschheit für außermenschlichen Ursprungs zu halten. Dennoch wird dem Kommunismus von seinen Gegnern gelegentlich vorgeworfen, nicht nur gottlos, soll heißen, unmoralisch zu sein.Wo es auf irrationale Widersprüche nicht ankommt, ist auch der gegenteilige Vorwurf recht: Der Kommunismus sei eine neue Religion, ja sogar eine Kirche. Dem hat der italienische Arbeiterführer Palmiro Togliatti (1893-1964) schon vor Jahrzehnten entgegengehalten:„Das ist wahr in dem Sinne, dass wir einen Glauben haben, das heißt die Gewissheit, dass die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft, für die wir kämpfen, nicht nur eine Notwendigkeit ist, sondern eine Aufgabe, für die sich – mit der Gewissheit des Erfolges – der beste Teil der Menschheit einsetzt. Wir glauben, dass der Mensch Herr der Natur werden muss, was eine biblische Aufgabe ist, die von Gott selbst in der Schöpfungsgeschichte gestellt wurde. …Wir behaupten aber, dass der Mensch auch Herr der Gesellschaft und ihrer Entwicklung werden muss, indem er sie der Herrschaft des Egoismus, der Willkür, der Gewalttätigkeit, der Ausbeutung entzieht. Er muss eine Gesellschaft in der Dimension seiner eigenen Freiheit schaffen. Nur so kann man, glaube ich, zu jener vollen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit kommen, die das Ziel der gesamten Menschheitsgeschichte ist. Man kann daher sagen, dass unsere Überzeugung, wenn man so will, eine vollständige Religion vom Menschen ist. Für den Gläubigen muss außer der Natur und dem Menschen das Übernatürliche eingreifen, ohne das jedes menschliche Gebäude auf Sand gebaut ist… Aber hier fängt die philosophische Diskussion an, die wir nicht beginnen wollen.“ (Palmiro Togliatti, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Berlin 1977, S. 683-684)
Eine andere Frage ist, welche Zukunft die Religion hat. Laut philosophischem Wörterbuch bedeutet Religion im Wortsinne: „Verehrung, heiliges Versprechen, Kult“. Religion ist, so das Lexikon: „Form des gesellschaftlichen Bewusstseins mit Weltanschauungscharakter, deren Besonderheit in einer verzerrten, verkehrten Widerspiegelung der Natur und Gesellschaft im Bewusstsein der Menschen besteht, dergestalt, dass die Erscheinungen der Natur und Gesellschaft auf übernatürliche Ursachen und Zwecke zurückgeführt bzw. als übernatürliche Vorgänge und Mächte vorgestellt werden, zu denen die Menschen in einem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnis stehen und denen gegenüber sie sich zu ihrem Wohle zum Vollzug bestimmter Handlungen (wie Gebete, Opfer, Kult, Ritus usw.) verpflichtet fühlen,“ (Werner Schuffenhauer, Art. „Religion“ In: Georg Klaus, Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, S. 939) Wie wir oben aber gesehen haben, betrachtet Marx alle Formen der gesellschaftlichen Praxis, „Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc.“, als „nur besondere Weisen der Produktion“. Und er betont: sie „fallen alle unter ihr allgemeines Gesetz.“ Dieses Gesetz ist die „selbstzerrissene“ Wirklichkeit, die mit Notwendigkeit „verzerrtes“, „verkehrtes“ Bewusstsein hervorbringt. Insofern ist im Vergleich mit anderen Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins die in der Lexikon-Definition hervorgehobene „Besonderheit“ des religiösen Bewusstseins nur eine relative. Das eigentlich Besondere des religiösen Bewusstseins besteht darin, dass es sich selbst ausdrücklich als durch übernatürliche Vorgänge und Mächte bewirkt und von diesen abhängig begreift. Dies ist in der Regel bei anderen Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins nicht der Fall.Hinter die einmal errungene Erkenntnis, dass Gottesvorstellungen Erfindungen der menschlichen Fantasie sind, führt kein Weg zurück, jedenfalls nicht auf der Basis vernünftigen Denkens. Das bedeutet nicht, dass die Formen und Inhalte des religiösen Bewusstseins spurlos „verschwinden“. Dazu sind sie zu sehr mit Jahrtausenden menschlicher Geschichte verbunden. Sie sind Teil der allgemeinen kulturellen Traditionen der Menschheit und haben nationale Eigentümlichkeiten in je besonderer Weise geprägt. Als symbolische Schöpfungen der Fantasie bleiben sie in anderen Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins „aufgehoben“. Sie werden zu „Stoffen“ künstlerischer und gedanklicher Bearbeitung in einem nichtreligiösen, humanen, freigeistigen Sinne.
7.

Der politische Kampf für Frieden und Demokratie erfordert das politische Zusammengehen von Materialisten und Glaubenden.
Gegenwärtig hat Religion in vielen Ländern einen Einfluss auf die Politik, der noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar schien. Entgegen früheren Annahmen führte das westliche Modell der Modernisierung nicht zu einem angeblich unausweichlichen, gradlinigen Säkularisierungsprozess. Als zu kurzsichtig erwiesen sich Erwartungen, allein schon Kapitalismus, Wissenschaft und Technologie werde eine fortschreitende „Entzauberung“ und „Verdinglichung“ der Welt bewirken, den religiösen Glauben zur Privatsache machen und die Religion aus dem öffentlichen Leben verschwinden lassen.Gleichwohl handelt es bei dem viel diskutierten „Wiederaufleben der Religion“ nicht um eine Umkehr der langfristigen Tendenz der Verweltlichung des öffentlichen und privaten Lebens. Eher haben wir es wohl mit markanten Ausnahmen von den Säkularisierungstendenzen der Moderne zu tun, und zwar vor allem in USA und Israel sowie in der muslimischen Welt. In den USA mutierte seit den 70er Jahren der protestantische Fundamentalismus von einer theologischen Strömung zu einer Massenbewegung der äußersten Rechten. In Israel setzte nach dem Sieg von 1967, der theologisch als Wunder und „zweite Geburt“ gedeutet wurde, eine deutliche Klerikalisierung von Staat und Gesellschaft ein. Die islamische Revolution im Iran erfolgte zwölf Jahre später 1979, teilweise als Reaktion auf die israelische Eroberung der heiligen Stätten des Islam in Jerusalem. Hamas trat als Widerstandsbewegung gegen die israelische Besatzung erst mit der Intifada Ende 1988 als einflussreiche politische Kraft in Erscheinung. Der Aufstieg der Hezbollah im Libanon erfolgte im Zuge eines 18jährigen Befreiungskampfes bis zur Vertreibung der israelischen Besatzung aus Südlibanon im Mai 2000.
Internationale Konflikte erwiesen sich in den letzten Jahrzehnten wieder als eine wichtige Ursache für den Faktor Religion in der Politik. Samuel Huntington spricht von „Zusammenprall der Kulturen“ und liefert damit ein viel zitiertes Stichwort zur oberflächlichen Interpretation imperialistischer Gewaltpolitik. Es verdeckt die Klassengegensätze, die in religiöser Form zum Ausdruck kommen. Es verharmlost die säkularen Ideologien, mit denen heute Krieg und Interventionen westlicher Mächte bemäntelt werden. Es negiert die Ideale der französischen Revolution von Gleichheit und Brüderlichkeit. Es bagatellisiert die Botschaft von der Gleichheit aller Menschen, die auch den großen Religionen gemeinsam ist. Materialisten und Glaubende sind gefordert, sich über gemeinsame Ziele des Kampfes für Frieden und Demokratie zu verständigen. Dazu beizutragen ist heute eine der wichtigsten Aufgaben marxistischer Religionskritik. Dabei gilt es einen wichtigen Erfahrungsschatz kritisch aufzuarbeiten.
Nach der Niederlage der faschistischen Regimes und dem Zerfall der Kolonialreiche ergaben sich in vielen Ländern neue „Möglichkeiten für ein Bündnis der revolutionären Arbeitermassen mit breiten Massen von Gläubigen“, wie die Weltkonferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien 1969 erklärte. Man ging davon aus, dass im Rahmen „breit angelegter Kontakte und gemeinsamer Aktionen die große Masse der Gläubigen zur aktiven Kraft im antiimperialistischen Kampf und bei tiefgreifenden sozialen Umgestaltungen wird.“ (Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien Moskau 1969, Berlin 1969, S. 31) Warum es dennoch nicht im Weltmaßstab zu einem solchen Bündnis kam, muss hier unerörtert bleiben. Halten wir im Rahmen unseres Themas lediglich fest, dass Palmiro Togliatti, der im Hinblick auf die organisierte katholische Welt eine besondere Sensibilität für dieses Thema entwickelte, kurz vor seinem Tode 1964 gewarnt hatte: „Zu diesem Zweck dient uns die alte atheistische Propaganda überhaupt nicht.“Schon Lenin hatte „die Unterordnung des Kampfes gegen die Religion unter den Kampf für den Sozialismus“ gefordert und darauf aufmerksam gemacht, dass sowohl im Kulturkampf in Deutschland als auch im Kampf der bürgerlichen Republikaner Frankreichs gegen den Klerikalismus „die bürgerlichen Regierungen bewusst versuchten, durch einen quasiliberalen ‚Feldzug‘ gegen den Klerikalismus die Aufmerksamkeit der Massen vom Sozialismus abzulenken.“ (W.I. Lenin, Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion (26. Mai 1909) LW 15/412-14) Die damalige deutsche Sozialdemokratie hatte ganz in diesem Sinne reagiert, indem sie einen Redakteur entließ, der auf die antisemitische Propaganda des Hofpredigers Adolph Stoecker, mit der dieser die Arbeiter wieder für Monarchie und Christentum zurückgewinnen wollte, mit der Initiierung einer Kirchenaustrittskampagne antwortete.
(Johann Most – 1846-1906 – war Buchbinder, Redakteur der sozialdemokratischen Zeitung „Die Freiheit“, vor 1878 Reichstagsabgeordneter der SPD, Freidenker; 1883 veröffentlichte er ,Die Gottespest und die Religionsseuche‘; er emigrierte später in die USA; nach Ulrich Nanko, Nationalliberale, sozialistische und völkische Freidenker zwischen 1848 und 1881 – Zur Frühgeschichte des organisierten Atheismus in deutschsprachigen Raum, in: Faber Richard und Susanne Lanwerd (Hrsg.), Atheismus: Ideologie, Philsophie oder Mentalität? Würzburg, Königshausen und Neumann, 2006, S. 183-194)
Im Kalten Krieg stand beim Dialog zwischen Marxisten und Christen nicht zuletzt die Verhinderung des Atomkrieges auf der Tagesordnung, heute stellt der „Krieg gegen den (islamischen) Terror“ und die Hetze gegen den Islam eine besondere Herausforderung für die Friedenskräfte dar.

Quelle: freidenker.org («Freidenker» 2/2009)

1 Klaus von Raussendorff ist Vorsitzender des Deutschen Freidenkerverbandes (DFV) Bonn/Rhein-Siegund Referent des Verbandsvorstandes für Internationale Arbeit und Solidarität

VR China: Unfaires Urteil gegen Menschenrechtler

Freitag, 12. Feber 2010

UA 91/09-1 AI-Index: ASA 17/008/2010 10. Februar 2010

Weitere Informationen zu UA 91/09 (ASA 17/014/2009, 2. April 2009)

Herr TAN ZUOREN

Der politisch aktive Schriftsteller Tan Zuoren wurde am 9. Februar 2010 zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die Anklage lautete auf „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt“. Dem Chinesen drohen Folter und andere Misshandlungen.

Tan Zuoren aus der Provinz Sichuan wurde für schuldig befunden, die 1989 von der Kommunistischen Partei Chinas und den Regierungsbehörden angeordnete militärische Niederschlagung der pro-demokratischen Bewegung in Peking kritisiert zu haben. Im Urteil hieß es, Tan Zuoren sei „unzufrieden mit der Art und Weise, in der die chinesische Regierung die Zwischenfälle vom 4. Juni gehandhabt hat, und hat über die Jahre hinweg üble Nachrede gegen die chinesische Regierung betrieben, beispielsweise in Form von Aufrufen zur Blutspende am 4. Juni zum Gedenken an den Jahrestag und durch Verfassen von Artikeln wie z.B. The last beauty – A witness’s diary on Tiananmen Square im Jahr 2007, der auf der ausländischen Website The Fire of Liberty erschienen war.” Weiterhin wurde er im Urteil beschuldigt, „einen Feind in Übersee kontaktiert“ zu haben, weil er an Wang Dan, einen im Exil lebenden Anführer der StudentInnenproteste von 1989, eine E-Mail mit dem Titel „Vorschläge für Aktivitäten zum 20. Jahrestag“ geschrieben hatte.

Tan Zuorens Gerichtsverfahren fand am 12. August 2009 vor dem mittleren Volksgericht in Chengdu statt. Das Urteil wurde jedoch erst am 9. Februar 2010, d.h. über fünf Monate später, verkündet. Dies verstößt gegen die chinesische Strafprozessordnung. Neben der Haftstrafe wurde Tan Zuoren zu einer dreijährigen Aberkennung seiner politischen Rechte nach seiner Freilassung verurteilt. Während dieser Zeit wird er weder wählen noch zur Wahl stehen dürfen; außerdem darf er keine Position in einer staatlichen Behörde oder einem Staatsbetrieb innehaben und muss sich Überwachung gefallen lassen.

Das Gerichtsverfahren setzte sich über die chinesische Strafprozessordnung hinweg. Tan Zuorens AnwältInnen zufolge konnten diese zu seiner Verteidigung weder ZeugInnen in den Zeugenstand rufen noch das vorbereitete Videomaterial einsetzen. JournalistInnen wurden drangsaliert und von einer Berichterstattung über die Verhandlung oder die Urteilsverkündung abgehalten.

HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Tan Zuoren ist ein bekannter Umweltschützer. Er hat bereits einen Bericht veröffentlicht, in dem er vor möglichen Gefahren für Gesundheit, Sicherheit und Umwelt durch staatliche Projekte mit Chemikalien in der Provinz Sichuan warnte. Nach dem Erdbeben von 2008 in Sichuan verteilte er ehrenamtlich Nahrungsmittel und Bekleidung an die Überlebenden. Gemeinsam mit mehreren WissenschaftlerInnen versuchte er außerdem, die Gründe für die Todesfälle im Zuge des Erdbebens zu ermitteln und Baustandards zu verbessern, um ein Wiederauftreten zu verhindern.

Tan Zuoren wurde am 28. März 2009 von der Polizei in Chengdu in der Provinz Sichuan wegen Verdachts auf „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt“ in Haft genommen. Man hielt ihn fünf Monate lang fest, bevor seine Verhandlung stattfand. Momentan ist er in der Hafteinrichtung Wenjiang inhaftiert. Er hat Rechtsmittel eingelegt.

In Tan Zuorens Verhandlung am 12. August 2009 hätte der international anerkannte Künstler Ai Weiwei zu seiner Verteidigung aussagen sollen. Am Tag der Verhandlung kamen jedoch Personen, die sich als Angehörige der Polizei ausgaben, in Ai Weiweis Hotelzimmer, verprügelten ihn und hielten ihn stundenlang bis nach Ende der Verhandlung rechtswidrig fest. Zwei JournalistInnen aus Hongkong wurden von Angehörigen der regionalen Polizei in ihrem Hotelzimmer festgehalten und vorgeblich auf Besitz von Drogen durchsucht und so an einer Berichterstattung gehindert. Die Polizei verwehrte UnterstützerInnen von Tan Zuoren den Zutritt zum Gerichtssaal und erlaubte lediglich seiner Frau und einer seiner Töchter, dem Prozess beizuwohnen. Angehörige des Gerichts füllten die restlichen Sitze.

Die Anklage konzentrierte sich sowohl auf Tan Zuorens Kritik an der Rolle der chinesischen Regierung in der Niederschlagung der Proteste von 1989 als auch auf seine Ermittlungen hinsichtlich getöteter Kinder im Erdbeben von 2008 aufgrund von Korruption und dem Einsturz mangelhaft konstruierter Schulgebäude. Die Verteidigung konzentrierte sich hauptsächlich auf Tan Zuorens Bürgerrechte, diesen Todesfällen nachzugehen und Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. Im Urteil hieß es jedoch, die Argumente der Verteidigung seien „irrelevant“ gewesen. Bei der Urteilsverkündung am 9. Februar 2010 wurden JournalistInnen erneut bei ihrem Versuch einer Berichterstattung drangsaliert. Seiner Frau Wang Qinghua und seinen beiden Töchtern wurde der Zutritt zum Gerichtssaal verwehrt mit dem Argument, der Raum sei voll.

Lokalen Quellen zufolge hieß es in der Anklageschrift, dass Tan Zuoren ursprünglich wegen seines Vorhabens festgenommen worden war, sensible Informationen über das Erdbeben von 2008 in Sichuan zu veröffentlichen. Am ersten Jahrestag des Erdbebens hatte er offensichtlich vorgehabt, eine Liste der dabei getöteten Kinder zu veröffentlichen. Daneben wollte er einen unabhängig recherchierten Bericht über den Einsturz vieler Schulgebäude herausgeben. Bei der Urteilsverkündung war von den Anklagepunkten in Verbindung mit dem Erdbeben jedoch nicht mehr die Rede.

MenschenrechtlerInnen, die versuchen, in China über Menschenrechtsverletzungen zu berichten, die eine Politik in Frage stellen, die die Behörden für politisch brisant halten, oder die sich bemühen, andere für ihre Überzeugungen zu gewinnen, sind häufig selbst Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Viele werden nach politisch motivierten Verfahren als gewaltlose politische Gefangene inhaftiert, während eine wachsende Zahl unter Hausarrest gestellt wird, die Polizei dabei übergriffige Überwachungsmethoden einsetzt und vor dem Haus Posten aufstellt.

EMPFOHLENE AKTIONEN: SCHREIBEN SIE BITTE E-MAILS ODER LUFTPOSTBRIEFE

* Fordern Sie die Behörden auf, Tan Zuoren umgehend und bedingungslos freizulassen.
* Drängen Sie darauf, dass Tan Zuoren Zugang zu einer rechtlichen Vertretung, seiner Familie und jeglicher benötigter medizinischer Versorgung erhält.
* Fordern Sie von den Behörden die Garantie, dass er weder gefoltert noch anderweitig misshandelt wird.
* Rufen Sie die Behörden dazu auf, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass alle MenschenrechtsverteidigerInnen ihre friedliche Arbeit ohne Angst vor willkürlichen Festnahmen, Gefängnisstrafen, Behinderung oder Einschüchterung und gemäß der UN-Erklärung zum Schutz von MenschenrechtsverteidigerInnen ausüben können.

APPELLE AN:
VORSITZENDER DES HÖHEREN VOLKSGERICHTES IN SICHUAN
Liu Yushun Yuanzhang
Sichuansheng Gaoji Renmin Fayuan
108 Zhengfujie, Qinyangqu
Chengdushi 610017
Sichuansheng, VOLKSREPUBLIK CHINA
(korrekte Anrede: Dear Director)
Email: yuanzhangmailbox(at)sina.com

LEITER DES AMTES FÜR ÖFFENTLICHE SICHERHEIT IN CHENGDU
LI Kunxue Juzhang
Chengdushi Gonganju, 144 Wenwulu, Chengdushi 610016
Sichuansheng, VOLKSREPUBLIK CHINA
(korrekte Anrede: Dear Director)

KOPIEN AN:
MINISTERPRÄSIDENT VON CHINA
WEN Jiabao Guojia Zongli
The State Council General Office
2 Fuyoujie, Xichengqu, Beijingshi 100017
VOLKSREPUBLIK CHINA
(korrekte Anrede: Your Excellency)
Fax: (00 86) 10 65961109
(c/o Ministry of Foreign Affairs)

S.E. Herr Ken WU, ao. u. bev. Botschafter
Botschaft der Volksrepublik China
Metternichgasse 4; A-1030 Wien
Fax: 0043-1-713 68 16
E-Mail: chinaemb_at(at)mfa.gov.cn


Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Chinesisch, Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 24. März 2010 keine Appelle mehr zu verschicken.

Textvorschlag:

(Der Textvorschlag ist nur als Anregung gedacht. Falls Ihre Fremdsprachenkenntnisse ausreichen, dann verfassen Sie das Appellschreiben bitte selbst! Je individueller die Briefe sind, desto besser!)

(Entsprechende Anrede)

I refer to the case of TAN ZUOREN, the environmental activist who was sentenced to five years imprisonment on 9 February, for ”inciting subversion of state power”. He is believed to be at risk of torture and other ill-treatment.

I have been informed that Tan Zuoren´s trial disregarded China’s criminal procedure: His lawyers reported that they were unable to call their witnesses to testify in court, show the video footage they had prepared, or present their defence.

Therefore and because it appears that Tan Zuoren is a prisoner of conscience who has not committed any recognizably criminal offence, I call on you to release him immediately and unconditionally. Pending his release, I urge you to allow Tan Zuoren access to his lawyer, his family and any medical treatment he may require and to guarantee that he will not be tortured or otherwise ill-treated.

I take this opportunity to ask you to take effective measures to ensure that all human rights defenders can carry out their peaceful activities without fear of arbitrary detention, imprisonment, hindrance or intimidation, in line with the UN Declaration on Human Rights Defenders.

I trust that you will act in a prompt and effective manner on this case.

Yours sincerely,